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Musik

Listenpanik 06/​08

Okay, nach dem Zusam­men­bruch beim letz­ten Ver­such, eine Monats­lis­te zu erstel­len, habe ich mich wie­der gefan­gen. Hier ist das Bes­te aus dem Monat Juni – bezie­hungs­wei­se das, was ich in die­ser Mil­li­se­kun­de dafür gehal­ten haben könn­te. Und abge­se­hen von dem, was ich bis­her schlicht­weg ver­ges­sen oder über­se­hen habe.

Alben
1. Sigur Rós – Med Sud I Eyrum Vid Spilum End­al­aust
Mit einem Dröh­nen in ihren Ohren wol­len sie also end­los spie­len, wenn man den Über­set­zungs­an­ge­bo­ten für Nicht-Islän­der glau­ben darf. Die Islän­der von Sigur Rós, deren Alben ger­ne in der Nähe der Adjek­ti­ve „sphä­risch“ und „ent­rückt“ bespro­chen wer­den, klin­gen auch auf ihrem fünf­ten Album so unver­gleich­lich wie zuvor – nur die mit­un­ter ton­nen­schwe­re Melan­cho­lie ist an etli­chen Stel­len einer feder­leich­ten Lebens­freu­de gewi­chen. Upt­em­po-Num­mern eröff­nen das Album und ehe man sich’s ver­sieht, ist man auf der Suche nach leicht nerdi­gen Rin­gel­pul­li­trä­gern, die mit­schun­keln wol­len. Viel­leicht waren Sigur Rós schon mal ein biss­chen bes­ser, hör­ba­rer aber waren sie bis­her nicht.

2. Cold­play – Viva La Vida
Was soll ich dem noch hin­zu­fü­gen? Außer viel­leicht, dass sich das Album auch nach wochen­lan­gem Hören nicht abnutzt, man­che Songs viel­mehr noch gewach­sen sind.

3. Jakob Dylan – See­ing Things
Als Jakob Dylan mit den Wall­flowers anfing, woll­te er alle Vor- und Nach­tei­le, die ihm durch sei­nen Vater ent­ste­hen könn­ten, ver­mei­den. Nach 16 Jah­ren fühl­te er sich reif für ein Album mit dem Namen vor­ne drauf. Dass Jakob Dylan ein groß­ar­ti­ger Song­wri­ter ist, dürf­te kaum jeman­den über­ra­schen, der sei­ne Kar­rie­re ver­folgt hat. Inter­es­san­ter ist da schon, dass man beim Feh­len der Rest-Wall­flowers merkt, dass die Band eben nicht nur von Dylan bestimmt wird, son­dern auch und beson­ders von Rami Jaf­fee – also kei­ne brei­ten Orgel­tep­pi­che, dafür eine völ­lig redu­zier­te Pro­duk­ti­on von Rick Rubin. Dadurch kom­men Dylans gewohnt bril­lan­te Tex­te über die ganz gro­ßen The­men Schuld, Glau­be, Lie­be und Hoff­nung noch ein biss­chen bes­ser zur Gel­tung. Nach dem Papa klingt das Album trotz­dem nur am Ran­de, eher nach Springsteen, Zevon und Cash. Ganz gro­ße Land­schafts­ma­le­rei!

4. Jason Mraz – We Dance. We Sing. We Ste­al Things.
Wer hät­te gedacht, dass der One-Radio­hit-Won­der Jason Mraz vier Jah­ren nach „The Reme­dy“ in Deutsch­land über­haupt noch mal ein Album ver­öf­fent­li­chen darf? Dass er mit „I’m Yours“ jetzt wie­der rauf und run­ter gespielt wird, kann eigent­lich nur dar­an lie­gen, dass es gera­de kei­ne Jack-John­son-Sin­gle gibt – oder dar­an, dass der Song, wie das Album auch, ein­fach wirk­lich gut. Ent­spannt, abwechs­lungs­reich und ein­gän­gig: nix für die Ewig­keit, aber für min­des­tens einen Som­mer (wenn es den denn gera­de gäbe).

5. My Mor­ning Jacket – Evil Urges
Sind My Mor­ning Jacket eigent­lich in Deutsch­land sehr bekannt? Ich kann sowas immer so schlecht abschät­zen. Die in sol­chen Belan­gen mit­tel-ver­trau­ens­wür­di­ge Wiki­pe­dia schlägt als Gen­res „Indie rock, Expe­ri­men­tal, Psy­che­de­lic rock, Sou­thern rock und Jam band“ vor, was zwei­fel­los alles zutrifft, jetzt aber weder Ihnen noch mir wei­ter­hilft. Soll­ten Sie im Laden oder im Inter­net rein­hö­ren wol­len (was Sie tun soll­ten), soll­ten Sie in jeden Song rein­hö­ren, denn ein­zel­ne Ein­drü­cke könn­ten Sie noch mehr ver­wir­ren als das Gesamt­werk: Da gibt es „Sec Wal­kin“, bei dem man ein paar Mal über­prü­fen muss, dass es sich wirk­lich um einen Song von 2008 han­delt und nicht um eine Soul­num­mer aus den 1960ern. Dafür klingt „Touch Me I’m Going To Scream Pt. 2“, als sei es direkt aus den Acht­zi­gern in die Boxen gehüpft. Ein biss­chen hete­ro­gen ist das Album also schon, mög­li­cher­wei­se auch anstren­gend (mei­ne neue Lieb­lings­vo­ka­bel zur Beschrei­bung von Musik), aber ins­ge­samt auch … äh: toll.

Songs
1. Cold­play – Viva La Vida

Four-To-The-Flo­or-Beats fin­de ich außer­halb ihres natür­li­chen Lebens­raums Kir­mes­tech­no fast immer gut und Stak­ka­to-Strei­cher, Glo­cken und Pau­ken haben auf mich genau die Aus­wir­kun­gen, die ihnen Edmund Bur­ke in sei­ner Ästhe­tik des Erha­be­nen zuschreibt.

Da habe ich nun wirk­lich nichts mehr hin­zu­zu­fü­gen.

2. Sigur Rós – Inní Mér Syn­gur Vitley­sin­gur
So klingt das Leben, wenn alles in Ord­nung ist. Wenn man frisch ver­liebt Hand in Hand über saf­ti­ge Wie­sen hüpft, der tief­stehen­den Son­ne ent­ge­gen, umringt von tan­zen­den Kanin­chen, Kat­zen­ba­bies und Elfen. Wenn das Feu­er­wehr­or­ches­ter von Dis­ney­land die Natio­nal­hym­ne von Hope­land into­niert. So klingt Per­fek­ti­on, wenn man es über­haupt nicht drauf anlegt.

