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Listenpanik 06/08

Okay, nach dem Zusammenbruch beim letzten Versuch, eine Monatsliste zu erstellen, habe ich mich wieder gefangen. Hier ist das Beste aus dem Monat Juni – beziehungsweise das, was ich in dieser Millisekunde dafür gehalten haben könnte. Und abgesehen von dem, was ich bisher schlichtweg vergessen oder übersehen habe.

Alben
1. Sigur Rós – Med Sud I Eyrum Vid Spilum Endalaust
Mit einem Dröhnen in ihren Ohren wollen sie also endlos spielen, wenn man den Übersetzungsangeboten für Nicht-Isländer glauben darf. Die Isländer von Sigur Rós, deren Alben gerne in der Nähe der Adjektive “sphärisch” und “entrückt” besprochen werden, klingen auch auf ihrem fünften Album so unvergleichlich wie zuvor – nur die mitunter tonnenschwere Melancholie ist an etlichen Stellen einer federleichten Lebensfreude gewichen. Uptempo-Nummern eröffnen das Album und ehe man sich’s versieht, ist man auf der Suche nach leicht nerdigen Ringelpulliträgern, die mitschunkeln wollen. Vielleicht waren Sigur Rós schon mal ein bisschen besser, hörbarer aber waren sie bisher nicht.

2. Coldplay – Viva La Vida
Was soll ich dem noch hinzufügen? Außer vielleicht, dass sich das Album auch nach wochenlangem Hören nicht abnutzt, manche Songs vielmehr noch gewachsen sind.

3. Jakob Dylan – Seeing Things
Als Jakob Dylan mit den Wallflowers anfing, wollte er alle Vor- und Nachteile, die ihm durch seinen Vater entstehen könnten, vermeiden. Nach 16 Jahren fühlte er sich reif für ein Album mit dem Namen vorne drauf. Dass Jakob Dylan ein großartiger Songwriter ist, dürfte kaum jemanden überraschen, der seine Karriere verfolgt hat. Interessanter ist da schon, dass man beim Fehlen der Rest-Wallflowers merkt, dass die Band eben nicht nur von Dylan bestimmt wird, sondern auch und besonders von Rami Jaffee – also keine breiten Orgelteppiche, dafür eine völlig reduzierte Produktion von Rick Rubin. Dadurch kommen Dylans gewohnt brillante Texte über die ganz großen Themen Schuld, Glaube, Liebe und Hoffnung noch ein bisschen besser zur Geltung. Nach dem Papa klingt das Album trotzdem nur am Rande, eher nach Springsteen, Zevon und Cash. Ganz große Landschaftsmalerei!

4. Jason Mraz – We Dance. We Sing. We Steal Things.
Wer hätte gedacht, dass der One-Radiohit-Wonder Jason Mraz vier Jahren nach “The Remedy” in Deutschland überhaupt noch mal ein Album veröffentlichen darf? Dass er mit “I’m Yours” jetzt wieder rauf und runter gespielt wird, kann eigentlich nur daran liegen, dass es gerade keine Jack-Johnson-Single gibt – oder daran, dass der Song, wie das Album auch, einfach wirklich gut. Entspannt, abwechslungsreich und eingängig: nix für die Ewigkeit, aber für mindestens einen Sommer (wenn es den denn gerade gäbe).

5. My Morning Jacket – Evil Urges
Sind My Morning Jacket eigentlich in Deutschland sehr bekannt? Ich kann sowas immer so schlecht abschätzen. Die in solchen Belangen mittel-vertrauenswürdige Wikipedia schlägt als Genres “Indie rock, Experimental, Psychedelic rock, Southern rock und Jam band” vor, was zweifellos alles zutrifft, jetzt aber weder Ihnen noch mir weiterhilft. Sollten Sie im Laden oder im Internet reinhören wollen (was Sie tun sollten), sollten Sie in jeden Song reinhören, denn einzelne Eindrücke könnten Sie noch mehr verwirren als das Gesamtwerk: Da gibt es “Sec Walkin”, bei dem man ein paar Mal überprüfen muss, dass es sich wirklich um einen Song von 2008 handelt und nicht um eine Soulnummer aus den 1960ern. Dafür klingt “Touch Me I’m Going To Scream Pt. 2”, als sei es direkt aus den Achtzigern in die Boxen gehüpft. Ein bisschen heterogen ist das Album also schon, möglicherweise auch anstrengend (meine neue Lieblingsvokabel zur Beschreibung von Musik), aber insgesamt auch … äh: toll.

Songs
1. Coldplay – Viva La Vida

Four-To-The-Floor-Beats finde ich außerhalb ihres natürlichen Lebensraums Kirmestechno fast immer gut und Stakkato-Streicher, Glocken und Pauken haben auf mich genau die Auswirkungen, die ihnen Edmund Burke in seiner Ästhetik des Erhabenen zuschreibt.

Da habe ich nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen.

2. Sigur Rós – Inní Mér Syngur Vitleysingur
So klingt das Leben, wenn alles in Ordnung ist. Wenn man frisch verliebt Hand in Hand über saftige Wiesen hüpft, der tiefstehenden Sonne entgegen, umringt von tanzenden Kaninchen, Katzenbabies und Elfen. Wenn das Feuerwehrorchester von Disneyland die Nationalhymne von Hopeland intoniert. So klingt Perfektion, wenn man es überhaupt nicht drauf anlegt.

