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2010 – the year something broke

In Jahresendzeitstimmung schaut man ja gerne zurück auf das endende Jahr, resümiert und fertigt – wenn man derlei Neurosen pflegt – obskure Listen an. Auf eine Leserwahl haben wir nach dem Muse-Debakel im Vorjahr einfach mal verzichtet und Unheilig per Akklamation zu Ihrer Lieblingsband 2010 ernannt.

Doch die letzten Dezembertage ließen mich auch persönlich nachdenklich zurück: Was hatte ich eigentlich gehört und gut gefunden?

Meine last.fm-Charts waren einigermaßen wertlos: Aus verschiedenen Gründen tauchten Songs wie “Fireflies” (Owl City), “Baby” (Justin Bieber) oder “Catch Me I’m Falling” (Real Life, hätten Sie’s gewusst?) in meinen Jahres-Top-25 auf, was ich in erster Linie besorgniserregend fand. Außerdem waren alle Songs des Albums von The National dabei, was immerhin schon mal einen deutlichen Hinweis auf das Album des Jahres gibt, denn so unfassbar groß wie “High Violet” war 2010 tatsächlich nichts mehr.

Es ist nicht auszuschließen, dass ich das Beste wie üblich übersehen habe: Arcade Fire, Get Cape. Wear Cape. Fly, Eels, Sufjan Stevens — alles nicht oft genug gehört, weil mir der Sinn grad nach etwas Anderem stand. So habe ich ja auch “Only Revolutions” von Biffy Clyro erst im Oktober 2010 für mich entdeckt, es ist also denkbar, dass es auch im letzten Jahr wenigstens ein gutes Gitarrenrock-Album gab — wahrscheinlich ist es allerdings nicht, zu wenig ist in den vergangenen Jahren im Rocksegment passiert. Die Manic Street Preachers etwa haben mit “Postcards From A Young Man” ein durchaus sehr gutes Spätwerk rausgebracht, aber geknallt hat das jetzt auch nicht richtig. Und falls es spannende Neulinge gab, muss ich sie allesamt übersehen haben: The Hold Steady haben souverän gerockt, Jason Lytle hat mit seiner Post-Grandaddy-Band Admiral Radley schön verschrobenen Indierock gemacht, The Gaslight Anthem waren okay, Ende des Jahres kam mit “All Soul’s Day” ein ordentliches Lebenszeichen von The Ataris — aber, Entschuldigung: Wir sprechen vom Jahr 2010! Völlig okay, dass Ben Folds mit lyrischer Unterstützung von Nick Hornby endlich mal wieder ein richtig gutes Album gemacht hat, aber der Mann ist jetzt auch schon seit 17 Jahren dabei.

Immerhin haben nicht alle Bands so enttäuscht wie Wir Sind Helden, Shout Out Louds, Stereophonics oder – richtig schlecht – Jimmy Eat World und Danko Jones. Weezer haben angeblich schon wieder mindestens ein Album veröffentlicht. Die meisten meiner Lieblingsbands hatten sich eh eine Auszeit genommen und ihre Sänger solo vorgeschickt: Alles überragte dabei Jónsi von Sigur Rós, dessen “Go” zu den besten Alben des Jahres gehört. Jakob Dylan war schon zum zweiten Mal ohne Wallflowers unterwegs, hat die Band aber immer noch nicht aufgelöst. Dabei ist das düster-folkige “Women & Country” eigentlich besser als alles, was er vorher gemacht hat. Fran Healy (Travis) und Brandon Flowers (The Killers) ließen erst Therapiesitzungen erwarten, klangen dann aber gar nicht mehr so anders als ihre Bands — eben gut, aber auch nicht mehr so richtig spannend. Carl Barât gehört auch irgendwie in diese Aufzählung, obwohl er die Dirty Pretty Things ja längst aufgelöst hat und es die Libertines wieder gibt. Kele (Bloc Party) und Paul Smith (Maxïmo Park) hab ich verpasst. Und dieses Jahr veröffentlicht dann Thees Uhlmann (Tomte) sein Solo-Debüt …

In Sachen Hip-Hop ging auch nicht mehr so richtig viel: Kid Cudi blieb mit seinem Zweitwerk hinter den Erwartungen zurück, Kanye West hat ein irres Gesamtkunstwerk rausgebracht, das mit dem Album eines Einzelinterpreten wenig gemein hat und sich mir womöglich erst in ein, zwei Jahrhunderten erschließen wird. Eminem war durchaus kraftvoll wieder da, kriegte den meisten Airplay aber für ein Duett mit der langsam unvermeidlichen Rihanna. Aus Großbritannien kam immerhin Professor Green mit einem dreckig-bunten Grime-Strauß.

