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Rundfunk Fernsehen

Fernsehen ohne Kaffee

Gestern Abend wurden in Berlin die Echos verliehen. Der Veranstalter, der Bundesverband Musikindustrie e.V., bezeichnet den Echo konsequent als “einen der wichtigsten Musikpreise der Welt”, nach welchen Kriterien die Preise genau verliehen werden, weiß niemand so genau, vermutlich nicht einmal Prof. Dieter Gorny. Eine große Rolle spielen auf alle Fälle die Verkaufszahlen, weswegen der Abend einigermaßen erwartbar ausging. Andererseits: Nur ein Preis für Tim Bendzko, statt Revolverheld haben wenigstens Jupiter Jones gewonnen und der Hip-Hop/Urban-Preis ging immerhin an den sympathischen Casper statt an den homophoben Bushido.

Die Preisverleihung aber, bis vor vier Jahren bei RTL von Oliver Geissen und/oder Frauke Ludowig aseptisch wegmoderiert, war der ARD dann doch erstaunlich gut gelungen: Vom großen Opening mit den fünf größten Radiohits des vergangenen Jahres (Jupiter Jones, Frida Gold, Andreas Bourani, Tim Bendzko und Revolverheld — don’t get me started), das noch ein bisschen unterprobt wirkte, in Zukunft aber funktionieren sollte, über die angenehm kurz gehaltenen Zwischenmoderationen von Ina Müller und Barbara Schöneberger bis hin zu den vielen, vielen Auftritten (Kraftklub mit Casper, Tim Bendzko mit Shaggy!) war das ein kurzweiliger, bunter Abend, der das beste aus dem rausholte, was in Deutschland als Inventar der Unterhaltungsindustrie zur Verfügung steht. Und ich weiß, wie schwer das ist, ich habe es letztes Jahr als Co-Autor der Echo-Verleihung selbst versucht.

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Heute Abend wird der Adolf-Grimme-Preis verliehen, die vielleicht renommierteste Auszeichnung, die es in Deutschland für Fernsehsendungen gibt. Die Preisübergabe findet mit vergleichsweise wenig pyrotechnischem Einsatz im Stadttheater Marl statt und die Chancen stehen hoch, dass Sie noch nie eine der gewürdigten Sendungen gesehen haben, weil diese von den Sendern, die sie bestellt und finanziert haben, zu absurdesten Zeiten versendet wurden, auf dem alten Sendeplatz des Testbilds.

Selbst die Grimmepreisverleihung selbst, eher protestantischer Erntedankgottesdienst als katholisches Hochamt, wird von 22.25 Uhr bis 23.55 Uhr auf 3sat verklappt. Dabei kann man da wenigstens immer ein paar Minuten Ausschnitte aus den hochklassigen, zumeist (aber nicht ausschließlich) deprimierenden Fernsehspielen und Dokumentationen sehen, die man im Laufe des Jahres so verpasst hat.

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Es ist also nicht so, dass es in Deutschland gar kein gutes Fernsehen gäbe, aber man muss danach suchen — und es wird selbst von den öffentlich-rechtlichen Sendern bewusst verhindert. Die breite Masse ist genauso mut-, belang- und lieblos, wie das, was an deutscher Popmusik im Radio oder halt beim Echo läuft.

Malte Welding hat für die “Berliner Zeitung” eine große Abrechnung mit dem deutschen Fernsehen verfasst, die auch eine Abrechnung mit dem gesamten Kulturbetrieb, ja eigentlich der ganzen Bundesrepublik ist.

Hier mal eine der moderateren Passagen:

Was China im Fußball, das ist Deutschland in der Unterhaltung. Ein Entwicklungsland. Ein Entwicklungsland allerdings, dessen Unterhaltungsbeamte sich gebärden, als hätten sie den begehbaren Kleiderschrank erfunden, und das ein Schweinegeld hat. Da werden Filmbälle gegeben, die gerade durch den Glamourversuch am Ende doch immer so aussehen wie die Abifeier der Jean-Sans-Terre-Oberschule.

Das deutsche Fernsehen steht so patschzufrieden im eigenen Saft, dass es mit großer Fröhlichkeit darin ersaufen wird, in der Karnevalsbrühe aus Küstenwachenwiederholungen und Serien mit Tieren in der Hauptrolle und Selbstversicherungskabarettsendungen und Redaktionen nach Parteiproporz, die Politsendungen simulieren, und ist die Rente sicher und kippt der Euro und stirbt das Land? Ja, das Land stirbt. Vor Langeweile.

Malte Welding: Stirbt das Land vor Langeweile?

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Leben

Das Amt

Die ausgeklügelte deutsche Bürokratie ist sicher nur erfunden worden, damit Kolumnisten und Kabarettisten sich darüber aufregen und Lehrer mit Adolf-Sauerland-Bärten und Lederwesten “ja, genau” rufen können.

Anders gesagt: Ich brauchte einen neuen Reisepass. Im Mai geht’s nach Aserbaidschan und der alte Pass ist im vergangenen Juli abgelaufen. Außerdem brauche ich einen Ort, wo ich meine weitgehend ungenutzte “Miles & More”-Karte der Lufthansa deponieren kann, und da hat sich der Reisepass in der Vergangenheit als guter Platz erwiesen. Braucht man ja dann eh beides zusammen.

Über Wochen habe ich mich aus zwei Gründen um dieses Vorhaben gedrückt: Erstens meine Abneigung gegenüber Warteräumen aller Art, zweitens das Passfoto. “Vielleicht doch erst zum Friseur”, habe ich gedacht, aber da hätte ich unter Umständen wieder warten müssen, also hab ich es gar nicht erst versucht und einfach auf einen Good Hair Day gewartet. Die Sonne schien, das Radio hatte mich am Morgen mal nicht mit Nickelback begrüßt, die Haare taten nach dem Duschen ungefähr das, was ich von ihnen erwartet hätte, kurzum: Es war die Gelegenheit, die verdammten Fotos machen zu lassen und den Reisepass in Angriff zu nehmen.

Tatsächlich gelang es den Mitarbeitern im örtlichen Fotografiefachgeschäft, ein biometrisches Bild von mir anzufertigen, auf dem ich ausnahmsweise nicht wie ein soeben festgenommener Serienkiller oder Journalist aussehe. Im Zweifelsfall könnte ich die überzähligen Passbilder sogar meinen Großeltern zu Weihnachten schenken, wenn mir mal wieder nichts einfällt. Im Prinzip ist das aber eh egal, denn das schlimmste Foto, das jemals von mir angefertigt wurde, ziert eh meinen Führerschein, der nie erneuert werden muss.

Dann ging ich ins Rathaus zum Bürgerbüro, zog eine Nummer und längst verdrängte Erinnerungen stiegen in mir wieder auf. Daran, wie ich vor acht Jahren bei meinem Umzug nach Bochum gefühlte vier Stunden hatte warten müssen. Oder daran, wie ich bei der Beantragung eines neuen Personalausweises nach einstündiger Wartezeit darüber informiert wurde, dass mein Passfoto nicht den Anforderungen entsprechen würde. ((Ich ging am nächsten Tag einfach in eine Zweigstelle des Bürgerbüros, wo das selbe Foto anstandslos akzeptiert wurde.)) Doch diesmal war ich vorbereitet: Ich hatte Buch und Kopfhörer dabei und mich vorher informiert, wo ich mich fußläufig mit Lebensmitteln, Getränken und Bettdecken versorgen könnte.