3. Aimee Mann – Freeway
Irgendwie hat es das Album mit dem schönen Titel “@#%&*! Smilers” nicht ganz in den Top 5 geschafft (was ich möglicherweise augenblicklich bereut haben werde), dann versuchen wir’s mit der Single eben wieder gut zu machen: klingt wie Aimee Mann, fühlt sich an wie damals im Kino bei “Magnolia”. Ob diese Frau jemals einen schlechten Song geschrieben hat? Falls ja, habe ich ihn verpasst.

4. The Subways – Girls And Boys
Irgendwie niedlich sind sie ja schon, die Subways. Wirken immer noch ein bisschen, als wären sie von ihren Eltern beim Luftgitarrespielen vor dem Spiegel aufgeschreckt worden. Aber, meine Güte: rocken tun sie! “Girls And Boys” ist der Feeder-Song, der dieses Jahr bei Feeder irgendwie nicht rauskommen wollte.

5. Weezer – Pork And Beans
Zugegeben: es ist eher das Video als der Song, der Weezer noch einmal zurück auf meinen Bildschirm gebracht hat. Aber diese Aneinanderreihung von YouTube-Legenden ist so wunderbar nerdy, dass sie das Lied gleich mit hebt. Ins Album habe ich mich dann nicht mehr getraut reinzuhören.

EP
Travis – J. Smith EP
Das also soll sie sein, die endgültige Rückkehr Travis’ zum Rock. Der Titeltrack ist anderthalb Minuten eine nette Travis-Midtempo-Nummer, ehe sich für kurze Zeit ein (relatives) Rock-Gewitter entlädt. Ja, doch, das überrascht nach all den Jahren doch ein bisschen. “Get Up” ist laut Credits kein Cover von KT Tunstalls “Black Horse And The Cherry Tree”, klingt aber so. Travis dürfen das freilich, sie sind ja mit Frau Tunstall befreundet. Als Rausschmeißer auf dieser kleinen EP (früher hießen Tonträger mit drei Tracks schlicht “Single”) gibt es die charmante Ballade “Sarah” mit ganz viel Klavier. Wie diese Songs einzuordnen sind, wird sich wohl erst nach Erscheinen von “Ode To J. Smith” zeigen. Als Zwischendurchhappen sind sie aber durchaus erfreulich – und gerade mal 14 Monate nach “The Boy With No Name” auch noch erstaunlich früh.

[Listenpanik – Die Serie]

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Müssen alle mit

Wenn das Jahr so weiter geht, wird am Ende fast jeder meiner Lieblingskünstler ein neues Album veröffentlicht haben. Bereits erschienen sind ja schon die Alben von R.E.M., kettcar, Coldplay, Death Cab For Cutie, Sigur Rós und Nizlopi, von Travis gab es die (recht gelungene) “J. Smith EP”, das Album dazu kommt im Herbst. Ebenfalls bereits erschienen ist das Solodebüt von Jakob Dylan (The Wallflowers).

Neue Alben veröffentlichen werden noch Ben Folds (“Way To Normal”, September – noch ohne deutsches Label), Stereophonics (jetzt zu viert), Oasis (“Dig Out Your Soul”, 6. Oktober), The Verve (“Forth”, 18. August), Starsailor (“All The Plans”) und Tomte (irgendwann im Herbst).

Einen neuen Song haben Bloc Party gestern vorgestellt. Er hört auf den Namen “Mercury” und klingt … etwas anstrengend.

Das wird ganz schön hart für mögliche Newcomer, sich bei mir überhaupt Gehör zu verschaffen.

Nachtrag, 23:55 Uhr: Ich hab Hotel Lights vergessen. Deren neues Album “Firecracker People” erscheint im August in den USA.

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Nichts geht verloren

Zum dritten Mal in der Geschichte der “Daily Show” gab es gestern einen Musikgast: Coldplay, “the number one in this country and most likely every country”.

Und wenn man Coldplay schon mal da hat, lässt man sie natürlich gleich zwei Mal spielen.

“42”:

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“Lost”:

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Das Ganze gibt mir übrigens Gelegenheit, endlich mal auf den “Full Episode Player” hinzuweisen, den thedailyshow.com seit einigen Wochen anbietet. Wer braucht da noch Fernsehen? In Deutschland?

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Anschlussfehler

Travis - J. Smith EP (Albumcover)Ich verliere den Anschluss an meine Lieblingsbands. Nicht nur, dass ich das neue Coldplay-Album schon vor zwei Wochen und damit eine Woche zu früh aus dem Plattenladen Elektrogroßmarkt tragen wollte (weil ich der Ankündigung von Stefan Raab, das Album erscheine “diese Woche”, Glauben geschenkt hatte), ich hätte auch fast eine weitere wichtige Ankündigung übersehen:

Travis veröffentlichen am 30. Juni die “J. Smith EP”, den Vorboten zu ihrem neuen Album “Ode To J Smith”, das auch schon im Herbst erscheinen soll.

Fran Healy, der beim Konzert im letzten Oktober gesagt hatte, die Band wolle jetzt ganz schnell ein neues Album aufnehmen, hat damit Recht behalten.

Und diese Ankündigung klingt richtig toll:

The EP kicks off with J Smith, the title track from the forthcoming album Ode To J Smith, described by Fran as a 3 minute rock opera, it enlists the talents of The Crouch End Festival Chorus to add some epic scale to Travis’s rockiest outing since their debut EP All I Want To Do Is Rock. Also included are Get Up and Sarah, the latter being unavailable elsewhere.

