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Experten

Nun, da wir uns alle einmal über den Mann mit dem albernen Bart und dem unpassenden Namen erregt haben und dieser in einem offenen Brief an den Zentralrat der Juden in Deutschland um Entschuldigung gebeten hat, können wir uns einer wichtigen Frage widmen: Wer ist dieser Hans-Werner Sinn überhaupt?

Vermutlich habe ich in den Nachrichten schon hundertfach von seinem Ifo-Institut gehört und als ich in der Wikipedia vom Ifo-Geschäftsklimaindex las, klingelte es tatsächlich. Aber davon mal ab: Wer ist dieser Mann und was sollte mich dazu bringen, seinen Ausführungen (wenn sie nicht gerade von verfolgten Managern handeln) Glauben zu schenken?

Wenn ein Medium zeigen will, was mit unserer Umwelt passiert oder wie man Energie sparen kann, werden O-Töne von Claudia Kemfert herangeschafft, wenn’s etwas seriöser sein soll Mojib Latif. Tun Jugendliche irgendwo das, was Jugendliche mindestens seit Kain und Abel tun, nämlich zuschlagen, steht das Telefon von Christian Pfeiffer nicht mehr still, und bis vor kurzem konnten Sie sicher sein, Ihre Ernährungstipps von Hademar Bankhofer zu bekommen — egal, welches Medium Sie nutzten.

Braucht ein Journalist ein Statement zum Thema Blogs oder Internet, wendet er sich an Stefan Niggemeier. Der darf auch beim Thema “Medien allgemein” ran, aber nur, solange seine Meinung nicht der Linie des Journalisten zu widersprechen droht – sonst ist Jo Groebel dran. Selbst im Fußball, zu dem nun wirklich jeder Deutsche eine Meinung hat, muss bei jeder Fernsehübertragung ein Experte bereitstehen und erklären, was wir gerade gesehen, aber nur bedingt verstanden haben. Und Henryk M. Broder darf seine Meinung sowieso zu jedem Thema verbreiten.

Der einfache Bürger weiß ja gar nicht, wer diese Menschen sind, die ihm da immer als Experten vorgesetzt werden. Woher kommen sie, was haben sie gelernt, welche eigenen Interessen verfolgen sie gegebenenfalls? (Es soll ja ganze Talkshow-Runden geben, die nur mit Mitgliedern der “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft” besetzt sind, einer Lobby-Vereinigung des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall.) Selbst von möglicherweise honorigen Professoren kennt man nur ihre Drei-Satz-Erklärungen aus dem Boulevardfernsehen (“Explosiv”, “Brisant”, “Anne Will”) und wenn man sie nur oft genug gesehen hat, kann man sie sowieso nicht mehr ertragen.

Dabei wäre es ja eigentlich nur wünschenswert, wenn sich tatsächlich die verdientesten und klügsten Leute zu Themen äußern und nicht etwa Ronald Pofalla. Es gibt eher zu wenige Denker in der Öffentlichkeit als zu viele. Die Zeiten, in denen sich der Weimarer Hof mit den weisesten Herren der damaligen Welt schmückte, sind lange vorbei. Fachleute werden von der Politik zwar noch herangekarrt, aber sofort wieder fallen gelassen, wenn ihr Fachwissen sich als unpopulär herausstellen könnte. Fragen Sie mal Paul Kirchhof, den “Professor aus Heidelberg”. (Es geht natürlich noch perfider: Hartz will heute ja nun wirklich niemand heißen.)

Der Grund, warum Medien diese Experten brauchen, ist natürlich klar: Zum einen braucht jedes Thema ein Gesicht, weswegen Hip-Hop ja auch aussieht wie Eminem und Indierock wie Pete Doherty. Zum anderen braucht man jemanden, der Ahnung von einem Thema hat, mit dem man sich gerade zum ersten Mal beschäftigt: Wer morgens in der Redaktionskonferenz die Bekanntgabe des “Vogels des Jahres” aufs Auge gedrückt bekommt, kann nicht bis zur Abgabe noch eine Ornithologie-Studium abschließen.

Vor einiger Zeit behelligte ich einen Geschichtsprofessor mit der Frage, ob er mir für eine Reportage (die immer noch zu schreiben ist) einige Einstiegsfragen beantworten könne. Er teilte mir höflich, aber bestimmt mit, dass Professoren entgegen der weitläufigen Annahme von Journalisten keine Auskunfteien seien, für solche Zwecke gebe es Fachliteratur. Der Mann hat wissenschaftlich natürlich vollkommen recht, aber kein Journalist wird im Tagesgeschäft mal eben ein, zwei, drei Fachbücher lesen können — und der Professor hat sich freilich selbst um eine Karriere als vielzitierter (weil ungelesener) Experte gebracht.