Ich hasse, wie gesagt, Warteräume aller Art. Dabei ist es weitgehend egal, ob am Ende der Wartezeit eine zahnärztliche Behandlung, ein Langstreckenflug oder der Versuch ansteht, einen Reisepass zu beantragen. Beim Warten denke ich die ganze Zeit daran, wie schön ich zur gleichen Zeit zuhause vor meinem Computer oder Fernseher (oder beidem) hocken und meine Zeit nach eigenem Ermessen verschwenden könnte. Außerdem habe ich tief in mir eine latente Angst vor dem deutschen Bürokratieapparat. Ich male mir immer aus, dass ich beim letzten Umzug irgendein Formular falsch ausgefüllt haben könnte und jetzt offiziell als tot gelte, wobei auch noch eine mir unbekannte Person Witwenrente bezieht, weil die ihr Formular ebenfalls nicht korrekt ausgefüllt hatte und die Dame vom Amt dann noch irgendwas durcheinandergebracht hat.

“Es warten 15 Personen vor Ihnen”, hatte mich der Zettel mit meiner Nummer drauf (“Auf keinen Fall verlieren!”) informiert. Nach zwanzig Minuten waren davon fünf aufgerufen worden und ich suchte schon mal unauffällig nach dem geeignetsten Schlafplatz in diesem Warteraum, der den Charme eines unterirdischen Eiscafés versprühte, dessen Einrichter als einzige Anweisung erhalten hatten, dass die Möbel auch bei einem eventuellen Einsatz als Schlagwaffe nicht kaputtgehen und darüber hinaus leicht abzukärchern sein sollten. Auf einem Flachbildschirm wurden die Nummern angezeigt und die Tische, an die man sich zu begeben hatte, auf einem Flachbildschirm daneben liefen Bilder vom schönsten Ort Bochums, dem Westpark. Damit der Drang, sofort rauszurennen, nicht zu groß wurde, hatte man die Aufnahmen aber sicherheitshalber im Winter angefertigt, als die Bäume noch kahl waren. Gerade als die Zufallswiedergabe meines Handys “Fickt das System” von Die Sterne spielte, leuchtete meine Nummer auf und ich machte mich unter Zuhilfenahme all meiner Jacques-Tati-Imitationskünste auf die Suche nach Tisch 6.

Ich trug der Sachbearbeiterin mein Anliegen vor und während sie die nötigen Unterlagen ausdruckte, stellte ich wieder mal fest, was für ein zynisches, menschenverachtendes Konzept diesen Bürgerbüros, die Ende der 1990er Jahre überall aus dem Boden gestampft wurden, doch zugrunde liegt: Während ich in der Apotheke mit Markierungen auf dem Boden aufgefordert werde, Diskretion zu wahren, sitzt hier in diesem völlig offenen Bürgerbüro zwei Meter neben mir ein Mann, der sich in einer von Franz Kafka höchselbst ersonnenen Logikschleife befindet, und alle Umsitzenden kriegen jedes Wort mit. Dass er seinen beantragten Personalausweis nicht bezahlen kann, weil er kein Konto hat, aber kein Konto eröffnen kann, weil er keinen gültigen Personalausweis besitzt. Der dicke Sachbearbeiter sagte, er könne da auch nichts machen, der Mann wurde lauter und verließ irgendwann unter mittellautem Fluchen das Bürgerbüro. Meine Sachbearbeiterin warf mir einen vielsagenden Blick zu und ich schickte spontan ein Stoßgebet zum Lieben Gott, dass ich bitte niemals eine Arbeitsagentur von innen sehen möge.

Dann musste ich Formulare ausfüllen, wofür es unter anderem notwendig war, dass ich mich erinnerte, ob ich den Streitkräften eines anderen Landes gedient hatte. Da ich mir sicher war, den Dschungel-Einsatz mit der Fremdenlegion nur geträumt zu haben, kreuzte ich “Nein” an. Dann musste ich auf einem Ausdruck unterschreiben: “Sie können das ganze Feld nutzen, aber nicht in den schwarzen Bereich reinschreiben!” Zum Glück kann man das Formular offenbar mehrfach ausdrucken.

An einer Stelle musste ich kurz auf meinem Handy nachsehen, ob wir tatsächlich das Jahr 2012 hatten, denn ich wurde Zeuge eines beeindruckenden Beispiels für die sogenannte Medienkonvergenz: Die Sachbearbeiterin nahm das Foto, das der Mann vom Fotoladen (nennen wir ihn Herrn Ärmel) zuvor mit einer Digitalkamera von mir gemacht und auf Fotopapier ausgedruckt hatte, klebte es auf das Blatt Papier, auf dem ich gerade unterschrieben hatte, und legte dieses Blatt auf einen Scanner. Nach einer halben Minute war mein Foto im System, die Frau knibbelte es wieder von dem Papier ab und gab es mir zurück. Ich hatte 13 Euro für vier Fotos bezahlt, von denen ich nur eines brauchte, und das auch nur für eine halbe Minute.

Erstaunlicherweise holte sie dann aber kein Stempelkissen hervor, um die Abdrücke meiner Zeigefinger erst auf einem Blatt Papier zu nehmen und dann einzuscannen – Nein! – zu ihrem Arbeitsplatz gehört (wie zu mutmaßlich allen anderen Arbeitsplätzen in diesem riesigen Raum) ein Fingerabdruckscanner, mit dem sie die Linien auf meinen Fingerkuppen direkt in ihr System übertragen konnte. Die Abdrücke würden weder bei ihr noch in der Bundesdruckerei dauerhaft gespeichert, spulte sie die Datenschutzerklärung ab, sie würden lediglich auf einem Chip im Pass gespeichert. Ich nickte und verzichtete auf den Scherz, dass ich meinen Pass als erstes in die Mikrowelle legen würde.

Es ging ans Zahlen und ich war froh, mir vorab auf der Internetseite der Stadt Bochum die Preisliste angeschaut zu haben. ((Wie auch immer ich die gefunden haben mag.)) 59 Euro kostet so ein Reisepass für zehn Jahre, dafür bekommt man in Oslo zum Beispiel ein Eis. In etwa drei Wochen muss ich wieder hin und meinen Pass abholen. Dafür muss ich dann “eine Siebenhunderter-Nummer” ziehen, mit denen man direkt zur Abholstelle vor darf.

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Print Politik Gesellschaft

Der größte Fehler des Christian Wulff

Ich habe ein bisschen Angst, einen Blogeintrag über Christian Wulff anzufangen, weil es bei der aktuellen Gemengelage denkbar ist, dass der Mann schon nicht mehr Bundespräsident ist, bevor ich den Text das erste Mal Korrektur lesen kann.

Natürlich kann Wulff seinen Versuch fortsetzen, gegen die gesamte deutsche Presse, aber mit dem deutschen Volk im Amt zu bleiben. Das hat zwar schon bei Karl-Theodor zu Guttenberg nicht funktioniert (und der hatte immerhin bis zum Schluss die “Bild” auf seiner Seite), aber Wunder gibt es immer wieder.

Zwar war Wulffs Rückhalt in der Bevölkerung vor dem gestrigen TV-Interview schon merklich gesunken (am Mittwoch waren nur noch 47 Prozent dafür, dass Wulff im Amt bleiben sollte, am Montag waren es noch 63 Prozent), aber vielleicht hat Wulff das sogenannte einfache Volk mit seinem merkwürdigen Auftritt bei ARD und ZDF besser überzeugen können als die Journalisten. Wahrscheinlich ist dies allerdings auch nicht.

Wie dem auch sei: So lange die Affäre Wulff die Titelseiten füllt und weite Teile der Nachrichtensendungen ausfüllt, so lange geht natürlich unter, dass sich Europa immer noch in einer großen Krise befindet, dass sich die Stimmung zwischen dem Iran und dem Rest der Welt täglich verschlechtert. Und ich meine das nicht in dem Sinn, mit dem Online-Kommentatoren “Habt Ihr denn sonst keine Sorgen?” fragen.

Als Richard Nixon im Zuge der Watergate-Affäre seinen Rücktritt als US-Präsident erklärte, tat er dies mit den unsterblichen Worten:

I have never been a quitter.

To leave office before my term is completed is abhorrent to every instinct in my body. But as President, I must put the interests of America first.

America needs a full-time President and a full-time Congress, particularly at this time with problems we face at home and abroad.