Erscheinen wird die EP übrigens nur digital und als limitiertes Vinyl – auf Travis’ eigenem Label Red Telephone Box.

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Musik

Melodien für Melonen

In der aktuellen Musikwelt gibt es kaum ein weicheres Ziel als Coldplay. Okay: Keane, Britney Spears und Razorlight vielleicht, aber bei denen (zumindest den beiden letztgenannten) ist das ja auch berechtigt. Die einen jammern, die Band sei ja “früher mal” gut gewesen, die anderen regen sich darüber auf, dass die Leute, die die Band “früher mal” gut gefunden hätten, diese jetzt wieder gut fänden, wo das neue Album doch ganz klar scheiße sei. Ihnen allen ist gemein, dass sie Coldplay vorwerfen, zu den zweiten U2 geworden zu sein – als wäre das schon das Schlimmste, was einer Band passieren kann, und nicht etwa die zweiten Status Quo, die zweiten Ocean Colour Scene oder die zweiten Razorlight zu sein. ((Chuck Klosterman hat mal über die frühen Coldplay geschrieben, sie klängen wie ein mittelmäßige Kopie von Travis, die wiederum wie eine mittelmäßige Kopie von Radiohead klängen. Wir sind nicht immer einer Meinung.))

Coldplay haben bis heute kein schlechtes Album aufgenommen, daran ändert sich auch mit “Viva La Vida” nichts. Zwar konnten sie nie mehr die durchgängig hohe Qualität ihres Debüts erreichen, dafür sind auf allen folgenden Alben einzelne Songs drauf, die besser sind als jeder des Debüts. ((Das hört sich nur kompliziert und widersprüchlich an: Stellen Sie sich das Debüt als durchgängig 90% gut vor, während Songs wie “The Scientist”, “In My Place”, “Fix You” oder “Talk” Werte von 93% bis 98% erreichen, die durch 60%-Nummern wie “Speed Of Sound” oder “God Put A Smile Upon Your Face” wieder ausgeglichen werden.)) Dass ihre Konzerte von Friseusen und Medizinstudentinnen besucht werden, kann man der Band auch nicht anlasten: als Oasis-Fan weiß man darüber hinaus um die mitunter erschütternde Erkenntnis, dass sehr merkwürdige Menschen die gleichen Bands verehren können wie man selbst.

Zugegeben: Coldplay machen es einem nicht leicht. Nicht nur, dass sie seit Jahren die Welt retten wollen (s. U2), ihr neues Album heißt fast wie ein Ricky-Martin-Song ((In Wahrheit stammt der Titel von einem Gemälde von Frida Kahlo, das auch die humorvolle Überschrift dieses Blog-Eintrags erklärt.)) und hat darüber hinaus ein völlig durchgenudeltes Coverbild: das 180 Jahre alte “La Liberté guidant le peuple” von Eugène Delacroix. Um Frankreich geht’s in dem Album aber weniger, um Revolution schon sehr viel mehr und letztlich auch um Romantik.

Aber reden wir über das einzige, was zählt: die Musik. Mit dem instrumentalen Opener “Life In Technicolor” haben Coldplay bei mir schon einen Brocken im Brett: es plurrt, zirpt und scheppert, als hätten Angels & Airwaves und Arcade Fire einen gemeinsamen Track von Jimmy Tamborello remixen lassen. Das muss an Brian Eno liegen, der das Album mitproduziert hat. Für das ganze Album muss man Referenzen von Arcade Fire über Death Cab For Cutie bis Pink Floyd, von Stars über Radiohead bis … äh: Timbaland heranziehen, nach U2 klingen immer nur die halligen Gitarren. Nach Coldplay klingt dafür jeder Song, was wohl an der prägnanten Stimme von Chris Martin liegen dürfte.

Melodien waren bei Coldplay schon immer nur in Ausnahmefällen catchy ((Zum Beispiel, wenn sie von Kraftwerk übernommen waren.)), “Trouble” kann man auch nach acht Jahren noch nicht aus dem Stand singen. Insofern braucht das Album Zeit und möglicherweise auch größere Gewitter oder Vollmondnächte zur Untermalung. Die Songstrukturen sind komplexer geworden, mitunter werden zwei Lieder in einem Track vereint, was auch nur im Fall “Lovers In Japan/Reign Of Love” auf der offiziellen Tracklist vermerkt wird. “42” besteht aus mindestens drei verschiedenen Teilen und wirkt ein bisschen, als hätten sich a-ha “Paranoid Android” von Radiohead vorgenommen. ((Überhaupt a-ha: So einiges auf “Viva La Vida” erinnert an die chronisch unterschätzte norwegische Band, zu deren Konzerten Friseusen und allenfalls ehemalige Medizinstudentinnen gehen. Hören Sie sich deren letztes Album “Analogue” an – was Sie sowieso tun sollten – und Sie werden verstehen, was ich meine.))

Bei den ersten Hördurchgängen von “Viva La Vida” hatte ich das Gefühl, der Band gehe in der Mitte die Luft aus: der Spannungsbogen fällt ab, das Gefühl, alles schon einmal gehört zu haben, nimmt zu. Aber dann grätschen bei “Yes” plötzlich balkanische Streicher ins Lied, ganz so, als habe man noch Chancen auf eine erfolgreiche Grand-Prix-Teilnahme wahren wollen.