Mehr zum Thema in diesem Beitrag von “Zapp” aus dem letzten Jahr.

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Die volkstümliche Schlägerparade

Bis vor drei Wochen gab es in Deutschland ausschließlich nette, kluge Jugendliche, die zwar vielleicht ab und zu mal Amokläufe an ihren Schulen planten, aber das waren ja die Killerspiele schuld. Seit Ende Dezember reicht es nicht, dass die Jugendlichen in der U-Bahn nicht mehr für ältere Mitmenschen aufstehen, sie treten diese jetzt auch noch zusammen. Plötzlich gibt es in Deutschland Jugendgewalt – so viel, dass die “Bild”-“Zeitung” ihr eine eigene Serie (Teil 1, Teil 2, Teil 3, …) widmet. Bei “Bild” sind allerdings immer die Ausländer schuld.

Mit dem Thema Jugendkriminalität ist es wie mit jedem Thema, das jahrelang totgeschwiegen wurde: Plötzlich ist es aus heiterem Wahlkampf-Himmel in den Medien und alle haben ganz töfte Erklärungen dafür und Mittel dagegen. In diesem konkreten Fall führen sich die Politiker auf wie Eltern, die ihre Kinder die ganze Zeit vernachlässigt haben und dann plötzlich, als sie die nicht mehr ganz so lieben Kleinen auf der Polizeiwache abholen mussten, “Warum tust Du uns das an?” brüllen und dem Blag erstmal eine langen. Nur, dass “Vernachlässigung” in der Politik eben nicht “keine gemeinsamen Ausflüge in den Zoo” und “das Kind alleine vor dem RTL-II-Nachtprogramm hocken lassen” heißt, sondern “Zuschüsse für die Jugendarbeit streichen” und “desaströseste Bildungspolitik betreiben”.

Ich halte wenig von Generationen-Etikettierung, ein gemeinsamer Geburtsjahrgang sagt zunächst einmal gar nichts aus. Auch wenn Philipp Lahm und ich im Abstand von sechs Wochen auf die Welt gekommen und wir beide mit “Duck Tales”, Kinder-Cola und “Kevin allein zuhaus” aufgewachsen sind, wäre der sympathische kleine Nationalspieler doch nicht unbedingt unter den ersten einhundert Leuten, die mir einfielen, wenn ich mir ähnliche Personen aufsagen sollte. ((Meine Fußballerkarriere endete zum Beispiel nach einem einmaligen Probetraining in der D-Jugend.)) Es gibt in jeder Altersgruppe (und bei jeder Passfarbe, Ethnizität, sexuellen Orientierung, Körperform, Haarlänge und Schuhgröße) sympathische Personen und Arschlöcher. Möglicherweise war zum Beispiel die Chance, in einer Studenten-WG an Mitbewohner zu geraten, die sich nicht an den Putzplan halten und ihre Brötchenkrümel nicht aus dem Spülstein entfernen, vor vierzig Jahren bedeutend höher als heute, und auch wenn Schlunzigkeit kein Gewaltverbrechen ist, so ist doch beides sehr unschön für die Betroffenen.

Doch ich schweife ab: Das Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. mit seinem vielzitierten und fast zu Tode interviewten Direktor Prof. Dr. Christian Pfeiffer hat im vergangenen Jahr eine Studie zum Thema “Gewalttätigkeit bei deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen” veröffentlicht.

Auf Seite 4 gibt es einen recht schlüssig erscheinenden Erklärungsversuch, warum gerade bestimmte Bevölkerungsgruppen eher zu Gewalt neigen als andere:

Besondere Relevanz für eine erhöhte Gewalttätigkeit von Nichtdeutschen scheint aktuellen Studien zufolge bestimmten, mit Gewalt assoziierten Männlichkeitsvorstellungen zuzukommen. Diesen hängen in erster Linie türkische, aber auch russische Jugendliche an (vgl. Enzmann/Brettfeld/Wetzels 2004, Strasser/Zdun 2005). Die Männlichkeitsvorstellungen resultieren aus einem Ehrkonzept, das sich unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen herausgebildet hat. […] Der Mann als Familienvorstand muss Stärke demonstrieren, um eventuelle Angreifer bereits im Vorhinein abzuschrecken.