3. Aimee Mann – Free­way
Irgend­wie hat es das Album mit dem schö­nen Titel „@#%&*! Smi­lers“ nicht ganz in den Top 5 geschafft (was ich mög­li­cher­wei­se augen­blick­lich bereut haben wer­de), dann ver­su­chen wir’s mit der Sin­gle eben wie­der gut zu machen: klingt wie Aimee Mann, fühlt sich an wie damals im Kino bei „Magno­lia“. Ob die­se Frau jemals einen schlech­ten Song geschrie­ben hat? Falls ja, habe ich ihn ver­passt.

4. The Sub­ways – Girls And Boys
Irgend­wie nied­lich sind sie ja schon, die Sub­ways. Wir­ken immer noch ein biss­chen, als wären sie von ihren Eltern beim Luft­gi­tar­re­spie­len vor dem Spie­gel auf­ge­schreckt wor­den. Aber, mei­ne Güte: rocken tun sie! „Girls And Boys“ ist der Fee­der-Song, der die­ses Jahr bei Fee­der irgend­wie nicht raus­kom­men woll­te.

5. Weezer – Pork And Beans
Zuge­ge­ben: es ist eher das Video als der Song, der Weezer noch ein­mal zurück auf mei­nen Bild­schirm gebracht hat. Aber die­se Anein­an­der­rei­hung von You­Tube-Legen­den ist so wun­der­bar ner­dy, dass sie das Lied gleich mit hebt. Ins Album habe ich mich dann nicht mehr getraut rein­zu­hö­ren.

EP
Tra­vis – J. Smith EP
Das also soll sie sein, die end­gül­ti­ge Rück­kehr Tra­vis‘ zum Rock. Der Titel­track ist andert­halb Minu­ten eine net­te Tra­vis-Mid­tem­po-Num­mer, ehe sich für kur­ze Zeit ein (rela­ti­ves) Rock-Gewit­ter ent­lädt. Ja, doch, das über­rascht nach all den Jah­ren doch ein biss­chen. „Get Up“ ist laut Cre­dits kein Cover von KT Tunstalls „Black Hor­se And The Cher­ry Tree“, klingt aber so. Tra­vis dür­fen das frei­lich, sie sind ja mit Frau Tunstall befreun­det. Als Raus­schmei­ßer auf die­ser klei­nen EP (frü­her hie­ßen Ton­trä­ger mit drei Tracks schlicht „Sin­gle“) gibt es die char­man­te Bal­la­de „Sarah“ mit ganz viel Kla­vier. Wie die­se Songs ein­zu­ord­nen sind, wird sich wohl erst nach Erschei­nen von „Ode To J. Smith“ zei­gen. Als Zwi­schen­durch­hap­pen sind sie aber durch­aus erfreu­lich – und gera­de mal 14 Mona­te nach „The Boy With No Name“ auch noch erstaun­lich früh.

[Lis­ten­pa­nik – Die Serie]

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Musik

Müssen alle mit

Wenn das Jahr so wei­ter geht, wird am Ende fast jeder mei­ner Lieb­lings­künst­ler ein neu­es Album ver­öf­fent­licht haben. Bereits erschie­nen sind ja schon die Alben von R.E.M., kett­car, Cold­play, Death Cab For Cutie, Sigur Rós und Niz­lo­pi, von Tra­vis gab es die (recht gelun­ge­ne) „J. Smith EP“, das Album dazu kommt im Herbst. Eben­falls bereits erschie­nen ist das Solo­de­büt von Jakob Dylan (The Wall­flowers).

Neue Alben ver­öf­fent­li­chen wer­den noch Ben Folds („Way To Nor­mal“, Sep­tem­ber – noch ohne deut­sches Label), Ste­reo­pho­nics (jetzt zu viert), Oasis („Dig Out Your Soul“, 6. Okto­ber), The Ver­ve („Forth“, 18. August), Star­sail­or („All The Plans“) und Tom­te (irgend­wann im Herbst).

Einen neu­en Song haben Bloc Par­ty ges­tern vor­ge­stellt. Er hört auf den Namen „Mer­cu­ry“ und klingt … etwas anstren­gend.

Das wird ganz schön hart für mög­li­che New­co­mer, sich bei mir über­haupt Gehör zu ver­schaf­fen.

Nach­trag, 23:55 Uhr: Ich hab Hotel Lights ver­ges­sen. Deren neu­es Album „Fire­cra­cker Peo­p­le“ erscheint im August in den USA.

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Rundfunk Fernsehen Musik

Nichts geht verloren

Zum drit­ten Mal in der Geschich­te der „Dai­ly Show“ gab es ges­tern einen Musik­gast: Cold­play, „the num­ber one in this coun­try and most likely every coun­try“.

Und wenn man Cold­play schon mal da hat, lässt man sie natür­lich gleich zwei Mal spie­len.

„42“:

„Lost“:

Das Gan­ze gibt mir übri­gens Gele­gen­heit, end­lich mal auf den „Full Epi­so­de Play­er“ hin­zu­wei­sen, den thedailyshow.com seit eini­gen Wochen anbie­tet. Wer braucht da noch Fern­se­hen? In Deutsch­land?

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Musik

Anschlussfehler

Travis - J. Smith EP (Albumcover)Ich ver­lie­re den Anschluss an mei­ne Lieb­lings­bands. Nicht nur, dass ich das neue Cold­play-Album schon vor zwei Wochen und damit eine Woche zu früh aus dem Plat­ten­la­den Elek­tro­groß­markt tra­gen woll­te (weil ich der Ankün­di­gung von Ste­fan Raab, das Album erschei­ne „die­se Woche“, Glau­ben geschenkt hat­te), ich hät­te auch fast eine wei­te­re wich­ti­ge Ankün­di­gung über­se­hen:

Tra­vis ver­öf­fent­li­chen am 30. Juni die „J. Smith EP“, den Vor­bo­ten zu ihrem neu­en Album „Ode To J Smith“, das auch schon im Herbst erschei­nen soll.

Fran Hea­ly, der beim Kon­zert im letz­ten Okto­ber gesagt hat­te, die Band wol­le jetzt ganz schnell ein neu­es Album auf­neh­men, hat damit Recht behal­ten.

Und die­se Ankün­di­gung klingt rich­tig toll:

The EP kicks off with J Smith, the title track from the forth­co­ming album Ode To J Smith, descri­bed by Fran as a 3 minu­te rock ope­ra, it enlists the talents of The Crouch End Fes­ti­val Cho­rus to add some epic sca­le to Travis’s rockiest outing sin­ce their debut EP All I Want To Do Is Rock. Also included are Get Up and Sarah, the lat­ter being unavailable else­whe­re.

Erschei­nen wird die EP übri­gens nur digi­tal und als limi­tier­tes Vinyl – auf Tra­vis‘ eige­nem Label Red Tele­pho­ne Box.