Spätestens beim Titeltrack hat mich die Band dann aber wieder: Four-To-The-Floor-Beats finde ich außerhalb ihres natürlichen Lebensraums Kirmestechno fast immer gut und Stakkato-Streicher, Glocken und Pauken haben auf mich genau die Auswirkungen, die ihnen Edmund Burke in seiner Ästhetik des Erhabenen zuschreibt. Für die Parallelen, die die amerikanische Band Creaky Boards zwischen “Viva La Vida” und einem ihrer Songs erkannt haben will, bin ich hingegen taub. An “Violet Hill”, die Vorabsingle, hat man sich inzwischen so gewöhnt, dass es nicht weiter stört, “Strawberry Hill” lässt kurz vor Schluss schon mal die Füße sanft entschlummern, ehe “Death And All His Friends” und das angehängte “The Escapist” den Rest des Körpers ins Reich der Träume überführen.

“Viva La Vida” ist ein gutes, wenn auch kein geniales, Album und nach dem uferlosen Vorgänger “X&Y” mit 45 Minuten auch wieder schön kompakt geraten. Ich kann mir vorstellen, dass man Coldplay wegen dieses Albums hassen kann ((Über die mitunter recht gewagten Texte haben wir ja noch gar nicht gesprochen.)), aber mir gefällt es zufälligerweise. Und wenn Friseusen und Medizinstudentinnen derart anspruchsvollen Pop hören statt die neueste DSDS-Grütze, ist das doch auch schon mal was.

Coldplay - Viva La Vida (Albumcover)
Coldplay – Viva La Vida

VÖ: 13.06.2008
Label: Parlophone
Vertrieb: EMI

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Musik Gesellschaft

Der Anfang vom endgültigen Ende

“Bluntly put, in the fewest of words:
Cunts are still running the world”

(Jarvis Cocker – Running The World)

Auch schon ausgestorben: Dinosaurier

Vorgestern verkündete der angeschlagene Musikkonzern EMI, er werde weltweit zwischen 1500 und 2000 Stellen streichen und damit wohl ein Drittel seiner Angestellten feuern. Der privateequity-Konzern Terra Firma, der das Traditionsunternehmen im vergangenen Sommer übernommen hatte, will aus EMI binnen kurzer Zeit ein profitables Unternehmen machen.

Das allein klingt schon mal nach einer ziemlich dämlichen Idee, denn jedes Kind weiß, dass Plattenfirmen so ziemlich die schlechteste Wahl sind, wenn man auf schnelles Geld aus ist. Oder überhaupt auf Geld. Man könnte sich genauso gut in eine Fabrik für elektrische Schreibmaschinen oder in einen Zeitungsverlag einkaufen.

Das Beispiel EMI zeigt was passiert, wenn global player nicht mehr von weltfremden Trotteln, sondern von geldgeilen Volltrotteln geführt werden: Die Musiker, meinen laienhaften Wirtschaftsvorstellungen zufolge nicht unbedingt der unwichtigste Teil eines Musikkonzerns, waren nämlich mit den Ansagen der neuen Chefs (viele Kreative reagieren beispielsweise auf Zeitdruck allergisch) gar nicht gut zu sprechen und kündigten eine Art Veröffentlichungsboykott an. Robbie Williams, Coldplay und die wiedervereinigten The Verve wollen angeblich erst mal nichts mehr rausbringen, mit Paul McCartney, Radiohead und jetzt wohl auch den Rolling Stones haben Künstler, die teils über mehrere Jahrzehnte Zugpferde bei EMI waren, dem Konzern den Rücken gekehrt oder dies angekündigt. Und egal, ob die Verträger einen Musiker-Streik wirklich zulassen und ob aus den Resten der EMI wirklich ein profitabler Konzern werden kann: Ich glaube, wir erleben damit das letzte Kapitel der Musikindustrie im alten Sinne und es wird ein Ende mit Schrecken.

Es ist fast acht Jahre her, dass Metallica-Drummer Lars Ulrich dem US-Senat vorheulte, dass die Musik seiner Band bei Napster aufgetaucht sei. Die Politik reagierte auf dieses völlig neuartige Phänomen mit immer neuen Gesetzen, die es nun auch in Deutschland wieder verlockender erscheinen lassen, CDs direkt im Laden zu klauen anstatt sie illegal herunterzuladen. Die Musikkonzerne reagierten unter anderem damit, dass sie ihren verbliebenen zahlenden Kunden High-Tech-Müll verkauften, der auf vielen Abspielgeräten nicht lief (besonders lustig beim Musikkonzern und Elektronikhersteller Sony) oder die Computer-Sicherheit des Käufers gefährdeten. Später versuchten sie, den Wert von Musik dadurch zu vermitteln, dass sie einsame CDs ohne Booklet (BMG, inzwischen heimlich, still und leise wieder vom Markt verschwunden) oder in billigen Pappschubern (Universal) zu vermeintlichen “Sonderpreisen” auf den Markt warfen.

Zugegeben: Auch ich habe keinen brillanten Plan, wie man auf die fehlende Bereitschaft eines Teils (möglicherweise sogar tatsächlich eines Großteils) der Bevölkerung, für die ständige Verfügbarkeit von Musik Geld zu zahlen, reagieren sollte. Womöglich würde ich nicht mit der Beleidigung und Schikanierung der Rest-Kundschaft beginnen. Aber ich bin auch nicht die Musikindustrie, ich muss gar keinen brillanten Plan haben.