Laienhaft verstanden und überspitzt gesagt: Eva Hermans Ruf nach der Rückkehr ins Patriarchat würde auf lange Sicht dazu führen, dass wir wieder mehr prügelnde Jungs hätten, weil die archaischen Männlichkeitsbildern anhängen und den dicken Larry markieren würden. Oder anders: In Oberbayern werden nur deshalb keine Leute in U-Bahnen zusammengeschlagen, weil es dort keine U-Bahnen gibt.

Noch spannender ist aber wohl der auf Seite 5 ausgeführte Ansatz, wonach der vermeintlich hohe Anteil an kriminellen Ausländern auch ein Wahrnehmungsproblem ist:

Die etikettierungstheoretische Erklärung sieht den Grund für eine höhere Kriminalitätsbelastung dabei nicht allein auf Seiten der Migranten, sondern sie bezieht das Verhalten der Einheimischen mit ein. So konnte u.a. gezeigt werden, dass die Kriminalisierungswahrscheinlichkeit (d.h. die Registrierung als Tatverdächtiger) bei Ausländern im Vergleich zu den Deutschen doppelt bis dreimal so hoch ist (Albrecht 2001; Mansel/Albrecht 2003). Zudem existieren Befunde, die belegen, dass straffällig gewordene Ausländer einer zunehmend härteren Sanktionspraxis ausgesetzt sind (vgl. Pfeiffer et al. 2005, S. 77ff). Abweichung, so die daraus ableitbare These, ist nicht nur deshalb unter den ethnischen Minderheiten verbreiteter, weil diese tatsächlich öfter ein entsprechendes Verhalten zeigen, sondern weil die autochthone Bevölkerung bzw. ihre Strafverfolgungsorgane die Abweichung von Migranten anders wahrnimmt und auf sie besonders sensibel reagiert.

Und wer einmal im Gefängnis sitzt, lernt dort die falschen Leute kennen, findet keinen Job mehr und befindet sich mittendrin in einer Abwärtsspirale. Der “kriminelle Ausländer” ist also zum Teil eine selbst erfüllende Prophezeihung: Wie oft liest man in der Presse von jungen Türken, Griechen oder Albanern, die gewalttätig geworden sind, und wie selten von jungen Deutschen? Bei Deutschen lässt man in Deutschland die Staatsbürgerschaft einfach weg und der Leser nimmt die Nationalität nur wahr, wenn es sich Ausländer handelt. Die Situation ist vergleichbar mit den schlecht geparkten Autos auf dem Seitenstreifen, die Sie auch nur wahrnehmen, wenn eine Frau aussteigt.

Als ich vor anderthalb Jahren für drei Monate in San Francisco weilte (wo ich mich übrigens stets sehr sicher fühlte – auch, weil ich keine lokalen Zeitungen las), wurde ich eines Tages auf dem Fußweg in die Innenstadt von einem jungen Mann angerempelt. Es war nicht sonderlich brutal, der Mann wollte nur offenbar genau dort lang gehen, wo ich stand. So etwas passiert einem in deutschen Fußgängerzonen nahezu täglich. Der junge Mann aber war von schwarzer Hautfarbe und aus dem Fernsehen glauben wir zu wissen: Schwarze begehen viel mehr Verbrechen als Weiße. Ich als aufgeschlossener, rationaler Mensch musste mein Hirn zwingen, diesen Vorfall nicht als symptomatisch abzutun: Nach gröbsten statistischen Schätzungen wurde ich im Jahr 2006 etwa 42 Mal angerempelt. In 95% der Fälle waren es unfreundliche Rentner in grauen Stoffjacken, herrische Frauen mit mürrischem Gesichtsausdruck und dicke ungezogene Kinder in Deutschland. Aber das war Alltag – und in diesem einen Fall passte der Rempler aufgrund seiner Hautfarbe in ein diffuses Täterprofil, dass ich im Hinterkopf hatte. Ich war von mir selbst schockiert.

In San Francisco wurde ich noch ein weiteres Mal angerempelt: Als ich an Halloween auf der Straße stand, lief eine Gruppe Jugendlicher an mir vorbei. Jeder einzelne verpasste mir einen Schultercheck, bis ich schließlich auf den Gehweg flog. ((Ich beeindruckte die Festgemeinde, indem ich bei dem Sturz keinen einzigen Tropfen Bier aus meiner Dose verschüttete. Es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich mich als Deutscher fühlte.)) Ihre genaue Ethnizität konnte ich nicht erkennen, aber schwarz waren sie nicht. Meine amerikanischen Freunde waren entsetzt und versicherten mir teils am Rande der Tränen, dass so etwas in dieser Gegend sonst nie vorkäme. Ich sagte, ich sei in Dinslaken aufgewachsen, da sei man schlimmeres gewohnt.