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Musik

Melodien für Melonen

In der aktu­el­len Musik­welt gibt es kaum ein wei­che­res Ziel als Cold­play. Okay: Kea­ne, Brit­ney Spears und Razor­light viel­leicht, aber bei denen (zumin­dest den bei­den letzt­ge­nann­ten) ist das ja auch berech­tigt. Die einen jam­mern, die Band sei ja „frü­her mal“ gut gewe­sen, die ande­ren regen sich dar­über auf, dass die Leu­te, die die Band „frü­her mal“ gut gefun­den hät­ten, die­se jetzt wie­der gut fän­den, wo das neue Album doch ganz klar schei­ße sei. Ihnen allen ist gemein, dass sie Cold­play vor­wer­fen, zu den zwei­ten U2 gewor­den zu sein – als wäre das schon das Schlimms­te, was einer Band pas­sie­ren kann, und nicht etwa die zwei­ten Sta­tus Quo, die zwei­ten Oce­an Colour Sce­ne oder die zwei­ten Razor­light zu sein. ((Chuck Klos­ter­man hat mal über die frü­hen Cold­play geschrie­ben, sie klän­gen wie ein mit­tel­mä­ßi­ge Kopie von Tra­vis, die wie­der­um wie eine mit­tel­mä­ßi­ge Kopie von Radio­head klän­gen. Wir sind nicht immer einer Mei­nung.))

Cold­play haben bis heu­te kein schlech­tes Album auf­ge­nom­men, dar­an ändert sich auch mit „Viva La Vida“ nichts. Zwar konn­ten sie nie mehr die durch­gän­gig hohe Qua­li­tät ihres Debüts errei­chen, dafür sind auf allen fol­gen­den Alben ein­zel­ne Songs drauf, die bes­ser sind als jeder des Debüts. ((Das hört sich nur kom­pli­ziert und wider­sprüch­lich an: Stel­len Sie sich das Debüt als durch­gän­gig 90% gut vor, wäh­rend Songs wie „The Sci­en­tist“, „In My Place“, „Fix You“ oder „Talk“ Wer­te von 93% bis 98% errei­chen, die durch 60%-Nummern wie „Speed Of Sound“ oder „God Put A Smi­le Upon Your Face“ wie­der aus­ge­gli­chen wer­den.)) Dass ihre Kon­zer­te von Fri­seu­sen und Medi­zin­stu­den­tin­nen besucht wer­den, kann man der Band auch nicht anlas­ten: als Oasis-Fan weiß man dar­über hin­aus um die mit­un­ter erschüt­tern­de Erkennt­nis, dass sehr merk­wür­di­ge Men­schen die glei­chen Bands ver­eh­ren kön­nen wie man selbst.

Zuge­ge­ben: Cold­play machen es einem nicht leicht. Nicht nur, dass sie seit Jah­ren die Welt ret­ten wol­len (s. U2), ihr neu­es Album heißt fast wie ein Ricky-Mar­tin-Song ((In Wahr­heit stammt der Titel von einem Gemäl­de von Fri­da Kahlo, das auch die humor­vol­le Über­schrift die­ses Blog-Ein­trags erklärt.)) und hat dar­über hin­aus ein völ­lig durch­ge­nu­del­tes Cover­bild: das 180 Jah­re alte „La Liber­té gui­dant le peu­ple“ von Eugè­ne Delacroix. Um Frank­reich geht’s in dem Album aber weni­ger, um Revo­lu­ti­on schon sehr viel mehr und letzt­lich auch um Roman­tik.

Aber reden wir über das ein­zi­ge, was zählt: die Musik. Mit dem instru­men­ta­len Ope­ner „Life In Tech­ni­co­lor“ haben Cold­play bei mir schon einen Bro­cken im Brett: es plu­rrt, zirpt und schep­pert, als hät­ten Angels & Air­wa­ves und Arca­de Fire einen gemein­sa­men Track von Jim­my Tam­bo­rel­lo remi­xen las­sen. Das muss an Bri­an Eno lie­gen, der das Album mit­pro­du­ziert hat. Für das gan­ze Album muss man Refe­ren­zen von Arca­de Fire über Death Cab For Cutie bis Pink Floyd, von Stars über Radio­head bis … äh: Tim­ba­land her­an­zie­hen, nach U2 klin­gen immer nur die hal­li­gen Gitar­ren. Nach Cold­play klingt dafür jeder Song, was wohl an der prä­gnan­ten Stim­me von Chris Mar­tin lie­gen dürf­te.

Melo­dien waren bei Cold­play schon immer nur in Aus­nah­me­fäl­len cat­chy ((Zum Bei­spiel, wenn sie von Kraft­werk über­nom­men waren.)), „Trou­ble“ kann man auch nach acht Jah­ren noch nicht aus dem Stand sin­gen. Inso­fern braucht das Album Zeit und mög­li­cher­wei­se auch grö­ße­re Gewit­ter oder Voll­mond­näch­te zur Unter­ma­lung. Die Song­struk­tu­ren sind kom­ple­xer gewor­den, mit­un­ter wer­den zwei Lie­der in einem Track ver­eint, was auch nur im Fall „Lovers In Japan/​Reign Of Love“ auf der offi­zi­el­len Track­list ver­merkt wird. „42“ besteht aus min­des­tens drei ver­schie­de­nen Tei­len und wirkt ein biss­chen, als hät­ten sich a‑ha „Para­no­id Android“ von Radio­head vor­ge­nom­men. ((Über­haupt a‑ha: So eini­ges auf „Viva La Vida“ erin­nert an die chro­nisch unter­schätz­te nor­we­gi­sche Band, zu deren Kon­zer­ten Fri­seu­sen und allen­falls ehe­ma­li­ge Medi­zin­stu­den­tin­nen gehen. Hören Sie sich deren letz­tes Album „Ana­lo­gue“ an – was Sie sowie­so tun soll­ten – und Sie wer­den ver­ste­hen, was ich mei­ne.))

Bei den ers­ten Hör­durch­gän­gen von „Viva La Vida“ hat­te ich das Gefühl, der Band gehe in der Mit­te die Luft aus: der Span­nungs­bo­gen fällt ab, das Gefühl, alles schon ein­mal gehört zu haben, nimmt zu. Aber dann grät­schen bei „Yes“ plötz­lich bal­ka­ni­sche Strei­cher ins Lied, ganz so, als habe man noch Chan­cen auf eine erfolg­rei­che Grand-Prix-Teil­nah­me wah­ren wol­len.