Vielleicht ist das Wort “Musikindustrie” alleine (Prof. Dieter Gorny, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Phono-Akademie, spricht sogar von “Kreativwirtschaft”) schon ein Irrtum, ein schreckliches Missverständnis. Musik ist (wie Film, Literatur, Theater, bildende Kunst) in erster Linie Kunst und somit weder unter “Industrie” noch unter “Wirtschaft” einzusortieren. Die Tatsache, dass Großkonzerne ein paar Jahrzehnte gut von der Vermarktung dieser Kunst leben konnten, ist historisch betrachtet eine Ausnahme, eine Art Versehen. Beethoven, van Gogh und Goethe haben ihre Kunst nicht geschaffen, um damit irgendwelchen Unternehmern zu Geld und Ruhm zu verhelfen – im Falle von van Gogh hat es zu Lebzeiten nicht mal zu eigenem Geld und Ruhm gereicht.

Natürlich soll das im Umkehrschluss nicht heißen, dass alle Künstler hungern und verarmt sterben sollen. Selbst über die Frage, ob ein Künstler wie Robbie Williams einen 120-Millionen-Euro-Vertrag wert sein sollte, lässt sich noch diskutieren – zumindest, wenn die Plattenfirma durch die Vermarktung von dessen Musik ein Vielfaches einnimmt. Ich glaube aber, dass es eine irrige Idee ist, mit der Vermarktung von Kunst auch noch jedes Jahr fette Rendite erwirtschaften zu können. Theater und Museen werden subventioniert, es gibt die Buchpreisbindung und die Filmförderung – was sagt uns das über die Wirtschaftlichkeit von Kultur, Stichwort “Kreativwirtschaft”?

Einer der Grundsätze von Wirtschaft ist die Sache mit Angebot und Nachfrage. Was aber tun, wenn die Nachfrage nach kostenpflichtiger Musik wirklich nachlässt? Es wäre eine Möglichkeit, das Konzept “Songs gegen Kohle” zu beerdigen, aber das muss vielleicht nicht mal sein. Eine neue Idee aber braucht es: Einerseits wäre es wünschenswert, jungen Menschen, die fünf Euro für einen Becher Kaffee mit Geschmack zahlen, klar zu machen, dass auch das Erdenken, Einspielen, Produzieren und Veröffentlichen von Musik harte Arbeit ist, andererseits erscheint es mir einigermaßen begreiflich, dass kein normaler Mensch 18 Euro für eine aktuelle CD zahlen will, wenn diese vor ein paar Jahren noch 15 Euro gekostet hätte. Ich mag CDs wirklich – ich mag es, das Booklet durchzublättern und die Scheibe selbst in den Händen zu halten -, aber die Differenz von bis zu acht Euro zum legalen Download lässt mich immer häufiger zum Download schwenken – zumal ich mir da die oftmals erfolglose Suche bei “Saturn” sparen und die Musik sofort hören kann.

Ich könnte grundsätzlich werden, ein fehlgeleitetes Wirtschaftssystem geißeln und das Fass mit dem Grundeinkommen aufmachen. Das sollte nicht aus den Augen gelassen werden, hilft aber im Moment auch nicht weiter. Im Moment droht 2000 Menschen die Arbeitslosigkeit, die selbst bei dem Versuch, Künstler wie Lisa Bund oder Revolverheld an den Mann zu bringen, noch Engagement zeigen: die Ansprechpartner bei den Plattenfirmen für Presse und Künstler, die schon in der Vergangenheit so häufig wechselten wie sonst nur beim Speed Dating. Die einfachen Mitarbeiter, die bei Meetings auf Kaffee und Gebäck verzichten müssen, während die Manager in der Business Class um die Welt jetten und überall zeigen, wie wenig Ideen sie selbst noch haben. Und natürlich geht es auch weniger um die Zukunft von Robbie Williams und den Rolling Stones, als vielmehr um die Chancen möglicher Nachwuchsstars.

Dabei wird aber übersehen, dass der hochdotierte Major-Vertrag, der lebenslangen Reichtum garantiert, längst schon Ausnahme statt Regel ist – vor allem aber ist er kein Muss mehr. Das Internet bietet so viele Möglichkeiten, Hörer (und damit potentielle Käufer und Fans) zu finden, aber auch um die Vermarktung selbst in die Hand zu nehmen. Zwar gehen Kreativität und Marketing- oder gar Finanzgeschick selten Hand in Hand, aber das wird sich auch noch finden. Das nächste oder übernächste “Internetphänomen” (und damit der Nachfolger von den Arctic Monkeys und Lily Allen) wird seine Musik vielleicht gar nicht mehr bei einer regulären Plattenfirma und auf CD herausbringen.

Ich jedenfalls würde den Musikern, deren Werk ich schätze, meine finanzielle Anerkennung gerne direkt zukommen lassen. Ich war durchaus noch bereit, mit dem Kauf einer Coldplay-CD zur Gegenfinanzierung kleinerer Bands beizutragen. Aber ich habe wenig Bock, irgendwelchen geldgeilen, menschen- und kulturverachtenden hedgefonds-Teilhabern bei der Aufbesserung ihrer Rendite zu helfen.