Nun unterscheiden sich die Befugnisse von US- und Bundespräsident fundamental: Vermutlich würde es niemandem auffallen, wenn Christian Wulff die letzten dreieinhalb Jahre seiner Amtszeit tatsächlich ausschließlich mit der Beantwortung der vielen, vielen Journalistenanfragen verbrächte. Einen Vollzeitpräsidenten hatte und brauchte Deutschland nie — weswegen ich übrigens den Vorschlag von Friedrich Küppersbusch aufs Heftigste begrüße, das Amt des hauptberuflichen Grüßaugusts abzuschaffen und den Bundestagspräsidenten zum Staatsoberhaupt zu machen.

Wulff lähmt vielleicht noch nicht einmal die Politik — Politiker von Koalition und Opposition, die sich wortgewaltig vor TV-Kameras um das Ansehen des höchsten Amts im Staate sorgen, können in dieser Zeit keinen anderen Schaden anrichten. Aber Wulff lähmt das öffentliche Leben in Deutschland: Die Medien beschäftigen sich seit Tagen mit kaum etwas anderem und wissen vermutlich längst, was sie als nächstes noch alles aufdecken werden — als Fortsetzungsroman verkauft sich jeder Skandal besser denn als abgeschlossene Erzählung und wer hat denn gesagt, dass Salamitaktiken nur etwas für Politiker sind? Der volkswirtschaftliche Schaden, der seit Tagen durch die vielen Wulff-Witze (seit gestern auch noch: Schausten-Witze) auf Facebook und Twitter entsteht, die alle während der Arbeitszeit gelesen und geteilt werden müssen, ist sicher auch nicht zu verachten.

Christian Wulff hat in dem gestrigen Interview viel davon gesprochen, dass er Freunde und Familie habe schützen wollen und sich deshalb mit Informationen zurückgehalten habe. Es steht außer Frage, dass die Redaktionen noch genug Munition haben, um den waidwunden Präsidenten abzuschießen (um mal eine martialische Phrase zu vermeiden). Die Chancen stehen gut, dass es dabei um weitere Details aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis geht. Auch wenn ich nicht glaube, dass die in den vergangenen Tagen mehr oder weniger offen kolportierten Gerüchte zutreffen, so wäre Christian Wulff doch gut beraten, sein Umfeld aus der Schusslinie zu bringen.

Andererseits könnte es sein, dass das nun auch nichts mehr bringt: Wulff hat gestern im Fernsehen erzählt, er habe “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann auf dessen Mailbox gebeten, “um einen Tag die Veröffentlichung zu verschieben, damit man darüber reden kann, damit sie sachgemäß ausfallen kann”. Diekmann hielt heute dagegen und bat Wulff öffentlich um die Genehmigung, den Wortlaut des Anrufs veröffentlichen zu dürfen. Allein für diese Gelegenheit, dass sich Kai Diekmann als moralische Instanz und flauschiges Unschuldslamm präsentieren kann, muss man Wulff verachten. Jetzt hat Wulff abgelehnt und damit mutmaßlich die Pforten zur Hölle aufgestoßen.

Der präsidiale Ausraster auf seiner Mailbox dürfte kaum Diekmanns letzter Trumpf gewesen sein. Wahrscheinlich ging er fest davon aus, dass Wulff seine Bitte zur Veröffentlichung negativ bescheiden würde, und hat die Anfrage deshalb gleich öffentlich gemacht. Diekmann konnte zwei Mal “im Sinne der von Ihnen angesprochenen Transparenz” argumentieren und hat den Präsidenten damit faktisch schachmatt gesetzt: Setzt man voraus, dass Diekmanns Version der Geschichte stimmt, wäre Wulff der Lüge überführt gewesen und damit endgültig untragbar. Setzt man voraus, dass Wulffs Version stimmt, hat er jetzt immer noch das Problem, nicht “im Sinne der Transparenz” gehandelt zu haben. Er konnte nur noch verlieren.

Es ist leicht, auf einen Abzockvollprofi wie Kai Diekmann reinzufallen, aber einem Spitzenpolitiker (auch wenn er “ohne Karenzzeit, ohne Vorbereitungszeit” in sein aktuelles Amt gekommen ist) sollte das nicht passieren. Ich fände es deprimierend, sagen zu müssen, dass man sich mit “Bild” nicht anlegen sollte, und glaube das auch nicht. Aber man muss schon wissen, wie man es macht — und dabei in einer etwas glücklicheren Ausgangsposition sein, als Wulff es war.

Kaum jemand stolpert, privat oder beruflich, über einen einzelnen großen Fehler. Meist ist es eine unglückselige Verkettung vieler kleiner und mittlerer Fehler. Egal, was jetzt noch rauskommt: Der größte Fehler, den Christian Wulff in meinen Augen gemacht hat, war der, “Bild” und Kai Diekmann die Gelegenheit zu geben, sich als seriöse, moralische Journalisten inszenieren zu können, was ihnen die Menschen vielleicht mehr abkaufen als Wulff seine Rolle als reuiger Sünder. Wulff hat “Bild” die Macht zurückgegeben, die die Zeitung eigentlich nicht mehr hatte.

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Musik

Ihr wollt ein Liebeslied, ihr kriegt ein liebes Lied

Vergangenen Donnerstag stand ich kurz davor, mir mehrere Gliedmaßen abzunagen: Ich saß in einer Kölner Mehrzweckhalle und als wäre das nicht schon schlimm genug, fand in dieser Halle zu diesem Zeitpunkt auch noch der Bundesvision Song Contest statt. Stefan Raabs innerdeutscher Grand Prix, der sich nicht so recht zwischen staatstragendem Gestus und ironischer Distanz entscheiden kann, konnte es in Sachen Show und Unterhaltung nicht mit dem europäischen Vorbild aufnehmen. Das war zu erwarten gewesen. Womit eher nicht zu rechnen war: Dass der ESC dem BuViSoCo auch musikalisch überlegen sein würde.

Seit einiger Zeit fühle ich mich, als stünde ich an irgendeinem Bahnhof am Gleis und der popmusikalische Zug sei einfach ohne mich weitergefahren, immer weiter in die Provinz hinein. BuViSoCo-Sieger Tim Bendzko, Philipp Poisel, der Rapper Casper, der Tomte-lose Thees Uhlmann — ihre Platten werden von vielen Kritikern gelobt und von irrsinnig vielen Menschen gut gefunden, denen ich sonst durchaus Musikgeschmack unterstellen würde. Und ich stehe fassungslos daneben und fühle mich, als wären plötzlich Alle Fans des VfL Wolfsburg.

Deutschsprachige Musik, so scheint es, zerfällt dieser Tage in zwei Extreme: Auf der einen Seite der Diskurspop von Tocotronic, Jochen Distelmeyer oder Ja, Panik, der von Zeitschriften wie “Spex” und “Intro” abgefeiert, aber so richtig dann doch von niemandem verstanden wird, auf der anderen die gefühligen Singer/Songwriter, deren Songs die Musikredaktionen deutscher Radiosender vor zehn Jahren noch den Kollegen von WDR 4 rübergeschoben hätten. Indie ist nicht nur Mainstream geworden, sondern in Teilen auch zum Schlager geronnen.

Als vor sieben, acht Jahren die “neueste deutsche Welle” ausgerufen wurde, weil Bands wie Wir Sind Helden, Juli oder Silbermond plötzlich in Sachen Absatzzahlen und Airplay erfolgreich waren, war schon zu befürchten, als was für eine Farce sich die Geschichte wiederholen würde. So wie Anfang der Achtziger auf Kraftwerk, Ideal und die Fehlfarben irgendwann Markus, Hubert Kah und Fräulein Menke gefolgt waren, würde auch diesmal das ganze System in sich zusammenstürzen, bis nur noch ein paar One Hit Wonder für den Nachfolger der “ZDF-Hitparade” übrig blieben und dann würde über Jahre kein Label mehr deutschsprachige Musiker unter Vertrag nehmen und kein Radiosender sie spielen.