Spä­tes­tens beim Titel­track hat mich die Band dann aber wie­der: Four-To-The-Flo­or-Beats fin­de ich außer­halb ihres natür­li­chen Lebens­raums Kir­mes­tech­no fast immer gut und Stak­ka­to-Strei­cher, Glo­cken und Pau­ken haben auf mich genau die Aus­wir­kun­gen, die ihnen Edmund Bur­ke in sei­ner Ästhe­tik des Erha­be­nen zuschreibt. Für die Par­al­le­len, die die ame­ri­ka­ni­sche Band Cre­aky Boards zwi­schen „Viva La Vida“ und einem ihrer Songs erkannt haben will, bin ich hin­ge­gen taub. An „Vio­let Hill“, die Vor­ab­sin­gle, hat man sich inzwi­schen so gewöhnt, dass es nicht wei­ter stört, „Straw­ber­ry Hill“ lässt kurz vor Schluss schon mal die Füße sanft ent­schlum­mern, ehe „Death And All His Fri­ends“ und das ange­häng­te „The Esca­pist“ den Rest des Kör­pers ins Reich der Träu­me über­füh­ren.

„Viva La Vida“ ist ein gutes, wenn auch kein genia­les, Album und nach dem ufer­lo­sen Vor­gän­ger „X&Y“ mit 45 Minu­ten auch wie­der schön kom­pakt gera­ten. Ich kann mir vor­stel­len, dass man Cold­play wegen die­ses Albums has­sen kann ((Über die mit­un­ter recht gewag­ten Tex­te haben wir ja noch gar nicht gespro­chen.)), aber mir gefällt es zufäl­li­ger­wei­se. Und wenn Fri­seu­sen und Medi­zin­stu­den­tin­nen der­art anspruchs­vol­len Pop hören statt die neu­es­te DSDS-Grüt­ze, ist das doch auch schon mal was.

Coldplay - Viva La Vida (Albumcover)
Cold­play – Viva La Vida

VÖ: 13.06.2008
Label: Par­lo­pho­ne
Ver­trieb: EMI

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Musik Gesellschaft

Der Anfang vom endgültigen Ende

„Blunt­ly put, in the fewest of words:
Cunts are still run­ning the world“

(Jar­vis Cocker – Run­ning The World)

Auch schon ausgestorben: Dinosaurier

Vor­ges­tern ver­kün­de­te der ange­schla­ge­ne Musik­kon­zern EMI, er wer­de welt­weit zwi­schen 1500 und 2000 Stel­len strei­chen und damit wohl ein Drit­tel sei­ner Ange­stell­ten feu­ern. Der pri­va­te-equi­ty-Kon­zern Ter­ra Fir­ma, der das Tra­di­ti­ons­un­ter­neh­men im ver­gan­ge­nen Som­mer über­nom­men hat­te, will aus EMI bin­nen kur­zer Zeit ein pro­fi­ta­bles Unter­neh­men machen.

Das allein klingt schon mal nach einer ziem­lich däm­li­chen Idee, denn jedes Kind weiß, dass Plat­ten­fir­men so ziem­lich die schlech­tes­te Wahl sind, wenn man auf schnel­les Geld aus ist. Oder über­haupt auf Geld. Man könn­te sich genau­so gut in eine Fabrik für elek­tri­sche Schreib­ma­schi­nen oder in einen Zei­tungs­ver­lag ein­kau­fen.

Das Bei­spiel EMI zeigt was pas­siert, wenn glo­bal play­er nicht mehr von welt­frem­den Trot­teln, son­dern von geld­gei­len Voll­trot­teln geführt wer­den: Die Musi­ker, mei­nen lai­en­haf­ten Wirt­schafts­vor­stel­lun­gen zufol­ge nicht unbe­dingt der unwich­tigs­te Teil eines Musik­kon­zerns, waren näm­lich mit den Ansa­gen der neu­en Chefs (vie­le Krea­ti­ve reagie­ren bei­spiels­wei­se auf Zeit­druck all­er­gisch) gar nicht gut zu spre­chen und kün­dig­ten eine Art Ver­öf­fent­li­chungs­boy­kott an. Rob­bie Wil­liams, Cold­play und die wie­der­ver­ei­nig­ten The Ver­ve wol­len angeb­lich erst mal nichts mehr raus­brin­gen, mit Paul McCart­ney, Radio­head und jetzt wohl auch den Rol­ling Stones haben Künst­ler, die teils über meh­re­re Jahr­zehn­te Zug­pfer­de bei EMI waren, dem Kon­zern den Rücken gekehrt oder dies ange­kün­digt. Und egal, ob die Ver­trä­ger einen Musi­ker-Streik wirk­lich zulas­sen und ob aus den Res­ten der EMI wirk­lich ein pro­fi­ta­bler Kon­zern wer­den kann: Ich glau­be, wir erle­ben damit das letz­te Kapi­tel der Musik­in­dus­trie im alten Sin­ne und es wird ein Ende mit Schre­cken.

Es ist fast acht Jah­re her, dass Metal­li­ca-Drum­mer Lars Ulrich dem US-Senat vor­heul­te, dass die Musik sei­ner Band bei Naps­ter auf­ge­taucht sei. Die Poli­tik reagier­te auf die­ses völ­lig neu­ar­ti­ge Phä­no­men mit immer neu­en Geset­zen, die es nun auch in Deutsch­land wie­der ver­lo­cken­der erschei­nen las­sen, CDs direkt im Laden zu klau­en anstatt sie ille­gal her­un­ter­zu­la­den. Die Musik­kon­zer­ne reagier­ten unter ande­rem damit, dass sie ihren ver­blie­be­nen zah­len­den Kun­den High-Tech-Müll ver­kauf­ten, der auf vie­len Abspiel­ge­rä­ten nicht lief (beson­ders lus­tig beim Musik­kon­zern und Elek­tronik­her­stel­ler Sony) oder die Com­pu­ter-Sicher­heit des Käu­fers gefähr­de­ten. Spä­ter ver­such­ten sie, den Wert von Musik dadurch zu ver­mit­teln, dass sie ein­sa­me CDs ohne Book­let (BMG, inzwi­schen heim­lich, still und lei­se wie­der vom Markt ver­schwun­den) oder in bil­li­gen Papp­schu­bern (Uni­ver­sal) zu ver­meint­li­chen „Son­der­prei­sen“ auf den Markt war­fen.

Zuge­ge­ben: Auch ich habe kei­nen bril­lan­ten Plan, wie man auf die feh­len­de Bereit­schaft eines Teils (mög­li­cher­wei­se sogar tat­säch­lich eines Groß­teils) der Bevöl­ke­rung, für die stän­di­ge Ver­füg­bar­keit von Musik Geld zu zah­len, reagie­ren soll­te. Womög­lich wür­de ich nicht mit der Belei­di­gung und Schi­ka­nie­rung der Rest-Kund­schaft begin­nen. Aber ich bin auch nicht die Musik­in­dus­trie, ich muss gar kei­nen bril­lan­ten Plan haben.