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Musik

Autumnsongs

Als ich heute Morgen erwachte, war draußen Herbst. “Nun ja”, dachte ich, “das kann ja mal passieren!” Ich verwarf meine eigentlichen Blogpläne für heute, warf iTunes an und mich nebst Buch aufs Bett. Dann war mir aber doch für einen Moment langweilig und deshalb stelle ich jetzt hier exklusiv die Top Twenty meiner liebsten Herbst-Alben vor:

20. Manic Street Preachers – This Is My Truth Tell Me Yours (VÖ: 25. August 1998)
Überlebensgroßer Britpop des walisischen Trios. Jeder Song eine Hymne, jedes Streichinstrument eine Umarmung.
Definitiver Herbstsong: “The Everlasting”

19. The Smashing Pumpkins – Adore (VÖ: 2. Juni 1998)
Die unendliche Traurigkeit der zum Trio geschrumpften Pumpkins ging weiter. Billy Corgan spielt mit Drumcomputern rum und ist doch reduzierter denn je.
Definitiver Herbstsong: “Blank Page”

18. Dan Bern – New American Language (VÖ: 6. Mai 2002)
Amerikanischer Singer/Songwriter, der das exakte Mittelding zwischen Bob Dylan und Elvis Costello ist. Schade, dass das keiner kennt.
Definitiver Herbstsong: “Albuquerque Lullaby”

17. Get Cape. Wear Cape. Fly – The Chronicles Of A Bohemian Teenager (VÖ: 16. Februar 2007)
Der Junge mit der Gitarre und dem Drumcomputer aus Großbritannien. Muss sich eigentlich noch im kalendarischen Herbst beweisen, wird das aber sicher schaffen.
Definitiver Herbstsong: “Call Me Ishmael”

16. Toploader – Onka’s Big Moka (VÖ: 14. August 2000)
Das One Hit Wonder mit dem Bubblegum Radiopop. Trotzdem ist nicht nur das Albumcover wunderbar herbstlich, sondern auch die Musik.
Definitiver Herbstsong: “Only For A While”

15. Embrace – If You’ve Never Been (VÖ: 5. September 2001)
Die Britpop-Brüder, die nicht Oasis sind, mit ihrem eigentlich schwächsten Album. Trotzdem ein echter Herbst-Dauerbrenner mit einigen großen Melodien.
Definitiver Herbstsong: “Make It Last”

14. The Fray – How To Save A Life (VÖ: 27. Oktober 2006)
Collegerock auf dem Klavier, gemacht von vier überzeugten Christen aus Denver. Man muss schon einen Soft Spot für eine gewisse Menge Pathos haben, dann ist es aber großartig.
Definitiver Herbstsong: “Heaven Forbid”

13. Radiohead – Kid A (VÖ: 29. September 2000)
Das große, sperrige Meisterwerk der besten Band unserer Zeit. Unbeschreiblich und unbeschreiblich gut.
Definitiver Herbstsong: “How To Disappear Completely”

12. The Finn Brothers – Everyone Is Here (VÖ: 20. August 2004)
Neil und Tim Finn haben mit Split Enz und Crowded House beinahe im Alleingang die Musikgeschichte Neuseelands und Australien geschrieben. Als Finn Brothers schreiben sie daran weiter.
Definitiver Herbstsong: “Edible Flowers”

11. Kashmir – Zitilites (VÖ: 11. August 2003)
Die Wiederaufnahme von “Kid A” mit anderen, dänischen Mitteln. Kashmir machen alles richtig und sichern sich einen Platz in den Musikannalen, Kategorie: “Ständig übersehene Genies”.
Definitiver Herbstsong: “The Aftermath”

10. Maximilian Hecker – Infinite Love Songs (VÖ: 28. September 2001)
Sie können Falsettgesang und hoffnungslos romantische Texte nicht ausstehen? Dann werden Sie mit diesem Album nicht glücklich werden. Alle anderen schon.
Definitiver Herbstsong: “The Days Are Long And Filled With Pain”

09. The Cardigans – Long Gone Before Daylight (VÖ: 24. März 2003)
Mit diesem Folk-Album zeigten die Cardigans endgültig allen, dass sie kein Bubblegum Pop One Hit Wonder sind. Und wer vorher noch nicht in Nina Persson verliebt war, war es danach.
Definitiver Herbstsong: “You’re The Storm”

08. Death Cab For Cutie – Plans (VÖ: 29. August 2005)
Mit “O.C., California” und einem Majorlabel im Rücken eroberten DCFC endlich die Welt im Sturm. Wäre aber auch zu schade gewesen, wenn man dieses großartige Indiepop-Album übersehen hätte.
Definitiver Herbstsong: “Different Names For The Same Thing”

07. Muff Potter – Heute wird gewonnen, bitte (VÖ: 15. September 2003)
Nach Jahren des Übens und Fingerwundspielens an der Deutschpunk-Front waren Muff Potter bereit für ihr Meisterwerk. 14 Songs zwischen Bordsteinkante und Mond, die alles um einen herum vergessen machen.
Definitiver Herbstsong: “Das Ernte 23 Dankfest”

06. The Postal Service – Give Up (VÖ: 28. April 2003)
Death-Cab-Sänger Ben Gibbard und Dntel-Mastermind Jimmy Tamborello zeigen auf zehn Songs, dass sich Elektronik und Folksongs nicht ausschließen müssen – und die Welt von Indiedisco-DJs und Soundtrack-Kompilierern war hinfort nicht mehr die Selbe.
Definitiver Herbstsong: “The District Sleeps Alone Tonight”

05. Coldplay – Parachutes (VÖ: 21. Juli 2000)
Bevor sie Fußballstadien und Vorabendserien beschallten, waren Coldplay für einen Herbst die kleinen verhuschten Indienerds, die einen über unerfüllte Lieben und nasskalte Heimwege vom Schulsport hinwegtrösteten. We live in a beautiful world und everthing’s not lost.
Definitiver Herbstsong: “We Never Change”