Im Pop gab es (neben Lady Gaga) vor allem zwei Themen: Das große Comeback von Take That als Quintett und Lena. Mit Hilfe von Stuart Price (s.a. Scissor Sisters) nahm die einstige Vorzeige-Boygroup (Huch, aus welchem Paralleluniversum kam denn diese Klischee-Formulierung?) ein erstaunlich elektronisches Album auf — “reif” hatte die Band seit ihrem Comeback 2006 ja die ganze Zeit geklungen. Die zu “Progress” gehörende Dokumentation “Look Back, Don’t Stare” zeigt die Fünf dann auch als weise ältere Herren, die ihre Dämonen langsam aber sicher alle bekämpft haben und jedem Mann Mitte/Ende Zwanzig Mut machen, in zehn bis fünfzehn Jahren so gut auszusehen wie nie zuvor. Oder man zeugt wenigstens eine Tochter wie Lena Meyer-Landrut, die exakt fünf Takte brauchte, bis sich erst alle Zuschauer von “Unser Star für Oslo” und dann 85% der deutschen Bevölkerung in sie verliebten. Natürlich war der Triumph beim Eurovision Song Contest eine mittelschwere Sensation und auch für mich persönlich ein Erlebnis, aber das Album “My Cassette Player” war leider trotzdem eine ziemliche Enttäuschung. Textlich schwer rührend, aber auch völlig seelenlos produziert, ragt das von Ellie Goulding geschriebene “Not Following” hervor, der Rest ist nett, aber belanglos.

Was kam sonst aus Deutschland? Tocotronic, die mich etwas ratlos zurückließen, Erdmöbel mit dem besten deutschsprachigen Album seit Jahren, Die Fantastischen Vier, die sich irgendwo zwischen “Bild”-Interview (in Morgenmänteln im Bett!) und Werbedeals vollends der Bedeutungslosigkeit hingaben, während Fettes Brot ihr vorläufiges Ende verkündeten. Und dann halt so Leute, die man persönlich kennt wie Tommy Finke, Enno Bunger oder die phantasischen Polyana Felbel.

Auf vier bis acht großartige Alben folgt eine ganze Menge Mittelmaß und die Gewissheit, dass ich vieles sicher noch überhört habe. Dafür haben mich die Alben, die ich dann tatsächlich gehört habe, zu sehr aufgehalten: The National, Erdmöbel, Delphic, Jónsi, Jakob Dylan und die Vorjahresübersehungen Biffy Clyro und Mumford & Sons. Die Liste meiner Lieblingssongs wird irgendwo hinter Platz 8 recht schnell beliebig, hat aber immerhin einen richtigen Kracher auf der Eins: “Tokyo” von The Wombats, mit denen ich ehrlich gesagt am allerwenigsten gerechnet hätte.

In den Charts dominierten erst die Fußballhymnen (das vom Kommerz zerstörte “Wavin’ Flag” von K’naan und das nur nervige “Waka Waka” von Shakira), ehe sich das Land zum Jahresende zwei wahnsinnig unwahrscheinliche Nummer-Eins-Hits gönnte: Eine 17 Jahre alte Kreuzung zweier Evergreens auf der Ukulele, gesungen vom schwergewichtigen und zwischenzeitlich verstorbenen Israel Kamakawiwo’ole und ein aus dem Werbefernsehen bekannter, ursprünglich nicht als Single angedachter Song von Empire Of The Sun, die anderthalb Jahre zuvor erfolglos versucht hatten, mit einem sehr viel eingängigeren Song über das Werbefernsehen erfolgreich zu sein. In den Albumcharts durfte sowieso jeder mal ran und wenn gerade kein großer Name (Peter Maffay, AC/DC, Iron Maiden, Joe Cocker, Depeche Mode, Bruce Springsteen) sein neues Album rausgehauen hatte, schossen wie selbstverständlich Unheilig wieder an die Spitze der Hitparade.

Na ja: Neues Jahr, neues Glück.