Viel­leicht ist das Wort „Musik­in­dus­trie“ allei­ne (Prof. Die­ter Gor­ny, Vor­stands­vor­sit­zen­der der Deut­schen Pho­no-Aka­de­mie, spricht sogar von „Krea­tiv­wirt­schaft“) schon ein Irr­tum, ein schreck­li­ches Miss­ver­ständ­nis. Musik ist (wie Film, Lite­ra­tur, Thea­ter, bil­den­de Kunst) in ers­ter Linie Kunst und somit weder unter „Indus­trie“ noch unter „Wirt­schaft“ ein­zu­sor­tie­ren. Die Tat­sa­che, dass Groß­kon­zer­ne ein paar Jahr­zehn­te gut von der Ver­mark­tung die­ser Kunst leben konn­ten, ist his­to­risch betrach­tet eine Aus­nah­me, eine Art Ver­se­hen. Beet­ho­ven, van Gogh und Goe­the haben ihre Kunst nicht geschaf­fen, um damit irgend­wel­chen Unter­neh­mern zu Geld und Ruhm zu ver­hel­fen – im Fal­le von van Gogh hat es zu Leb­zei­ten nicht mal zu eige­nem Geld und Ruhm gereicht.

Natür­lich soll das im Umkehr­schluss nicht hei­ßen, dass alle Künst­ler hun­gern und ver­armt ster­ben sol­len. Selbst über die Fra­ge, ob ein Künst­ler wie Rob­bie Wil­liams einen 120-Mil­lio­nen-Euro-Ver­trag wert sein soll­te, lässt sich noch dis­ku­tie­ren – zumin­dest, wenn die Plat­ten­fir­ma durch die Ver­mark­tung von des­sen Musik ein Viel­fa­ches ein­nimmt. Ich glau­be aber, dass es eine irri­ge Idee ist, mit der Ver­mark­tung von Kunst auch noch jedes Jahr fet­te Ren­di­te erwirt­schaf­ten zu kön­nen. Thea­ter und Muse­en wer­den sub­ven­tio­niert, es gibt die Buch­preis­bin­dung und die Film­för­de­rung – was sagt uns das über die Wirt­schaft­lich­keit von Kul­tur, Stich­wort „Krea­tiv­wirt­schaft“?

Einer der Grund­sät­ze von Wirt­schaft ist die Sache mit Ange­bot und Nach­fra­ge. Was aber tun, wenn die Nach­fra­ge nach kos­ten­pflich­ti­ger Musik wirk­lich nach­lässt? Es wäre eine Mög­lich­keit, das Kon­zept „Songs gegen Koh­le“ zu beer­di­gen, aber das muss viel­leicht nicht mal sein. Eine neue Idee aber braucht es: Einer­seits wäre es wün­schens­wert, jun­gen Men­schen, die fünf Euro für einen Becher Kaf­fee mit Geschmack zah­len, klar zu machen, dass auch das Erdenken, Ein­spie­len, Pro­du­zie­ren und Ver­öf­fent­li­chen von Musik har­te Arbeit ist, ande­rer­seits erscheint es mir eini­ger­ma­ßen begreif­lich, dass kein nor­ma­ler Mensch 18 Euro für eine aktu­el­le CD zah­len will, wenn die­se vor ein paar Jah­ren noch 15 Euro gekos­tet hät­te. Ich mag CDs wirk­lich – ich mag es, das Book­let durch­zu­blät­tern und die Schei­be selbst in den Hän­den zu hal­ten -, aber die Dif­fe­renz von bis zu acht Euro zum lega­len Down­load lässt mich immer häu­fi­ger zum Down­load schwen­ken – zumal ich mir da die oft­mals erfolg­lo­se Suche bei „Saturn“ spa­ren und die Musik sofort hören kann.

Ich könn­te grund­sätz­lich wer­den, ein fehl­ge­lei­te­tes Wirt­schafts­sys­tem gei­ßeln und das Fass mit dem Grund­ein­kom­men auf­ma­chen. Das soll­te nicht aus den Augen gelas­sen wer­den, hilft aber im Moment auch nicht wei­ter. Im Moment droht 2000 Men­schen die Arbeits­lo­sig­keit, die selbst bei dem Ver­such, Künst­ler wie Lisa Bund oder Revol­ver­held an den Mann zu brin­gen, noch Enga­ge­ment zei­gen: die Ansprech­part­ner bei den Plat­ten­fir­men für Pres­se und Künst­ler, die schon in der Ver­gan­gen­heit so häu­fig wech­sel­ten wie sonst nur beim Speed Dating. Die ein­fa­chen Mit­ar­bei­ter, die bei Mee­tings auf Kaf­fee und Gebäck ver­zich­ten müs­sen, wäh­rend die Mana­ger in der Busi­ness Class um die Welt jet­ten und über­all zei­gen, wie wenig Ideen sie selbst noch haben. Und natür­lich geht es auch weni­ger um die Zukunft von Rob­bie Wil­liams und den Rol­ling Stones, als viel­mehr um die Chan­cen mög­li­cher Nach­wuchs­stars.

Dabei wird aber über­se­hen, dass der hoch­do­tier­te Major-Ver­trag, der lebens­lan­gen Reich­tum garan­tiert, längst schon Aus­nah­me statt Regel ist – vor allem aber ist er kein Muss mehr. Das Inter­net bie­tet so vie­le Mög­lich­kei­ten, Hörer (und damit poten­ti­el­le Käu­fer und Fans) zu fin­den, aber auch um die Ver­mark­tung selbst in die Hand zu neh­men. Zwar gehen Krea­ti­vi­tät und Mar­ke­ting- oder gar Finanz­ge­schick sel­ten Hand in Hand, aber das wird sich auch noch fin­den. Das nächs­te oder über­nächs­te „Inter­net­phä­no­men“ (und damit der Nach­fol­ger von den Arc­tic Mon­keys und Lily Allen) wird sei­ne Musik viel­leicht gar nicht mehr bei einer regu­lä­ren Plat­ten­fir­ma und auf CD her­aus­brin­gen.

Ich jeden­falls wür­de den Musi­kern, deren Werk ich schät­ze, mei­ne finan­zi­el­le Aner­ken­nung ger­ne direkt zukom­men las­sen. Ich war durch­aus noch bereit, mit dem Kauf einer Cold­play-CD zur Gegen­fi­nan­zie­rung klei­ne­rer Bands bei­zu­tra­gen. Aber ich habe wenig Bock, irgend­wel­chen geld­gei­len, men­schen- und kul­tur­ver­ach­ten­den hedge-fonds-Teil­ha­bern bei der Auf­bes­se­rung ihrer Ren­di­te zu hel­fen.