Doch es kam schlimmer als befürchtet: Der Erfolg von Bands wie Silbermond, Revolverheld oder Culcha Candela erwies sich als einigermaßen nachhaltig und die ganzen verzweifelten Nachzügler-Signings, die den Plattenfirmen in den Achtzigern irgendwann um die Ohren geflogen waren, erwiesen sich jetzt, in den Zeiten ihrer schlimmsten Krise, zumeist als güldene Glücksgriffe. Die verdammte Blase wollte einfach nicht mehr platzen!

Als Andrea Berg bei der diesjährigen Echo-Verleihung ein wenig patzig mehr als nur eine Schlager-Kategorie beim deutschen Musikpreis einforderte, brachte das die ohnehin schlechte Stimmung in der Halle nicht gerade nach vorne. Dabei waren unter der Überschrift “Album des Jahres (national oder international)” folgende Werke nominiert gewesen: “Große Freiheit” von Unheilig, “Schwerelos” von Andrea Berg, das “Best Of” von Helene Fischer, “My Cassette Player” von Lena und “A Curious Thing” von Amy Macdonald. Es muss schon ein erstaunlicher gesellschaftlicher Wandel stattgefunden haben, wenn die junge, weibliche Antwort auf Chris de Burgh und das Album der deutschen ESC-Teilnehmerin (“Schlager-Grand-Prix”, wie manche Menschen heute noch sagen) die unschlagerhaftesten Vertreter bei den meistverkauften Alben des Jahres darstellen.

Moderatorin Ina Müller hatte bei der Verleihung des Volksmusik-Echos an die Amigos lautstark dazu aufgerufen, die Wände zwischen den Schubladen einzureißen, dabei wollten die anwesenden coolen und klatschfaulen Rockstars und Plattenfirmenmenschen sich nur nicht eingestehen, dass das längst geschehen war. Quer durch alle Kategorien nominiert waren ein zotteliger Geiger, der sich kommerziell erfolgreich an der Interpretation von Rocksongs versucht hatte; ein alternder Chansonnier; ein jugendlicher Chansonnier; eine Opernsänger-Boygroup, die Popsongs nachschmettert; der Erfinder des Gothic-Schlagers und nicht zuletzt Ina Müller selbst, deren Songs von Frank Ramond geschrieben werden, der seit Jahren mit seinen augenzwinkernden Wortspielereien für Annett Louisan, Barbara Schöneberger und Roger Cicero den Massengeschmack trifft wie kaum ein Zweiter.

Was uns zu Casper bringt, jenem “Konsens-Rapper”, dessen Album “XOXO” überraschend, angesichts des medialen “Geheimtipp”-Overkills im Vorfeld aber durchaus konsequenterweise auf Platz 1 der Charts eingestiegen war. Dies ist die Stelle, an der ich fairerweise erklären sollte, dass ich bis auf wenige Ausnahmen mit deutschsprachigem Hiphop so rein gar nichts anfangen kann. Das war in den 1990ern noch ganz lustig, als alle wie die amerikanischen Vorbilder auf dicke Hose machten, missfällt mir jetzt aber zunehmend. Dabei will ich nicht mal ausschließen, dass man auch auf Deutsch hintergründige, witzige und gute Texte rappen kann — allein mangelt es den meisten Vertretern dieses Genres schon an den dafür notwendigen Fertigkeiten, sprich: Skills. Es reicht mir nicht, wenn sich einer holprig durch die Sätze quält. Womöglich fehlt mir das notwendige Enzym oder Gen, aber in meinen Ohren fällt “Das war’s. Auf das, was war / Zwischen all den Ficks auf dem Tisch aus dem Glas / Und hätt’ ich dich nie gekannt / Wär’ der Ben bloß der Casper der rappt / Aber du wärst nur die Frau von der Bar” (Casper) sprachlich und inhaltlich sogar noch hinter “Verpiss dich / Ich weiß genau, Du vermisst mich” (Tic Tac Toe) zurück. ((“Aus”! “Dem“! “Glas”! Alter, was ist mit Dir nicht in Ordnung?!)) Wenn das “Studentenrap” sein soll (und Sie müssen sich das auch noch in Caspers Schiffschaukelbremserstimme vorstellen), kann ich auf eine Begegnung mit “Sonderschülerrap” bestens verzichten.

Doch die Vertonung von Tagebucheinträgen wird geschätzt. Es ist eine “neue”, womöglich “schonungslose Offenheit”. Klopstock 2.0. Da ist es auch nicht verwunderlich, dass Tomte-Sänger Thees Uhlmann (der mit Casper bei gleich zwei Tracks kooperiert) auf seiner ersten Solo-Single tote Fische besingt.

Doch, tatsächlich: “Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf” verkündet er und preist auf seinem Album wie in zahlreichen Interviews das Dorfleben. Bei Tomte hatte er noch davon gesungen, “sein Versagen nicht länger Überzeugung zu nennen”, auf seinem selbstbetitelten Solodebüt zelebriert er jetzt genau das. Von Journalisten lässt er sich dabei mit Bruce Springsteen vergleichen — und wenn die es nicht tun, macht er es eben selbst. Zwar konnte nicht einmal der Boss über eine Supermarktkassiererin singen, ohne dass man vor Fremdscham in einen Turm aus Konservendosen springen wollte, aber das hält Uhlmann nicht davon ab, dieses Feld mit “Das Mädchen von Kasse 2” noch einmal zu beackern. Ich erkenne den Versuch an, den gesellschaftlich Übersehenen ein Denkmal bauen zu wollen, aber, Entschuldigung!, das konnten Pur besser — und die mussten dafür zur Strafe im Studionebel der “Hitparade” stehen.

Überhaupt müssen wir Abbitte leisten bei Pur, der Münchener Freiheit, Reinhard Mey, Wolf Maahn, Heinz-Rudolf Kunze, Klaus Lage, Bap, Purple Schulz und vor allem bei Udo Jürgens. ((Nicht jedoch und unter keinen Umständen bei Marius Müller-Westernhagen.)) Von mir aus soll Tim Bendzko nur noch kurz die Welt retten wollen und Andreas Bourani (dessen “Nur in meinem Kopf” ich für ein paar Wochen sogar ziemlich toll fand) wie ein Eisberg glänzen und scheinen wollen, aber dann können wir nicht mehr mit dem Finger auf die Leute zeigen, die ein paar Jahrzehnte zuvor das Gleiche gemacht haben.

Die Uhlmann’schen Heimatmelodien und die ganzen waschlappigen Liebesbeteuerungen der jungen Liedermacher sind die popkulturelle Rückkehr zum Biedermeier. Sie liefern das “kleine bisschen Sicherheit” in “dieser schweren Zeit”, das Silbermond schon vor zweieinhalb Jahren eingefordert hatten. Dieser Eskapismus ins Innerste zeigte sich dann auch am Treffendsten im Namen jener Band, die sich beim Bundesvision Song Contest einen Moment wünschte, der “echt” und “perfekt” ist: Glasperlenspiel. Hermann Hesse ist ja tatsächlich das, was uns am volkswirtschaftlichen Abgrund noch gefehlt hat: Wanderungen durch Indien, ein bisschen Metaphysik und dann hinein in die Selbstauslöschung. Die Bücher von Margot Käßmann verkaufen sich schon verdächtig gut.

Gewiss, das alles sind Geschmacksfragen. Und die kann man sich ja oft genug selbst nicht beantworten. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum ich das Debütalbum von Gregor Meyle (Zweiter bei Stefan Raabs vorletzter Casting-Show) immer noch ganz charmant finde, beim ähnlich romantisch gelagerten Philipp Poisel aber immer kurz vor der Selbstentleibung stehe. ((Poisel hat allerdings auch eine Stimme, auf die ich mir körperlicher Abneigung reagiere — wobei mir der nasale Gesang eines Billy Corgan oder das Röhren eines Kelly Jones immer gut gefallen hat.))