04. Ben Folds – Rockin’ The Suburbs (VÖ: 11. September 2001)
Das erste Soloalbum nach dem Ende von Ben Folds Five, erschienen an dem Tag, nach dem nichts mehr so war wie zuvor. Großartige Songs voller Klaviere und Melancholie – und voller Witz und Ironie.
Definitiver Herbstsong: “Carrying Cathy”

03. Starsailor – Love Is Here (VÖ: 19. Oktober 2001)
Sie sollten die nächsten Coldplay werden, wenn nicht auch noch Jeff und Tim Buckley und möglicherweise Nick Drake – das konnte ja kaum klappen. Starsailor lieferten trotzdem ein unglaublich großartiges Album ab – und ließen Coldplay dann den Vortritt bei der Weltkarriere.
Definitiver Herbstsong: “Fever”

02. R.E.M. – Automatic For The People (VÖ: 1. Oktober 1992)
R.E.M. schafften den endgültigen Sprung vom Geheimtipp zu Megastars – sonst änderte sich nichts. Wer wissen will, wie sowas geht, sollte das Album hören.
Definitiver Herbstsong: Alle – einfach alle.

01. Travis – The Man Who (VÖ: 28. Mai 1999)
Kein Wunder, dass das Album in Deutschland erst im Herbst so richtig seine Hörer fand: der Sommer ’99 war einfach zu trocken für “Why Does It Always Rain On Me?”. Wer die Bedeutung des Wortes “Melancholie” erfahren will, ist hier richtig. Alle anderen auch.
Definitiver Herbstsong: “Turn”

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Musik

Unsichtbar und namenlos: Die neue Travis im Detail

Am vergangenen Freitag erschien “The Boy With No Name”, das mittlerweile fünfte Album von Travis. Mit dem zeitgleich erschienen neuen Album der Manic Street Preachers und den bereits angekündigten neuen Alben von R.E.M., den Stereophonics, Ash und Slut können wir also in diesem Jahr die Wiederkehr des Musikjahres 2001 feiern – nur, dass zumindest Travis, Manics, Phonics und Ash damals noch irgendwie mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.

Auch für Travis gibt es die Track-by-track-Analyse – wie immer total subjektiv und voller Querverweise:

3 Times And You Lose
So ruhig hat noch kein Travis-Album begonnen: Erst nach 43 Sekunden setzen Bass und Schlagzeug ein, um Fran Healy, seine Akustikgitarre und den Chorgesang zu begleiten. Von da an ist es ein sommerlich-fluffiger Popsong, der auch gut auf “The Invisible Band” gepasst hätte – und damit die Marschrichtung vorgibt.

Selfish Jean
“Lust For Life”? “Lifestyles Of The Rich And Famous”? Das dürfte die … nun ja: schnellste Travis-Nummer aller Zeiten sein, man ist fast versucht, etwas wie “nach vorne gehen” zu schreiben. Darauf sollte man sogar einen gepflegten Rock’n’Roll tanzen dürfen – wenn man’s denn kann. Eine der Überraschungen des Albums – und deshalb auch einer der besten Songs. Dass hier Teile der Uralt-B-Seite “Standing On My Own” recycelt werden, fällt weder auf, noch wäre es schlimm.

Closer
Die bereits andernorts gelobte erste Single. Sie braucht ihre zwei, drei Durchläufe, dann ist es sofort einer der Lieblingssongs. Der Echo-Gesang der zweiten Strophe ist ein Travis-typischer Gänsehautmoment, der aufzeigt, warum man diese Band noch mal so gerne hat.

Big Chair
Was ist das denn, eine Funk-Ballade oder doch eher der Versuch, Drum’n’Bass auf echten Instrumenten zu spielen? Was auch immer Travis sich dabei gedacht haben: Es ist ein wunderschönes Lied daraus geworden, schon wieder beinahe tanzbar, aber dafür viel zu laid back. Mit dem schönsten Klaviergeklimper seit Robbie Williams’ “Feel”. Und dass das Lied auch von Keane stammen könnte, ist für keine der beiden Bands beleidigend gemeint. Textlich vermutlich die Antwort auf Herbert Grönemeyers “Stuhl im Orbit”.

Battleships
“Be My Baby” haben Travis schon mal als B-Seite aufgenommen, diesmal borgen sie sich deshalb nur das Intro. “When will you carry me home / Like the wounded star in the movie” beginnt das Lied, das im Refrain eine zwar etwas abgegriffene, aber nicht minder anrührende Kriegsmetapher für das Scheitern einer Beziehung durchdekliniert: “We’re battleships, driftin’ in an alley river / Takin’ hits, sinking it’s now or never / Overboard, drownin’ in a sea of love and hate but it’s too late / Battleship down”. Herzzerreißend, großartig, “The Man Who”-Niveau!

Eyes Wide Open
Huch: Eine rotzige (aber leise) E-Gitarre und eine Four-To-The-Floor-Bassdrum in der Strophe, ein schwungvoller Beat im Refrain. Das hätte (auch in textlicher Hinsicht) auch bestens aufs letzte Oasis-Album gepasst. Außergewöhnlich, aber nicht unbedingt der Übersong.

My Eyes
Musikalisch und thematisch die Fortsetzung von “Flowers In The Window”. Damals ging’s ums Kinderkriegen, jetzt ist der Nachwuchs da: “You’ve got my eyes / We can see, what you’ll be, you can’t disguise / And either way, I will pray, you will be wise / Pretty soon you will see the tears in my eyes”. Das ist dann wohl das Lied für Clay, Fran Healys Sohn, dessen Wochen der Namenlosigkeit dem Album seinen Titel gaben. Die schönste Vater-Sohn-Nummer seit Ben Folds’ “Still Fighting It” – und auch fast so gut.