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Autumnsongs

Als ich heu­te Mor­gen erwach­te, war drau­ßen Herbst. „Nun ja“, dach­te ich, „das kann ja mal pas­sie­ren!“ Ich ver­warf mei­ne eigent­li­chen Blog­plä­ne für heu­te, warf iTu­nes an und mich nebst Buch aufs Bett. Dann war mir aber doch für einen Moment lang­wei­lig und des­halb stel­le ich jetzt hier exklu­siv die Top Twen­ty mei­ner liebs­ten Herbst-Alben vor:

20. Manic Street Pre­a­chers – This Is My Truth Tell Me Yours (VÖ: 25. August 1998)
Über­le­bens­gro­ßer Brit­pop des wali­si­schen Tri­os. Jeder Song eine Hym­ne, jedes Streich­in­stru­ment eine Umar­mung.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „The Ever­las­ting“

19. The Smas­hing Pump­kins – Ado­re (VÖ: 2. Juni 1998)
Die unend­li­che Trau­rig­keit der zum Trio geschrumpf­ten Pump­kins ging wei­ter. Bil­ly Cor­gan spielt mit Drum­com­pu­tern rum und ist doch redu­zier­ter denn je.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Blank Page“

18. Dan Bern – New Ame­ri­can Lan­guage (VÖ: 6. Mai 2002)
Ame­ri­ka­ni­scher Singer/​Songwriter, der das exak­te Mit­tel­ding zwi­schen Bob Dylan und Elvis Cos­tel­lo ist. Scha­de, dass das kei­ner kennt.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Albu­quer­que Lul­la­by“

17. Get Cape. Wear Cape. Fly – The Chro­nic­les Of A Bohe­mi­an Teen­ager (VÖ: 16. Febru­ar 2007)
Der Jun­ge mit der Gitar­re und dem Drum­com­pu­ter aus Groß­bri­tan­ni­en. Muss sich eigent­lich noch im kalen­da­ri­schen Herbst bewei­sen, wird das aber sicher schaf­fen.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Call Me Ishma­el“

16. Toploa­der – Onka’s Big Moka (VÖ: 14. August 2000)
Das One Hit Won­der mit dem Bubble­gum Radio­pop. Trotz­dem ist nicht nur das Album­co­ver wun­der­bar herbst­lich, son­dern auch die Musik.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Only For A While“

15. Embrace – If You’­ve Never Been (VÖ: 5. Sep­tem­ber 2001)
Die Brit­pop-Brü­der, die nicht Oasis sind, mit ihrem eigent­lich schwächs­ten Album. Trotz­dem ein ech­ter Herbst-Dau­er­bren­ner mit eini­gen gro­ßen Melo­dien.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Make It Last“

14. The Fray – How To Save A Life (VÖ: 27. Okto­ber 2006)
Col­lege­rock auf dem Kla­vier, gemacht von vier über­zeug­ten Chris­ten aus Den­ver. Man muss schon einen Soft Spot für eine gewis­se Men­ge Pathos haben, dann ist es aber groß­ar­tig.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Hea­ven For­bid“

13. Radio­head – Kid A (VÖ: 29. Sep­tem­ber 2000)
Das gro­ße, sper­ri­ge Meis­ter­werk der bes­ten Band unse­rer Zeit. Unbe­schreib­lich und unbe­schreib­lich gut.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „How To Dis­ap­pear Com­ple­te­ly“

12. The Finn Brot­hers – Ever­yo­ne Is Here (VÖ: 20. August 2004)
Neil und Tim Finn haben mit Split Enz und Crow­ded House bei­na­he im Allein­gang die Musik­ge­schich­te Neu­see­lands und Aus­tra­li­en geschrie­ben. Als Finn Brot­hers schrei­ben sie dar­an wei­ter.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Edi­ble Flowers“

11. Kash­mir – Ziti­li­tes (VÖ: 11. August 2003)
Die Wie­der­auf­nah­me von „Kid A“ mit ande­ren, däni­schen Mit­teln. Kash­mir machen alles rich­tig und sichern sich einen Platz in den Musi­kan­na­len, Kate­go­rie: „Stän­dig über­se­he­ne Genies“.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „The After­math“

10. Maxi­mi­li­an Hecker – Infi­ni­te Love Songs (VÖ: 28. Sep­tem­ber 2001)
Sie kön­nen Fal­sett­ge­sang und hoff­nungs­los roman­ti­sche Tex­te nicht aus­ste­hen? Dann wer­den Sie mit die­sem Album nicht glück­lich wer­den. Alle ande­ren schon.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „The Days Are Long And Fil­led With Pain“

09. The Car­di­gans – Long Gone Befo­re Day­light (VÖ: 24. März 2003)
Mit die­sem Folk-Album zeig­ten die Car­di­gans end­gül­tig allen, dass sie kein Bubble­gum Pop One Hit Won­der sind. Und wer vor­her noch nicht in Nina Pers­son ver­liebt war, war es danach.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „You’­re The Storm“

08. Death Cab For Cutie – Plans (VÖ: 29. August 2005)
Mit „O.C., Cali­for­nia“ und einem Major­la­bel im Rücken erober­ten DCFC end­lich die Welt im Sturm. Wäre aber auch zu scha­de gewe­sen, wenn man die­ses groß­ar­ti­ge Indiepop-Album über­se­hen hät­te.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Dif­fe­rent Names For The Same Thing“

07. Muff Pot­ter – Heu­te wird gewon­nen, bit­te (VÖ: 15. Sep­tem­ber 2003)
Nach Jah­ren des Übens und Fin­ger­wund­spie­lens an der Deutsch­punk-Front waren Muff Pot­ter bereit für ihr Meis­ter­werk. 14 Songs zwi­schen Bord­stein­kan­te und Mond, die alles um einen her­um ver­ges­sen machen.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Das Ern­te 23 Dank­fest“

06. The Pos­tal Ser­vice – Give Up (VÖ: 28. April 2003)
Death-Cab-Sän­ger Ben Gib­bard und Dntel-Mas­ter­mind Jim­my Tam­bo­rel­lo zei­gen auf zehn Songs, dass sich Elek­tro­nik und Folk­songs nicht aus­schlie­ßen müs­sen – und die Welt von Indi­edis­co-DJs und Sound­track-Kom­pi­lie­rern war hin­fort nicht mehr die Sel­be.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „The Dis­trict Sleeps Alo­ne Tonight“

05. Cold­play – Parach­u­tes (VÖ: 21. Juli 2000)
Bevor sie Fuß­ball­sta­di­en und Vor­abend­se­ri­en beschall­ten, waren Cold­play für einen Herbst die klei­nen ver­husch­ten Indien­erds, die einen über uner­füll­te Lie­ben und nass­kal­te Heim­we­ge vom Schul­sport hin­weg­trös­te­ten. We live in a beau­tiful world und everthing’s not lost.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „We Never Chan­ge“