Vielleicht hängt meine Abneigung auch mit der Sprache zusammen, wobei Thees Uhlmann gleich das beste Gegenargument gegen diese These ist, denn bei Tomte waren seine Texte ja über weite Teile noch unpeinlich bis großartig. Andererseits: Eine Aussage wie “Du hast die Art verändert, wie Du mich küsst” würde man ohne zu Zögern dem Werk der Andrea Berg zuordnen. Auf Englisch taugt es beim Rapper Example zu einem der besten Songs des Jahres. Und irgendwie war es gar nicht so schlimm, als Prince oder Chris Martin auf Englisch sangen, der Verflossenen niemals Kummer bereitet haben zu wollen. Wenn jetzt einer singt, “Ich wollte nie, dass Du weinst”, wünscht man sich doch dringend Rammstein herbei, die bitte das genaue Gegenteil deklamieren sollen, nur damit mal ein bisschen Leben in der Bude ist.

“Keiner, wirklich keiner, braucht deutsche Songwriter” singt Friedemann Weise in seinem sehr unterhaltsamen Lied, das nur einen kleinen Haken hat: Das einzige, was noch schlimmer ist als schonungslose Offenheit in Liedtexten, ist ungehemmte Ironie. Deswegen sind die Toten Hosen bei all ihrer Schlimmheit immer noch den Ärzten vorzuziehen, die jedweden Hinweis auf eine Haltung vermissen lassen.

Die zentrale Frage jedoch bleibt: Warum sind heute Musiker mit Texten erfolgreich, die junge Menschen noch vor wenigen Jahren rundheraus als kitschig abgelehnt hätten? Sind die Hörer sensibler geworden oder nur toleranter? Und was hat das alles mit der WM 2006 zu tun?

Offenlegung: Ich habe an der diesjährigen Echo-Verleihung mitgearbeitet und bin mit einigen der hier gedissten Künstler persönlich bekannt.

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Politik Gesellschaft

Die Bonner Republik

Das Land meiner Kindheit existiert nicht mehr. Es ist nicht einfach untergegangen wie die DDR, in der ein paar meiner Freunde ihre ersten Lebensjahre verbracht haben, aber es ist auch nicht mehr da.

Früher, als in den Radionachrichten noch die Ortsmarken vorgelesen wurden, gab es dieses Wort, das mehr als ein Wort oder ein Städtename war: “Bonn.” Damals braucht man in den Nachrichten noch keine Soundtrenner zwischen den einzelnen Meldungen, denn es gab dieses Wort, das wie ein Trenner klang, wie der Schlag mit einem Richterhammer. Bonn.

Bonn war die Hauptstadt des Landes, in dem ich lebte, und die Stadt, in der meine Oma damals lebte. Ich glaube nicht, dass ich das eine mit dem anderen jemals in einen Zusammenhang gebracht habe, aber das Land, in dem ich lebte, wurde von alten, grauen Männern in karierten Sakkos regiert und ihre Entscheidungen wurden von gleichermaßen alten, gleichermaßen grauen Männern in gleichermaßen karierten Sakkos verlesen.

Wahrscheinlich wusste ich damals noch nicht, was “regieren” bedeutet und welche Funktion die letztgenannten Männer hatten (außer, dass man als Kind still sein musste, wenn sie zur Abendbrotzeit über den Fernseher meiner Großeltern flimmerten), aber es gab einen dicken Mann mit lustigem Sprachfehler, der immer da war und das war – neben Thomas Gottschalk – der König von Deutschland.

Die Auswirkungen, die die Existenz Helmut Kohls auf ganze Geburtenjahrgänge hatte, sind meines Wissens bis heute nicht untersucht worden. Aber auch Leute, die in den ersten acht bis sechzehn Jahren ihres Lebens keinen anderen Bundeskanzler kennengelernt haben, sind heute erfolgreiche Musiker, Fußballer, Schauspieler oder Autoren, insofern kann es nicht gar so verheerend gewesen sein.

Es passte fast drehbuchmäßig gut zusammen, dass Kohls Regentschaft endete, kurz bevor das endete, was er geprägt hatte wie nur wenige andere alte Männer: die Bonner Republik. Gerhard Schröder wurde Kanzler und plötzlich wirkte die ganze gemütliche Bonner Bungalow-Atmosphäre angestaubt. Schröder zog nach einem halben Jahr in einen grotesken Protzbau, den Helmut Kohl sich noch ausgesucht hatte, der aber magischerweise von der Architektur viel besser zu Schröder passte. Bei Angela Merkel hat man häufig das Gefühl, sie säße lieber wieder in einem holzvertäfelten Bonner Büro.

Die Berliner Republik währte nur drei Sommer. Das hatte ausgereicht für ein bisschen Dekadenz und Fin de Siècle, für einen Kanzler mit Zigarren und Maßanzügen, einen schwulen Regierenden Bürgermeister in Berlin und die vollständige Demontage von Helmut Kohl und weiten Teilen der CDU. In ganz Europa herrschte Aufbruchstimmung: Unter dem Eindruck von New Labour war ganz Europa in die Hände der sogenannten Linken und Sozialisten gefallen, die Sonne schien, alles war gut und nichts tat weh.

Dann kamen der 20. Juli und der 11. September 2001.

Bitte? Sie wissen nicht, was am 20. Juli 2001 passierte? An jenem Tag starb Carlo Giuliani auf den Straßen Genuas. Der 20. Juli hätte der 2. Juni unserer Generation werden können, Giuliani war schon wenige Wochen später als Posterboy der aufkommenden Anti-Globalisierungs-Bewegung auf der Titelseite des “jetzt”-Magazins. Doch 53 Tage später flogen entführte Passagierflugzeuge ins World Trade Center und Giuliani geriet derart in Vergessenheit, dass ich zu seinem 10. Todestag keinerlei Berichterstattung beobachten konnte. In Berlin tagte nun das Sicherheitskabinett, das aber auch in Bonn hätte tagen können, irgendwo in der Nähe des atomsicheren Bunkers im Ahrtal.

Das, was die CDU-Parteispendenaffäre von Helmut Kohl übrig gelassen hatte, wird gerade zerlegt — so zumindest die Meinung verschiedener Journalisten. Zwei Biographien, eine über Hannelore Kohl, eine Auto- von Walter Kohl, enthüllen, was niemand für möglich gehalten hätte: Die ganze schöne Fassade der Familie Kohl war nur … äh … Fassade. ((Und wie sehr das Privatleben von Politikern ihr Vermächtnis trüben können, sieht man ja etwa an John F. Kennedy und Willy Brandt.))

Die Familienfotos der Kohls weisen eine erstaunliche, aber kaum überraschende Deckungsgleichheit mit den Kindheitsfotos meiner Eltern (und mutmaßlich Millionen anderer Familienfotos) auf: Jungs in kurzen Hosen, die Familie am Frühstückstisch, auf dem ein rot-weiß kariertes Tischtuch ruht. ((Es gab damals – was nur die Wenigsten wissen – ein Tischdecken-Monopol in Deutschland: Alle wurden in der Fabrik eines geschäftstüchtigen, aber latent wahnsinnigen Fans des 1. FC Köln produziert. Bitte zitieren Sie mich dazu nicht.)) Das alles in einer heute leicht ins Bräunliche changierenden Optik und obwohl die Anzahl von Gartenzwergen objektiv betrachtet auf den meisten Bildern bei Null liegt, hat man doch, sobald man nicht mehr hinschaut, das Gefühl, mindestens einen Gartenzwerg erblickt zu haben. ((Natürlich ganz ordentliche Gartenzwerge und nicht so ein pfiffiges neumodisches Exemplar mit Messer im Rücken oder entblößtem Genital.)) Meine Kindheitsfotos sahen schon ein bisschen anders aus, verfolgten aber noch das gleiche Konzept. Auf heutigen Kinderfotos sieht man Dreijährige im St.-Pauli-Trikot auf Surfbrettern stehen, Gartenzwerge werden allenfalls von ihnen durch die Gegend getreten.