Songs & Alben 2010 — Die Listen

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2010 — Der Jahresrückblick (Teil 2)

In der zweiten Folge unseres Jahresrückblicks sprechen Herr Finke, Herr Redelings und ich über Musik, Fußball und Politik, sowie über andere Katastrophen:

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Musik

Bevor es zu spät ist

Nachdem ich in den vergangenen Jahren die besten Alben (Bon Iver, The Gaslight Anthem; Mumford & Sons, Emmy The Great, Biffy Clyro) jeweils erst nach Silvester entdeckt habe, dachte ich mir, dass es dieses Jahr anders werden muss: Ich bitte also jetzt schon um Hinweise, was ich eventuell übersehen haben könnte.

Bisher ganz oben auf meiner Shortlist für die besten Alben 2010 stehen:

  • Erdmöbel – Krokus
  • The National – High Violet
  • Delphic – Acolyte
  • Jónsi – Go
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Musik Unterwegs

Camp Indie Rock

– von Tommy Finke –

DONNERSTAG
Großzügigerweise habe ich mich als Fahrer angeboten und nehme meinen Teil der Reisegruppe Haldern 2010 vom Bahnhof Bochum aus mit.

Während Rosa und Marie beide vorne Platz nehmen, nehme auch ich vorne Platz. Die Vorzüge eines Bandautos: 3 Sitze in der ersten Reihe. Marie hat ein iPad eingepackt, ich muss darüber ein wenig lachen, bin aber eigentlich neidisch. Ihr Ziel beim Haldern ist medientechnischer Natur: Sie hat einen der begehrten Fotopässe. Mit Rosa war ich 2008 schon mal auf dem Haldern. Und ich freue mich, dass sie diesmal wieder dabei ist! Die Fähigkeit, sich über Tage fast ausschließlich von Rotwein und Musik zu ernähren, macht Rosa zu einer perfekten Fetivalbesucherin. Und zu einem medizinischen Wunder.

Unser Zeltplatz ist, einmal angekommen, leicht abschüssig, dafür haben wir aber in alle Richtungen nette Nachbarn. Wir verzweifeln an Maries Zelt, aber der Hinweis, man könne zumindest mal versuchen, alle Stangen mit der gleichen Nummer ineinander zu stecken, ist ausschlaggebend. Inzwischen ist auch Christoph mit Sophie angereist.

Ich spiele den Realisten und öffne das erste Dosenbier. Das ist hier schließlich kein Kindergeburtstag und wir haben schon deutlich nach 16 Uhr. Alle wollen wir zwar Seabear im Spiegelzelt sehen, aber die Schlange ist schon um 18 Uhr so lang, dass wir uns entschließen, nochmal kurz zurück zum Zeltplatz zu gehen und, nunja, vorzuglühen. Ich stolpere an Foto-Gerrit vorbei, meine einzige feste Haldern-Freundschaft. Gerrit ist berühmt geworden mit einer Ausstellung über die Fotos der Schuhe der Stars: “Dancing Shoes”.

Gerrit macht den Vorschlag, mich am nächsten Tag zu fotografieren, aber wie jedes Jahr kriegen wir es überhaupt nicht hin, uns zu einer festen Uhrzeit irgendwo zu treffen, obwohl wir uns die nächsten 3 Tage immer wieder begegnen. Ganz so schlimm ist das dann aber doch nicht nicht, Gerrit hatte in Zusammenhang mit der Fotosession das Wort “nackt” gebraucht. Ich hoffe, das liegt an seinem letzten großartigen Projekt, ein Herz geformt aus nackten Festivalbesuchern beim Melt.

Wir anderen gehen zurück zum Zeltplatz, den wir für heute dann nicht mehr verlassen, denn auch später berichten unsere Spione von undurchdringlichen Menschenmassen an und ums Spiegelzelt. Uns ist das egal, die Christophsche Einkaufswut beschert uns Grillgut und Gin-Tonic. Zusätzlich ist Nacht der Sternschnuppen und so gucken wir alle stundenlang in den Himmel. Irgendwelche leicht zu begeisternden Leute rufen bei jeder Sternschnuppe “Oh!” und “Ah!”, wir bleiben still, weil wir das nicht für Feuerwerk halten, sondern für etwas Größeres. Ich bin gerührt, weil ich jede Sternschnuppe zweimal sehe.