04. Ben Folds – Rockin‘ The Sub­urbs (VÖ: 11. Sep­tem­ber 2001)
Das ers­te Solo­al­bum nach dem Ende von Ben Folds Five, erschie­nen an dem Tag, nach dem nichts mehr so war wie zuvor. Groß­ar­ti­ge Songs vol­ler Kla­vie­re und Melan­cho­lie – und vol­ler Witz und Iro­nie.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Car­ry­ing Cathy“

03. Star­sail­or – Love Is Here (VÖ: 19. Okto­ber 2001)
Sie soll­ten die nächs­ten Cold­play wer­den, wenn nicht auch noch Jeff und Tim Buck­ley und mög­li­cher­wei­se Nick Dra­ke – das konn­te ja kaum klap­pen. Star­sail­or lie­fer­ten trotz­dem ein unglaub­lich groß­ar­ti­ges Album ab – und lie­ßen Cold­play dann den Vor­tritt bei der Welt­kar­rie­re.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Fever“

02. R.E.M. – Auto­ma­tic For The Peo­p­le (VÖ: 1. Okto­ber 1992)
R.E.M. schaff­ten den end­gül­ti­gen Sprung vom Geheim­tipp zu Mega­stars – sonst änder­te sich nichts. Wer wis­sen will, wie sowas geht, soll­te das Album hören.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: Alle – ein­fach alle.

01. Tra­vis – The Man Who (VÖ: 28. Mai 1999)
Kein Wun­der, dass das Album in Deutsch­land erst im Herbst so rich­tig sei­ne Hörer fand: der Som­mer ’99 war ein­fach zu tro­cken für „Why Does It Always Rain On Me?“. Wer die Bedeu­tung des Wor­tes „Melan­cho­lie“ erfah­ren will, ist hier rich­tig. Alle ande­ren auch.
Defi­ni­ti­ver Herbst­song: „Turn“

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Unsichtbar und namenlos: Die neue Travis im Detail

Am ver­gan­ge­nen Frei­tag erschien „The Boy With No Name“, das mitt­ler­wei­le fünf­te Album von Tra­vis. Mit dem zeit­gleich erschie­nen neu­en Album der Manic Street Pre­a­chers und den bereits ange­kün­dig­ten neu­en Alben von R.E.M., den Ste­reo­pho­nics, Ash und Slut kön­nen wir also in die­sem Jahr die Wie­der­kehr des Musik­jah­res 2001 fei­ern – nur, dass zumin­dest Tra­vis, Manics, Pho­nics und Ash damals noch irgend­wie mehr Auf­merk­sam­keit auf sich gezo­gen haben.

Auch für Tra­vis gibt es die Track-by-track-Ana­ly­se – wie immer total sub­jek­tiv und vol­ler Quer­ver­wei­se:

3 Times And You Lose
So ruhig hat noch kein Tra­vis-Album begon­nen: Erst nach 43 Sekun­den set­zen Bass und Schlag­zeug ein, um Fran Hea­ly, sei­ne Akus­tik­gi­tar­re und den Chor­ge­sang zu beglei­ten. Von da an ist es ein som­mer­lich-fluf­fi­ger Pop­song, der auch gut auf „The Invi­si­ble Band“ gepasst hät­te – und damit die Marsch­rich­tung vor­gibt.

Sel­fi­sh Jean
„Lust For Life“? „Life­styl­es Of The Rich And Famous“? Das dürf­te die … nun ja: schnells­te Tra­vis-Num­mer aller Zei­ten sein, man ist fast ver­sucht, etwas wie „nach vor­ne gehen“ zu schrei­ben. Dar­auf soll­te man sogar einen gepfleg­ten Rock’n’Roll tan­zen dür­fen – wenn man’s denn kann. Eine der Über­ra­schun­gen des Albums – und des­halb auch einer der bes­ten Songs. Dass hier Tei­le der Uralt-B-Sei­te „Stan­ding On My Own“ recy­celt wer­den, fällt weder auf, noch wäre es schlimm.

Clo­ser
Die bereits andern­orts gelob­te ers­te Sin­gle. Sie braucht ihre zwei, drei Durch­läu­fe, dann ist es sofort einer der Lieb­lings­songs. Der Echo-Gesang der zwei­ten Stro­phe ist ein Tra­vis-typi­scher Gän­se­haut­mo­ment, der auf­zeigt, war­um man die­se Band noch mal so ger­ne hat.

Big Chair
Was ist das denn, eine Funk-Bal­la­de oder doch eher der Ver­such, Drum’n’­Bass auf ech­ten Instru­men­ten zu spie­len? Was auch immer Tra­vis sich dabei gedacht haben: Es ist ein wun­der­schö­nes Lied dar­aus gewor­den, schon wie­der bei­na­he tanz­bar, aber dafür viel zu laid back. Mit dem schöns­ten Kla­vier­ge­klim­per seit Rob­bie Wil­liams‘ „Feel“. Und dass das Lied auch von Kea­ne stam­men könn­te, ist für kei­ne der bei­den Bands belei­di­gend gemeint. Text­lich ver­mut­lich die Ant­wort auf Her­bert Grö­ne­mey­ers „Stuhl im Orbit“.

Batt­le­ships
„Be My Baby“ haben Tra­vis schon mal als B‑Seite auf­ge­nom­men, dies­mal bor­gen sie sich des­halb nur das Intro. „When will you car­ry me home /​ Like the woun­ded star in the movie“ beginnt das Lied, das im Refrain eine zwar etwas abge­grif­fe­ne, aber nicht min­der anrüh­ren­de Kriegs­me­ta­pher für das Schei­tern einer Bezie­hung durch­de­kli­niert: „We’­re batt­le­ships, driftin‘ in an alley river /​ Takin‘ hits, sin­king it’s now or never /​ Over­board, drow­nin‘ in a sea of love and hate but it’s too late /​ Batt­le­ship down“. Herz­zer­rei­ßend, groß­ar­tig, „The Man Who“-Niveau!

Eyes Wide Open
Huch: Eine rot­zi­ge (aber lei­se) E‑Gitarre und eine Four-To-The-Flo­or-Bass­drum in der Stro­phe, ein schwung­vol­ler Beat im Refrain. Das hät­te (auch in text­li­cher Hin­sicht) auch bes­tens aufs letz­te Oasis-Album gepasst. Außer­ge­wöhn­lich, aber nicht unbe­dingt der Über­song.

My Eyes
Musi­ka­lisch und the­ma­tisch die Fort­set­zung von „Flowers In The Win­dow“. Damals ging’s ums Kin­der­krie­gen, jetzt ist der Nach­wuchs da: „You’­ve got my eyes /​ We can see, what you’ll be, you can’t dis­gu­i­se /​ And eit­her way, I will pray, you will be wise /​ Pret­ty soon you will see the tears in my eyes“. Das ist dann wohl das Lied für Clay, Fran Hea­lys Sohn, des­sen Wochen der Namen­lo­sig­keit dem Album sei­nen Titel gaben. Die schöns­te Vater-Sohn-Num­mer seit Ben Folds‘ „Still Fight­ing It“ – und auch fast so gut.