Die Gemütlichkeit der Bonner Republik ist verschwunden, obwohl ihre Bevölkerung immer noch da ist. Regelmäßig entsorgt man die Kataloge von Billigmöbelhäusern, die Schrankwände Versailler Ausmaße und Pathologie-erprobte Fliesentische anbieten, und regelmäßig fragt man sich, wer außer den Ausstattern von Privatfernseh-Nachmittagsreportagen so etwas kauft. Dann klingelt man mal beim Nachbarn, weil die Regenrinne leckt, und schon kennt man wenigstens einen Menschen, der so was kauft. In Deutschland gibt es 40,3 Millionen Haushalte und Ikea kann nicht überall sein. Ein Blick auf die Leserbriefseite der “Bild”-Zeitung oder in die Kommentarspalten von Online-Medien beweist, dass auch die Aufklärung noch nicht überall sein kann.

Eigentlich hat sich wenig geändert (oder alles, dann aber mehrfach), aber Deutschland wird heute … Entschuldigung, ich wollte gerade “Deutschland wird heute von Berlin aus regiert” schreiben, was völliger Unfug gewesen wäre, weil Deutschland nachweislich nicht regiert wird. Die deutsche Hauptstadt ist also heute Berlin, eine Stadt, die eigentlich gar nicht zum Rest Deutschlands passt: Eine Metropole, von der vor allem Ausländer schwärmen, sie sei der Ort, an dem man jetzt sein müsse. Ganze Landstriche in Schwaben und Ostwestfalen liegen verlassen da, weil ihre Kinder das Glück in der großen Stadt suchen. Von Bonn wurde solches nie berichtet.

Am Samstag war ich nach rund zwanzig Jahren mal wieder in Bonn. Der erste Taxifahrer, zu dem ich mich in Auto setzte, konnte nicht lesen und schreiben, was die Bedienung seines Navigationsgeräts schwierig machte. Der zweite musste seinen Kollegen fragen, wo die gesuchte Straße liegen könnte. Ich wollte in eine Neubausiedlung, erstaunlich, dass es das in Bonn gibt. Ich saß auf dem Beifahrersitz in der freudigen Erwartung eines Deutschlandbildes voller Bungalows und Gartenzwerge, aber Bonn sah eigentlich aus wie überall. Für einen Moment fühlte ich mich sehr zuhause.

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Digital Politik

Am längeren Hebel der Empörungsmaschine

Gestern schrieb Christoph Schwennicke einen Kommentar über die unterschiedlichen Reaktionen auf die Anschläge in Norwegen ebenda und in Deutschland. Gegen den deutschen Politiker, so Schwennicke, sei der pawlowsche Hund ein “vernunftbegabtes Wesen, das den Mut aufbringt, sich seines Verstandes zu bedienen”.

Er fragte:

Warum muss Politik in Deutschland so sein? Warum muss jeder und jede jede Gelegenheit nutzen, das zu sagen, was er oder sie immer schon gesagt hat? Warum kann nicht einfach mal Ruhe sein?

Schwennickes Kommentar hatte “Spiegel Online” einen Vorspann vorangestellt, in dem es hieß:

Norwegen hat besonnen und ohne vorschnelle Schuldzuweisungen auf die Attentate reagiert. In Berlin lief dagegen sofort die Empörungsmaschine an: Gesetze verschärfen, Neonazis verbieten. Kann in der deutschen Politik nicht einfach mal Ruhe sein?

Elf Stunden später stellte sich heraus: Auch bei “Spiegel Online” haben sie so eine Empörungsmaschine — und Christoph Schwennicke hat offensichtlich Zugang zu ihr.

Weil Heiner Geißler bei der Vorstellung des sogenannten Stresstests zum “Stuttgart 21”-Plan die versammelten Befürworter und Gegner des Projekts gefragt hatte, ob sie den totalen Krieg wollten, und sich hinterher partout nicht für dieses Goebbels-Zitat (das natürlich nicht als solches gekennzeichnet war) entschuldigen wollte, empört sich Schwennicke:

Er sollte jetzt, besser in den kommenden Minuten oder Stunden als erst in den nächsten Tagen, zur Räson kommen und sagen: Ich habe einen Fehler gemacht, und dann habe ich einen noch viel größeren Fehler begangen, als ich den ersten Fehler hanebüchen rechtfertigen wollte.

Das fällt schwer. Aber das muss jetzt sein. Sonst gab es einmal einen großen Politiker Heiner Geißler.

Im Vorspann ist diesmal von “grauenhaften Worten” die Rede — als ob die verdammten Worte (oder gar ihre Buchstaben) etwas für die Irren könnten, die sich ihrer bedienen. (Aber das haben wir ja schon mal besprochen.)

Was es zur Empörungsmaschine in Sachen Geißler-Goebbels zu sagen gibt, hat Volker Strübing zusammengefasst.

[via Peter B. und Sebastian F.]

Nachtrag, 21.10 Uhr: BILDblog-Leser Juan L. weist darauf hin, dass Schwennickes Geißler-Kommentar ursprünglich den folgenden Satz enthielt:

Man hört sich die Audio-Datei wieder und wieder an und fragt sich, wie ein Mann von der politischen und der Lebenserfahrung eines Heiner Geißler derart Amok laufen kann.

Nach Kommentaren im Forum wurde der Satz dann sang- und klanglos geändert in:

Man hört sich die Audio-Datei wieder und wieder an und fragt sich, wie sich ein Mann von der politischen Erfahrung und der Lebenserfahrung eines Heiner Geißler eine derartige Entgleisung leisten kann.

Herr Schwennicke scheint sich für seine grauenhaften Worte nirgendwo entschuldigt zu haben.

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Musik Literatur

“Das ist keine Reisegruppe”
Ein Interview mit Sven Regener

Musikjournalisten erzählen häufiger, dass sie relativ wenig Ambitionen hätten, ihre persönlichen Helden zu treffen. Zu groß ist die Angst, dass sich der über lange Jahre Bewunderte als langweilig oder – schlimmer noch – unsympathisch herausstellt, dass einem keine guten Fragen einfallen oder man versehentlich die eigenen Freunde mit reinzieht.

Vor Sven Regener habe ich einen Heidenrespekt: Die Musik seiner Band Element Of Crime begleitet mich schon länger, die letzten beiden Alben habe ich rauf und runter gehört und seine Romantrilogie über Frank Lehmann habe ich mit großem Gewinn gelesen. Außerdem muss ich immer an jenes legendäre Interview mit der (inzwischen fast schon wieder völlig vergessenen) “Netzeitung” denken.

Es hätte also gute Gründe gegeben, sich nicht um ein Interview mit dem Mann zu bemühen, obwohl er mit Element Of Crime in Bochum war. Aber ein kurze Begegnung beim letztjährigen Fest van Cleef hatte mich so weit beruhigt, dass ich gewillt war, mich auf das Experiment einzulassen.

Element Of Crime (Archivfoto vom Fest van Cleef 2009)

Kurz bevor es losging sagte er: “So, wir duzen uns. Ich bin Sven.” Gut, dass das vorab geklärt ist, Respektspersonen würde man ja sonst auch siezen.

Wie das Gespräch dann lief, können Sie jetzt selber hören und beurteilen. Zu den Themen zählen Sven Regeners Tourblog, kleinere Städte, “Romeo und Julia”, Coverversionen und Vorbands.

Interview mit Sven Regener
(Zum Herunterladen rechts klicken und “Ziel speichern unter …” wählen.)