Aus einem nahen Zelt dringt ein schwäbelndes Stöhnen. Das Prinzip “Wenn ich sie nicht sehe, dann hören sie mich auch nicht”, hat wieder nicht funktioniert.

Haldern Pop 2010

FREITAG
Am nächsten Morgen habe ich einen Geschmack im Mund, der Tote umbringen könnte. Ich nehme mir vor, diesen Abend dringend die Zähne zu putzen, bevor ich ins Zelt steige. Marie ist schon wach und macht Kaffee.

Heute ist der Tag, an dem wir mindestens Delphic und Mumford & Sons sehen müssen. Außerdem gibt es auf dem Programm heute ein Fragezeichen und es ging das Gerücht rum, dass es sich um Belle & Sebastian handeln könnte. Aber nein, es kommt anders, und zwar in Form von: Philipp Poisel. Die Leute: nicht begeistert. Was für ein unangemessener Ersatz für die gedanklich schon gebuchten Belle & Sebastian. Da hätte ja gleich ich spielen können. Selbstreflexion, meine Damen und Herren.

Ein paar hundert Meter weiter hatte ich gestern schon Teile der Fog Joggers und Oh, Napoleon getroffen. Ja, meine Damen und Herren, hier campen die kleinen Künstler noch selbst. Ich beschließe, nochmal rüberzugehen und hallo zu sagen. Sophie schließt sich mir an, da auch sie dort jemanden (“Frederik!!!”) kennt. Jan von den Fog Joggers hat mein Album dabei, er mag es. Dass ich die Fog Joggers EP so richtig großartig finde, behalte ich für mich, damit es ihm nicht zu Kopf steigt. Sophie hat inzwischen Frederik am Rande der Joggers-Gruppe ausfindig gemacht. Er liegt auf dem Boden mit einem T-Shirt über seinem Kopf, verkatert und apathisch. Einmal aufgewacht, stellt er sich als sympathischer Kerl heraus, lacht über wirklich jeden meiner bekanntermaßen schlechten Witze. Ich überlege, ihn zu adoptieren oder zumindest anzustellen.

Sophies Freundin Lisa reist auch noch an und hat ein Sagrotan-Arsenal eingepackt, das manche Klofrau neidisch machen dürfte. Dass Sie Ihren Hund Treu nicht mitnehmen durfte, findet sie doof. Außerdem wirkt sie augenscheinlich etwas irritiert, wie die Leute hier so leben. Der Grund dafür ist schnell gefunden: Es ist, mit 28 Jahren, ihr allererstes Festival.

Die arme Lisa! Wir beschließen, Ihr alles wichtige über das Haldern Pop beizubringen und gehen zusammen zum berühmten See zum Schwimmen. Ich selbst war da zwar bisher auch noch nie drin, ist aber auch erst mein viertes Haldern. Dass jedoch Christoph nach knapp 10 Jahren Haldern noch nie in dem See schwimmen war, finde ich bemerkenswert. Immerhin ist der See umsonst, die Duschen kosten Geld. Sie verstehen? Eben.

Björn und Frederik schwimmen nicht nur, sie haben auch Bier mitgebracht. Für Im-See-trinken. Ich habe aus Fuß-Aufschlitzungsangst meine Gummistiefel an. Beim Schwimmen. Zur Badehose sieht das scheiße aus, aber das hier ist ja kein Modewettbewerb.

Wir machen uns den Spaß und gucken uns Philipp Poisel an. Nun ja. Das Fragezeichen bleibt eines. Mir fällt auf, dass der Keyboarder, der übrigens schwäbelt, nicht richtig zu hören ist. Schade. Ich bin da etwas altmodisch: Ich mag meine Instrumente hörbar. Ansonsten schwankt der Auftritt irgendwo zwischen Xavier Naidoo und Madsen. Zumindest nicht meine bevorzugten musikalischen Eckpunkte.

Während Philipp noch vor sich hin poiselt, besuchen wir das Spiegelzelt, und irgendwie passiert das Unglück: Die Zeit ist zu schnell vergangen! Als wir auf die Uhr sehen und zur Hauptbühne hechten, spielen Delphic gerade ihr letztes Lied. Ich beiße mir in den Arsch, denn was ich sehe und höre ist die großartigste Indie-Electro-Explosion seit Langem. Da könnt Ihr Euch mal alle umgucken, Ihr Zoot Women. Ich bin trotzdem hin und weg, das hat mir wirklich gut gefallen. Delphic. Scheiß Name, geiler Sound.