One Night
Jedes Tra­vis-Album braucht offen­bar ein „Luv“ oder „After­glow“, an das man sich schon beim nächs­ten Track kaum noch erin­nert. Und mit Zei­len wie „One night can chan­ge ever­y­thing in your life /​ One night can make ever­y­thing alright“ gewinnt man auch kei­nen Blu­men­topf. Wie die vor­ge­nann­ten Songs aber auch, so fügt sich die­ser Titel gut in den Album­kon­text ein und eig­net sich so gut als Fül­ler.

Under The Moon­light
Tra­vis, die unge­krön­ten Köni­ge der fan­tas­ti­schen B‑Sei­ten-Cover­ver­sio­nen, packen ein frem­des Lied auf eines ihrer Alben! Wobei, was heißt hier „fremd“? Geschrie­ben wur­de „Under The Moon­light“ von Susie Hug, einer engen Freun­din der Band, deren letz­tes Album nicht nur von Fran Hea­ly pro­du­ziert wur­de, son­dern bei dem auch noch drei Vier­tel der Band (Bas­sist Dou­gie Pay­ne muss­te grad umzie­hen) als Back­ing Band zu hören sind. Selt­sam (aber kein biss­chen schlimm) ist nur, dass es sich bei der Dame, die im Hin­ter­grund singt, nicht um Susie Hug, son­dern um KT Tunstall han­delt.

Out In Space
Das obli­ga­to­ri­sche Lied ohne Schlag­zeug. Klingt wie ein Über­bleib­sel der „Invi­si­ble Band“-Sessions und hat die glei­che atmo­sphä­ri­sche Dich­te. Seit der Regen vor mei­nem Fens­ter die Hit­ze abge­löst hat, passt die­ser Song auch.

Col­der
Das Schlag­zeug rum­pelt, Andy Dun­lops Gitar­ren sir­ren und Fran Hea­ly singt „I’m in love with ever­y­thing“ – klingt nach guter Lau­ne? Quark: „The sky is fal­ling down /​ And there’s an angel on the ground /​ It’s get­ting col­der“. Fünf Pfund, dass es hier um einen ver­flucht kal­ten Win­ter geht. Im Refrain kommt erst­ma­lig ein Voco­der zum (spar­sa­men, aber prä­gnan­ten) Ein­satz, in der Midd­le 8 erwar­ten und Har­fen und Mund­har­mo­ni­ka. Der bes­te Tra­vis-Song seit vie­len Jah­ren, eine Kopf­nick- und Arme­aus­brei­te-Hym­ne für die pathe­ti­schen Momen­te im Leben.

New Ams­ter­dam
Oh, ein Lied über New York, hat­ten wir ja noch nie. Der lyrisch schwächs­te Tra­vis-Song seit „She’s So Stran­ge“. Dass New York einen sprach­los macht, ist klar. Dass dabei aber trotz­dem noch gute Song­tex­te ent­ste­hen kön­nen, haben zuletzt Tom­te bewie­sen. Musi­ka­lisch trotz­dem schön.

Sai­ling Away
Drei von jetzt fünf Tra­vis-Alben haben Hid­den Tracks, die­se Quo­te schlägt nur noch Rob­bie Wil­liams. Hier ist der aktu­el­le: Ein beschwing­ter Schun­k­ler, der vor allem mit dem (doch wohl hof­fent­lich beab­sich­tig­ten) The-Clash-Zitat „I live by the river“ punk­ten kann. Ein hüb­scher Abschluss der Plat­te und tau­send- ach: mil­li­ar­den­fach bes­ser als der letz­te Schot­te, der übers Segeln sang. Wie, das ist ja auch über­haupt nicht schwer? Na gut: stimmt.

Fazit
Okay, ich bin ehr­lich: Ich bin über­zeug­ter Tra­vis-Fan. Gera­de des­halb war ich aber irgend­wie immer unzu­frie­den mit „12 Memo­ries“, weil es mir irgend­wie ein biss­chen ver­krampft, unrund und über­am­bi­tio­niert erschien. „The Boy With No Name“ schal­tet da zwei Gän­ge zurück und ist des­halb eher als direk­ter Nach­fol­ger von „The Invi­si­ble Band“ anzu­se­hen – was sich übri­gens auch in den son­nen­durch­flu­te­ten Ame­ri­ka-Fotos der jewei­li­gen Book­lets wie­der­spie­gelt. Trotz­dem gibt es auch ein paar gro­ße „The Man Who“-Momen­te.
Es ist das ers­te Tra­vis-Album, dass nicht nur Fran-Hea­ly-Songs beinhal­tet: Neben der exter­nen Zulie­fe­rung „Under The Moon­light“ stam­men „3 Times And You Lose“ und „Big Chair“ (Andy Dun­lop) und „Col­der“ (Dou­gie Pay­ne) zumin­dest teil­wei­se aus der Feder ande­rer Band­mit­glie­der, die ihre Song­wri­ter­qua­li­tä­ten schon auf diver­sen B‑Seiten bewei­sen durf­ten. (Ich glau­be, ich soll­te mal drin­gend eine Lis­te mit den bes­ten Tra­vis-B-Sei­ten zusam­men­stel­len – das dürf­te deren zweit­bes­tes Album wer­den.)
Die Band tat ver­mut­lich sehr gut dar­an, den Breit­wand-Tüft­ler Bri­an Eno nach ein paar Tagen in die Wüs­te zu schi­cken und das Album statt­des­sen mit Ste­ve Orchard und ihrem lang­jäh­ri­gen Beglei­ter Nigel God­rich zu pro­du­zie­ren.
Zu der von Jan Wig­ger auf­ge­stell­ten Behaup­tung, Tra­vis-Fans sei­en „auf­fal­lend genüg­sam“ und erwar­ten eh immer nur das Glei­che, kann man ste­hen, wie man will, die­ses Album lie­fert inner­halb des Tra­vis-Kos­mos doch die ein oder ande­re Neue­rung und kann viel­leicht im Kreis der Keane‑, Snow-Pat­rol- und Cold­play-Anhän­ger sogar noch den einen oder ande­ren neu­en Fan abgrei­fen.
Die letz­te Fra­ge, die sich jetzt noch stellt: Ist der im Book­let über­schwäng­lich mit Dank bedach­te „Wolf­gang Doeb­ling“ wirk­lich Wolf­gang Doebe­l­ing vom Rol­ling Stone?

Travis - The Boy With No Name
Tra­vis – The Boy With No Name

VÖ: 04.05.2007
Label: Inde­pen­di­en­te
Ver­trieb: SonyBMG