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Digital Gesellschaft Fernsehen

Auswärtsspiel: Einheitsbrei

Jahrelang war ich fest davon überzeugt, dass meine älteste Live-TV-Erinnerung vom 9. November 1989 stammt. Jedenfalls erinnere ich mich daran, wie Menschen mit Hämmern auf eine bunte Mauer einschlugen. Im Verlauf des Erinnerungsoverkills in den vergangenen Wochen fiel mir allerdings auf, dass ich als Kindergartenkind wohl kaum Abends nach 23 Uhr vor dem elterlichen Fernseher gesessen haben dürfte. (Genau genommen möchte ich ins Blaue hinein einfach mal bezweifeln, dass es damals überhaupt Livebilder gab, denn um 23 Uhr stand doch sicher schon der Sendeschluss vor der Tür der drei Fernsehprogramme.)

Jedenfalls war ich sehr enttäuscht, als ich feststellte, dass meine älteste Live-TV-Erinnerung dann wohl doch eher vom Samstag, 11. November 1989 stammt und wahrscheinlich noch nicht mal eine Live-TV-Erinnerung ist.

JEDENFALLS: Der 6. Jahrgangs der electronic media school (ems) in Potsdam hat zum großen Mauerfall-Jubiläum die Internetseite einheits-brei.de gestartet. Für dieses Projekt wurden auch ein paar Blogger gefragt, wie ihnen die diesjährigen Feierlichkeiten gefallen hätten und was sie in fünf Jahren nicht wieder sehen wollen. Ich war einer der Befragten und bin beim Versuch, mich auf die gewünschten “drei bis vier Sätze” zu beschränken, mal wieder gescheitert.

“So bitte nicht mehr!” auf einheits-brei.de

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Fernsehen Rundfunk Politik

14 Millionen Schläfer

Gestern Abend hatten sie mich so weit, da war ich plötzlich einer der vielen Millionen Deutschen, die sich Günther Jauch als Bundeskanzler wünschten.

Zugegeben: Nach dem “TV-Duell”, dessen VHS-Aufzeichnungen seit heute früh in Apotheken als Mittel gegen Schlaflosigkeit zu haben sind (allerdings nur auf Rezept!), hätte ich auch Reinhold Beckmann noch als spritzig und sympathisch empfunden. Aber das hatte schon was, wie Jauch sich da in seiner ehemaligen Beinahe-Sendung – die jetzt “Anne Will” heißt – im Sessel fläzte, gutgelaunt das eben Durchlittene in Worte fasste, die auch an jedem Stammtisch hätten fallen können, und dann als Zugabe noch das aussprach, was ich zuvor auch gedacht hatte: Schwarz-Rot macht jetzt noch zwei, drei Jahre weiter, dann kommt der große Knall und das große Experiment und dann ist Klaus Wowereit mit Hilfe der Linkspartei Kanzler.

Mitten in dieser Therapiesitzung der Selbsthilfegruppe “Große Koalition” hatte sich eine Erinnerung in mein Bewusstsein geschlichen, die da zum wirklich falschen Zeitpunkt kam: Ich musste ein Jahr zurückdenken, an den Wahlkampf in den USA, an die Fernsehdebatten, die charismatischen Kandidaten auf beiden Seiten, an die “Schicksalswahl” und den zum Heilsbringer deklarierten Barack Obama. Nach dem Beamtenmikado zur Primetime hätte auch Rudolf Scharping noch einen glaubwürdigen Heilsbringer abgegeben.

Anders als bei der Bundestagswahl vor sieben Jahren, wo “Stoiber verhindern” noch eine Art von Systemkampf ausgestrahlt hatte, geht es dieses Jahr um nichts. Die Regierungskoalition ist unerheblich, das Volk wird aus unerfindlichen Gründen sowieso der Meinung sein, dass Angela Merkel eine gute “Arbeit” mache. Das Signal des gestrigen “Duells” (wer eine Aussage trifft, hat verloren) war ganz klar: Deutschland ist ein Land, das jeder führen kann, der sich irgendwann mal für die gehobene Beamtenlaufbahn qualifiziert hat. Man muss keine Ideen haben, für Deutsche ist es völlig ausreichend, wenn sie verwaltet werden.

Zu schade, dass Günther Jauch nicht antritt.

Alles Wichtige zum TV-Duell hat Peer im FAZ.net-Fernsehblog noch mal zusammengefasst.

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Politik Gesellschaft

Mein Protest-Problem

Um das Verhältnis der Ruhr-Uni Bochum zu Studentenprotesten zu verstehen, muss man wissen, dass es in Bochum eher die Ausnahme ist, wenn gerade mal nicht irgendwo wofür oder wogegen demonstriert wird. Als vor drei Jahren das damals leerstehende Querforum West (erst Übergangsmensa für die Zeit des Mensaumbaus, heute Tutorienzentrum und für diese Funktion denkbar ungeeignet) besetzt wurde, belauerten sich Uni-Verwaltung und Besetzer etwa acht Monate lang, bis das Gebäude dann doch von der Polizei geräumt wurde.

Studentenvertretung und Protestkomitee – ein Wort, bei dem ich im Geiste immer “Kölner Karneval” ergänzen will – schaffen es grundsätzlich nicht, der riesigen Mehrheit der Studentenschaft ihre Anliegen zu erklären. Auf den spärlich besuchten Vollversammlungen springen die Redner oft binnen weniger Sätze von der Kritik am Bildungssystem zur Abschaffung des Kapitalismus und dem Krieg in Afghanistan. Während an anderen Unis die Professoren und Dozenten ihre Studenten zur Teilnahme am Bildungsstreik ermutigen, haben in Bochum selbst die engagiertesten Professoren keine Lust mehr, sich mit Protesten auseinanderzusetzen, und fragen, ob es nicht geeignetere Methoden gäbe, die durchaus berechtigte Kritik an der desaströsen Bildungspolitik der schwarz-gelben Landesregierung zu artikulieren.

Heute Morgen dann wurde die Uni-Brücke belagert. Die Protestler flehten die heranströmenden Studenten fast schon an, sich doch ihre Argumente und Ziele anzuhören. Aber irgendwie war die Idee, die Leute über und unter Absperrungen klettern zu lassen, nicht geeignet, die gewünscht Botschaft zu vermitteln. Die Studenten waren genervt und machten Witze. Vor dem Zelt des Proteskomitees saßen Menschen, für deren Besetzung als Studentenvertreter in einem Fernsehfilm man den zuständigen Castingdirektor wegen Klischeelastigkeit entlassen hätte. Und als schließlich etwa achtzig Protestler die Hörsäle stürmten und “Solidarisieren, Mitmarschieren!” skandierten, wusste ich plötzlich wieder ganz genau, warum mir das alles nicht gefällt: Ich mag einfach kein Gebrüll und kein Marschieren.

Vor drei Jahren war ich für CT das radio bei einer Demonstration gegen Studiengebühren in Düsseldorf und dieser Tag hat mein Verhältnis zu Protestaktionen nachhaltig gestört: Während am Straßenrand Passanten standen und sich angesichts der doch recht allgemein gehaltenen Transparente und Sprechchöre fragten, worum es eigentlich ginge, kam ein Teil der Menge auf die Idee, zur Melodie von “Einer geht noch, einer geht noch rein” immer wieder “Ohne Bildung wer’n wir Polizist” zu grölen, was ich auch rückblickend noch als empörenswerten Ausbruch von Arroganz und Menschenverachtung empfinde.

Kaum waren die Absperrungen entlang der Bannmeile um den Landtag erreicht, hielt es ein Teil der Demonstranten offenbar für geboten, diese als erstes zu Überspringen, was die Polizei zum Heranstürmen veranlasste. Ich floh derweil mit einem Redaktionsnachweis in der einen und meinem Jugendpresseausweis in der anderen Hand hinter die Polizeilinien und telefonierte aufgeregt in die Livesendung, während ein paar Meter weiter Chinaböller in Richtung von Kindern und alten Frauen flogen, die sich bizarrerweise im Park um den Landtag aufhielten.