Diesmal sind wir schlauer und bleiben an der Hauptbühne. Denn es folgt die Band der Stunde: Mumford & Sons, liebevoll in Manfred & Söhne umgetitelt von … nunja. Muss ich zur Band noch was sagen? Ich mag die wechselnden Instrumente, von der Seite sehe ich nicht genau, wer wann singt. Später sagt man mir, der Sänger hätte auch getrommelt. Ich muss an Phil Collins denken, erschieße mich aber innerlich dafür. Was für eine Band! Diese folkige Melancholie, diese holzige Euphorie. Gänsehaut, Tränen in meinen Augen. Und zack: vorbei.

Als Beirut folgen versuche ich, einen akustischen Filter in meinem Kopf zu formen, der aus Beirut wieder Mumford & Sons macht. Gelingt mir nicht, aber Beirut sind auch klasse. Vielleicht etwas undankbar, die armen hinter dieser Kracherband auf die Bühne zu schicken.

Aber abgesehen davon: ein wirklich ausgelassener Freitag auf dem Haldern Pop. Für mich persönlich noch von der Tatsache veredelt, dass ich auf dem Boden 20 “Poptaler” finde, die Halderner Währung für die Getränke. Wenn man den Pfand für sich selbst abzieht (und den scheiß Becher nicht verliert), kann man gut und gerne 9 Bier dafür eintauschen. Hurra.

Haldern Pop 2010

SAMSTAG
Diesmal gehen wir eher auf das Gelände, weil wir gerne Portugal. The Man sehen möchten. Schaffen wir sogar. Tolle Band, sind an diesem Tag aber sehr Riff-lastig. Ich selbst hasse ja Riffs, weil ich so ein schlechter Gitarrist bin und mir beim zuhören immer die Noten in den Kopf fliegen und mich daran erinnern, dass ich üben sollte. Mach ich vielleicht mal. Der Auftritt macht auf jeden Fall Spaß und Sophie hat Seifenblasenzeugs dabei, welches wir einsetzen. Und – oh naturbelassenes Haldern Pop – eine majestätische Libelle lässt sich neben der Bassbox nieder, während ein Security-Mitarbeiter die Unterseite seiner Arme in die Sonne hält. Nicht aus Freude am Bräunen, sondern aus gesundheitlichen Gründen: Die Oberseite sieht schon genießbar aus. Möglicherweise hat der Geruch die Libelle angelockt.

Sophie und ich schaffen bei Everything Everything im Spiegelzelt wieder nur das letzte Lied. Aber auch diese Band schafft es, mich mit dem letzten Lied komplett zu überzeugen. Das Delphic-Phänomen. Scheiß Name, geile Band. Ich ärgere mich, dass ich nie das letzte Lied von Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs gesehen habe.

Irgendwann dann The Low Anthem im Spiegelzelt. Ich habe inzwischen einen toten Punkt erreicht und finde, dass die Band klingt wie das Simon & Garfunkel Album, das ich manchmal im Auto höre. Ich schlafe im Stehen ein. Das wirkt repektlos, soll aber die Band nicht schmälern. Countryesquer Folk. Oder sowas. Naja, ich brauche frische Luft und hänge draußen rum. Hier und da wieder bekannte Gesichter: Sven, ein Fotograf aus Bochum, Gerrit natürlich (“Tommy, später aber Fotos, ne?”), Manuel von den Wedges. Ein bisschen wie ein kleines Dorf. Hier sollte man keine Dummheiten machen, da weiß jeder gleich Bescheid. Und dann tuscheln die Nachbarn.

Efterklang werden mir als Sigur-Rós-Verschnitt schmackhaft gemacht, enttäuschen aber in dieser Hinsicht gewaltig. Das ist das Problem mit großer Erwartungshaltung: Mit dieser Band werde ich heute nicht mehr warm. Ich nutze meine letzten Fund-Poptaler und gebe eine Runde. Christoph hat von seiner Oma 50 Euro Taschengeld mitbekommen!!! Obwohl das einen tiefen Eingriff in die adulte Selbstversorgungspflicht darstellt. Er weiß um seinen Stellenwert als Gruppenbetreuer und kauft davon Poptaler. Als ihm klar wird, dass er davon weder Essen noch sonstwas, sondern nur Bier und Wein kaufen kann, ist es bereits zu spät. Der Poptaler ist wie das Spielgeld in Disneyland, er regt zum Konsum an.