One Night
Jedes Travis-Album braucht offenbar ein “Luv” oder “Afterglow”, an das man sich schon beim nächsten Track kaum noch erinnert. Und mit Zeilen wie “One night can change everything in your life / One night can make everything alright” gewinnt man auch keinen Blumentopf. Wie die vorgenannten Songs aber auch, so fügt sich dieser Titel gut in den Albumkontext ein und eignet sich so gut als Füller.

Under The Moonlight
Travis, die ungekrönten Könige der fantastischen B-Seiten-Coverversionen, packen ein fremdes Lied auf eines ihrer Alben! Wobei, was heißt hier “fremd”? Geschrieben wurde “Under The Moonlight” von Susie Hug, einer engen Freundin der Band, deren letztes Album nicht nur von Fran Healy produziert wurde, sondern bei dem auch noch drei Viertel der Band (Bassist Dougie Payne musste grad umziehen) als Backing Band zu hören sind. Seltsam (aber kein bisschen schlimm) ist nur, dass es sich bei der Dame, die im Hintergrund singt, nicht um Susie Hug, sondern um KT Tunstall handelt.

Out In Space
Das obligatorische Lied ohne Schlagzeug. Klingt wie ein Überbleibsel der “Invisible Band”-Sessions und hat die gleiche atmosphärische Dichte. Seit der Regen vor meinem Fenster die Hitze abgelöst hat, passt dieser Song auch.

Colder
Das Schlagzeug rumpelt, Andy Dunlops Gitarren sirren und Fran Healy singt “I’m in love with everything” – klingt nach guter Laune? Quark: “The sky is falling down / And there’s an angel on the ground / It’s getting colder”. Fünf Pfund, dass es hier um einen verflucht kalten Winter geht. Im Refrain kommt erstmalig ein Vocoder zum (sparsamen, aber prägnanten) Einsatz, in der Middle 8 erwarten und Harfen und Mundharmonika. Der beste Travis-Song seit vielen Jahren, eine Kopfnick- und Armeausbreite-Hymne für die pathetischen Momente im Leben.

New Amsterdam
Oh, ein Lied über New York, hatten wir ja noch nie. Der lyrisch schwächste Travis-Song seit “She’s So Strange”. Dass New York einen sprachlos macht, ist klar. Dass dabei aber trotzdem noch gute Songtexte entstehen können, haben zuletzt Tomte bewiesen. Musikalisch trotzdem schön.

Sailing Away
Drei von jetzt fünf Travis-Alben haben Hidden Tracks, diese Quote schlägt nur noch Robbie Williams. Hier ist der aktuelle: Ein beschwingter Schunkler, der vor allem mit dem (doch wohl hoffentlich beabsichtigten) The-Clash-Zitat “I live by the river” punkten kann. Ein hübscher Abschluss der Platte und tausend- ach: milliardenfach besser als der letzte Schotte, der übers Segeln sang. Wie, das ist ja auch überhaupt nicht schwer? Na gut: stimmt.

Fazit
Okay, ich bin ehrlich: Ich bin überzeugter Travis-Fan. Gerade deshalb war ich aber irgendwie immer unzufrieden mit “12 Memories”, weil es mir irgendwie ein bisschen verkrampft, unrund und überambitioniert erschien. “The Boy With No Name” schaltet da zwei Gänge zurück und ist deshalb eher als direkter Nachfolger von “The Invisible Band” anzusehen – was sich übrigens auch in den sonnendurchfluteten Amerika-Fotos der jeweiligen Booklets wiederspiegelt. Trotzdem gibt es auch ein paar große “The Man Who”-Momente.
Es ist das erste Travis-Album, dass nicht nur Fran-Healy-Songs beinhaltet: Neben der externen Zulieferung “Under The Moonlight” stammen “3 Times And You Lose” und “Big Chair” (Andy Dunlop) und “Colder” (Dougie Payne) zumindest teilweise aus der Feder anderer Bandmitglieder, die ihre Songwriterqualitäten schon auf diversen B-Seiten beweisen durften. (Ich glaube, ich sollte mal dringend eine Liste mit den besten Travis-B-Seiten zusammenstellen – das dürfte deren zweitbestes Album werden.)
Die Band tat vermutlich sehr gut daran, den Breitwand-Tüftler Brian Eno nach ein paar Tagen in die Wüste zu schicken und das Album stattdessen mit Steve Orchard und ihrem langjährigen Begleiter Nigel Godrich zu produzieren.
Zu der von Jan Wigger aufgestellten Behauptung, Travis-Fans seien “auffallend genügsam” und erwarten eh immer nur das Gleiche, kann man stehen, wie man will, dieses Album liefert innerhalb des Travis-Kosmos doch die ein oder andere Neuerung und kann vielleicht im Kreis der Keane-, Snow-Patrol- und Coldplay-Anhänger sogar noch den einen oder anderen neuen Fan abgreifen.
Die letzte Frage, die sich jetzt noch stellt: Ist der im Booklet überschwänglich mit Dank bedachte “Wolfgang Doebling” wirklich Wolfgang Doebeling vom Rolling Stone?

Travis - The Boy With No Name
Travis – The Boy With No Name

VÖ: 04.05.2007
Label: Independiente
Vertrieb: SonyBMG