Demonstranten schrien andere Demonstranten an, sie sollten doch mit dem Scheiß aufhören. Polizisten bellten in ihre Funkgeräte, was für Idioten denn wohl veranlasst hätten, die Menge auch noch mit Videokameras zu filmen — auf solche Provokationen könne man ja wohl verzichten. Eine andere Hundertschaft machte gerade Mittagspause in der Sonne. Ich dachte – und denke es gerade angesichts der Meldungen aus Teheran wieder -, dass es vielleicht im Großen und Ganzen doch nicht so übel ist, in Deutschland zu leben.

Wenn heutige Studenten jetzt von ’68 träumen, legen sie damit immerhin die für erfolgreiche Revolutionen benötigte Weltfremde an den Tag. Zwar neigt Geschichte dazu, in Abständen von etwa vierzig Jahren vergleichbare gesellschaftliche Spannungen zu durchlaufen, aber die Welt ist 2009 doch in fast jeder Hinsicht eine andere als 1968. Oder: Zumindest Deutschland ist ein anderes.

Auch wenn ich persönlich mit meinem Studium ziemlich zufrieden bin, weiß ich von genug Leuten, bei denen die Bachelor/Master-Studiengänge zu Desastern geführt haben. Ich glaube in der Tat, dass bildungspolitisch einiges, wenn nicht alles, im Argen liegt. Aber mich überzeugen diese Formen des Protests (zumindest die, dich ich bisher mitbekommen habe) nicht — ich halte sie viel eher für kontraproduktiv. Dass Demonstrationszüge ohne den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung allenfalls Mitleid erzeugen, kann man jeden Montagabend in der Bochumer Innenstadt besichtigen.

Fragen Sie mich nicht, wie ich das machen würde. Ich leiste mir nach wie vor die Naivität, an die Macht des Dialogs zu glauben und an den Sieg der Vernunft. Auch hunderte Landes- und Bundesregierungen werden mich nicht davon abbringen können — und mit dieser Weltfremde bin ich doch irgendwie wieder ganz bei den Protestlern.

Musik!

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Digital

Die wöchentliche Sendung

Ich wünsche mir ja schon länger ein deutsches Äquivalent zur “Daily Show”. Eine Sendung also, in der aktuelle Nachrichten humorvoll kommentiert werden und wo man vielleicht auch noch ein bisschen was lernt.

Die Behauptung, ein solches Äquivalent gefunden zu haben, wäre irreführend: Die “Daily Show” läuft vier Mal in der Woche eine halbe Stunde, hat ein großes Autorenteam und etwa zwei Millionen Zuschauer.

“Das Nachrichten” läuft einmal in der Woche um die sechs Minuten auf YouTube, hat (wenn ich das richtig sehe) zwei Autoren und die Zuschauerzahlen der einzelnen Folgen liegen (noch) im dreistelligen Bereich.

Hinter “Das Nachrichten” stecken ONKeL fISCH, bekannt geworden durch sehr alberne, aber wie ich finde auch oft sehr gute Comedy bei Eins Live und im WDR Fernsehen. Und die kommentieren jetzt seit einigen Wochen die Meldungen der Woche und machen das meines Erachtens gar nicht schlecht:

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Es ist – um das noch mal zu sagen – etwas anderes als die “Daily Show”, aber ich finde sowohl die Idee als auch die Umsetzung sehr gelungen und habe herzlich gelacht.

Den Gedanken, welcher Fernsehsender das wohl übernehmen könnte, habe ich übrigens wieder verworfen: Es braucht keinen Fernsehsender, es steht ja eh schon online.

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Gesellschaft Digital Politik

Wir sind noch nicht so weit

Es gibt wohl mal wieder Grund für Kritik an der Bundesregierung und jede Menge Aufschreie aus der Blogosphäre. Einige Stimmen meinen gar, die Bundesregierung wolle den Faschismus einführen.

Ich halte das für Unsinn. Diese Bundesregierung könnte den Faschismus nicht einführen, wenn sie es wollte. Sie kann nur versehentlich den Boden dafür bereiten.

Denn wenn man sich die Pressekonferenz angesehen hat, auf der Nicht-Wilhelm von Guttenberg, Ursula von der Leyen und Brigitte Zypries heute über die Internetsperren gegen Kinderpornographie gesprochen haben, kann man nur zu einem Schluss kommen: Diese Menschen wissen wirklich nicht, wovon sie reden. Es gilt das gleiche wie in den Debatten über Bundestrojaner und “Killerspiele”: Ja, die Beteiligten sind ahnungslos — aber böswillig? Wohl kaum.

Don Dahlmann und Thomas Knüwer haben schöne Texte geschrieben über die “Systemkämpfe” bzw. die “digitale Spaltung”, die der Gesellschaft drohen. Ich habe das vor einem Jahr auch schon mal an ganz privaten Beispielen durchexerziert.

Und bei aller vermutlich sehr berechtigten Kritik an den ganzen Vorhaben dieser Berliner Dilettanten frage ich mich immer wieder, ob wir “Internetaktivisten”, deren Zahl ich mal sehr großzügig auf 500.000 Menschen schätzen möchte, nicht so eine Art digitale Autoschrauber sind: Nerds mit einem schönen Hobby, das aber gesellschaftlich nur bedingt relevant ist.

Die Millionengroßen Nutzerzahlen von YouTube, MySpace, Facebook und StudiVZ sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Internet für die allermeisten Nutzer in Deutschland so etwas ähnliches ist wie ein Auto (isch abe gar keins) für mich: Es ist praktisch, aber wie es funktioniert und was damit noch möglich wäre, ist irgendwie egal. Für diese Menschen ist Google “das Internet”, und sie nutzen es, um mit Freunden zu kommunizieren, für die Uni zu recherchieren und billige Flugreisen zu buchen. Eine Zensur von regierungskritischen Internetseiten, wie sie immer wieder an die Wand gemalt wird, hätte für diese Gelegenheits-User vermutlich die gleiche Bedeutung wie ein Tempolimit für mich: Es wäre ihnen egal.

Selbst wenn wir eine Million wären: Wir stünden immer noch mehr als 80 Millionen Menschen gegenüber. Zwar ist Masse in den seltensten Fällen ein Beleg für die Richtigkeit von Ideen, aber über deren wahre Bedeutung entscheidet immer noch der Verlauf der Geschichte. Und so wird die Zukunft zeigen, ob das Internet mit all seinen Chancen und Gefahren, mit all dem Tollen und Abscheulichen (das ich ja immer schon nur für eine digitale Abbildung der Lebenswirklichkeit gehalten habe), wirklich in eine Reihe mit den großen Errungenschaften der Menschheit (Feuer, Rad, geschnitten Brot) gehört, oder ob es “nur” ein sehr, sehr gutes Werk- und Spielzeug war.

Mich beschleichen immer wieder Zweifel, ob das World Wide Web wirklich das große Demokratie-Instrument ist, als das es gefeiert wird. Ich glaube schon, dass da ein enormes Potential vorhanden ist, aber noch weiß kaum jemand davon. Die Deutschen schimpfen einerseits seit Erfindung ihres Landes auf “die da oben”, sind aber andererseits in besorgniserregend hoher Zahl mit der “Arbeit” von Angela Merkel zufrieden. Diesen Menschen die Chance auf Mitbestimmung zu geben käme vermutlich ähnlich gut an, wie wenn man ihren Fliesentisch zerschlüge und ihnen “Du bist frei von den Fesseln des Kleinbürgertums!” entgegen riefe.

PS: Persönlich enttäuscht bin ich von Ursula von der Leyen, die ich bisher immer für eine kompetente und erfrischend progressive Familienministerin gehalten habe. Ich weiß nicht, ob sie einfach schlechte Berater hat, oder ob ihr die Berliner Luft nicht bekommt. Aber letzteres wäre durchaus verständlich.