Und dann endlich irgendwann: The National. Erst denke ich, dass da irgendwas Interpol-ähnliches auf mich zukommt, aber schnell wird klar, dass diese Band komplexer ist. Irgendwie muss ich zwar die ganze Zeit an Depeche Mode denken, woran der Gesang seinen Anteil hat, aber das würde der ganzen Sache nicht gerecht. Denn The National klingen tatsächlich sehr eigen und interessant, rocken außerdem wie Hölle und haben eine unglaublich stimmungsvolle Lightshow. Marie regt sich später darüber auf, weil ihr das natürlich die besten Fotos versaut: Immer irgendein scheiß Licht in der Kameralinse. Mir ist das egal, ich muss ja nur gucken und glotzen. Wahrscheinlich starre ich inzwischen schon, wenn ich trinke werde ich immer zum Starrer, da ich vergesse zu blinzeln. Bei dieser Band sollte man die Augen sowie so nicht schließen, nicht mal für eine Nanosekunde.

Inzwischen sind die letzten Poptaler bestimmungsgemäß verbraucht und eine gewisse Festivalmelancholie macht sich breit: Wir haben die letzte Band auf der Hauptbühne gesehen. Jetzt ins Spiegelzelt? Undenkbar. Der harte Kern unserer Reisegruppe, Christoph, Rosa, Sophie, Marie und ich, geht zum Zeltplatz und lässt den Abend gebührend ausklingen: Wir singen 90er Jahre Plastikpophits von East 17 und Take That. Weil wir uns nämlich nicht zu fein sind, zu erkennen, dass das in der Retrospektive auch schöne Musik sein kann. Und dann packt Sophie ihr Handy aus und spielt die Musik ab, die mich danach nicht mehr losgelassen hat, massiver als eine der Bands von den Bühnen: Oh, Napoleon. Ironie des Schicksals. Vor zwei Tagen noch am Zeltplatz gesehen und trotzdem vorher gar nicht reingehört. Man sagt ja oft “Die Band kenn’ ich!” und meint “…vom Namen.” Ich auf jeden Fall: begeistert und verstört, weil die doch noch so jung sind und die Sängerin da Sachen raushaut wie ein alter Hase

Der nächste Morgen bringt den ersten grauen Tag. Ist aber auch egal, weil wir jetzt packen und heimwärts fahren. Ich denke darüber nach, den herausragenden Sonnenschein der Halderner Tage als gutes Omen zu deuten, dann fällt mir aber ein, dass ich an so einen Hokus Pokus nicht glaube. Manchmal, ganz selten, stimmen eben alle umgebenden Faktoren so überein, dass für ein paar Tage alles perfekt ist.


Tommy Finke ist 29 Jahre alt, Musiker und lebt in Bochum. Im Februar ist sein Album “Poet der Affen / Poet of the Apes” erschienen.

Für Coffee And TV hat er das Haldern Pop 2010 besucht und seine Eindrücke von Zeltplatz, See und Festival aufgeschrieben. Die Namen der Mitreisenden wurden dafür geändert.

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Haldern Pop 2010 – A place to come home to

“That will literally blow your mind” sagte Fyfe Dangerfield während seines Auftritts im Spiegelzelt am Donnerstag, als er sich an sein Keyboard setzte. Wie viel Wahrheit in diesem Satz vor allem im Bezug auf die Erlebnisse des Festivalwochenendes stecken würde, konnte ich noch gar nicht ahnen.

Seit 2001 in regelmäßigen Abständen beim Haldern Pop Festival gewesen gab es in jedem Lineup mindestens vier Bands, die ich unbedingt sehen wollte, doch in diesem Jahr war es anders: Ich kannte vielleicht 50% der gebuchten Acts, lediglich zwei standen auf meiner “unbedingt angucken!”-Liste. Trotzdem kein Grund, nicht hinzufahren – in Haldern stimmt eben das Gesamtpaket, selbst wenn das Wetter schlecht ist. Und am Ende hat man einige neue Bands auf seiner Favoritenliste, die da vorher nicht gestanden haben. Dies war auch in diesem Jahr so.