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25 Jahre „Reload“

Dieser Eintrag ist Teil 8 von bisher 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Tom Jones - Reload (abfotografiert von Lukas Heinser)

Zum ersten Mal von Tom Jones gehört habe ich, wie vermutlich die meisten Menschen meiner Generation, in „Mars Attacks!“, dem übersehenen Meisterwerk von Tim Burton. In dem Film greifen Marsianer die Erde an und sie tun das unter anderem in Las Vegas, während Tom Jones auf der Bühne eines Casino-Hotels steht und – natürlich – „It’s Not Unusual“ singt. Jones spielt sich selbst, er wird im weiteren Verlauf des Films mit Annette Bening und Janice Rivera zu den Tahoe-Höhlen fliehen und, nachdem die Marsianer besiegt sind und ein Falke auf seinem Arm gelandet ist, erneut „It’s Not Unusual“ anstimmen. Eines der Top-10-Enden der Filmgeschichte. (Falls Ihr „Mars Attacks!“ noch nie gesehen habt: Es ist, seit ich mit 13 im Kino war, einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Auch mehr als 25 Jahre später muss ich immer noch sagen: 10/10, ein Meisterwerk für alle Zeiten. Guckt ihn Euch an!)

Für meine Eltern und ihre Generation war Tom Jones damals im Wesentlichen eine etwas abgehalfterte Witzfigur, nicht unähnlich den ehemaligen Schlagerstars, die bei Baumartkeröffnungen sangen. Es waren die zynischen 1990er und die Qualitäten, die es braucht, um Las Vegas residencies und Baumartkeröffnungen zu bestehen, wurden allenfalls von Götz Alsmann gewürdigt. Da konnte auch sein Mini-Comeback von 1994 nichts dran ändern, als er gemeinsam mit The Art Of Noise „Kiss“ von Prince coverte und mit seiner Version für nicht wenige Kritiker das Original übertraf.

Womöglich war es eine Mischung aus 1990er-„Ironie“ und Teenager-Trotz, aber irgendwie fand ich Tom Jones cool. Entsprechend überrascht war ich, als ich im Herbst 1999 in einem Elektronikmarkt ein neues Album von ihm sah, gemeinsam mit Gaststars wie The Cardigans, Robbie Williams, Natalie Imbruglia und Simply Red, die mir natürlich etwas sagten. Irgendwie muss ich auch erkannt haben, dass es sich um jede Menge Coverversionen und Neueinspielungen handelte, denn ich war enttäuscht, dass „It’s Not Unusual“ nicht dabei war, und so habe ich die CD zu diesem Zeitpunkt nicht gekauft.

Doch dann kam der Auftritt bei „Wetten, dass ..?“: Nina Persson und die Jungs hatten sich trotz aller eigenen Charterfolge vermutlich nie vorgestellt, einmal in dieser seltsamen deutschen Fernsehsendung, von der sich internationale Stars in first class lounges, Festival-Backstage-Bereichen und bei Preisverleihung fassungslos erzählen, vor einem sprechenden Bühnenbild (ja, in der Tat: ein brennendes Haus) einen Auftritt mit dem „Tiger“ zu absolvieren, bei dem sie so tun, als würden sie gerade ihre Version von „Burning Down The House“ live performen. Ich kannte das Original von den Talking Heads nicht (und war, als ich es dann endlich irgendwann mal hörte, nicht sonderlich beeindruckt), aber dieser Auftritt ließ mich direkt am darauffolgenden Montag zu R&K in Dinslaken fahren und „Reload“ doch noch kaufen.

Das Album war für mich der Erstkontakt mit Acts wie The Divine Comedy, Barenaked Ladies, Portishead, Catatonia und Stereophonics und die erste CD in meiner Sammlung, auf der The Cardigans und James Dean Bradfield von den Manic Streets Preachers zu hören waren — Acts, bei denen ich, wie auch bei Robbie Williams, in der Folge einen gewissen Hang zum Komplettismus entwickeln sollte. Es machte mich nicht nur mit „Burning Down The House“ bekannt, sondern auch mit Songs wie „All Mine“ (Portishead), „Never Tear Us Apart“ (INXS) und wahrscheinlich auch „Lust For Life“ (Iggy Pop). Kurzum: Es war ein Crashkurs in Sachen Popkultur der vorangegangenen Jahrzehnte und der Gegenwart.

„Are You Gonna Go My Way“ (Lenny Kravitz) mit Robbie Williams wirkte nicht nur wegen des Titels wie die Übergabe eines Staffelstabs. „Sometimes We Cry“ von und mit Van Morrison, der als Einziger einen seiner eigenen Songs sang, rührt mich bis heute. James Dean Bradfield von den Manic Streets Preachers liefert bei „I’m Left, You’re Right, She’s Gone“ (Elvis Presley) eine der besten Gesangsleistungen seiner Karriere ab (Tom Jones schreibt, wenn ich das richtig erinnere, in seiner Autobiographie, dass er Angst hatte, ein Duett mit einem so begnadeten Sänger zu singen, und ganz ehrlich: Wenn Ihr keine Gänsehaut bekommt, wenn JDBs Stimme zum ersten Mal in den Song reingrätscht, kann ich Euch auch nicht helfen!). Selbst die Ideen, die auf dem Papier schlecht wirken, funktionieren im (hoffentlich weit aufgedrehten) Lautsprecher: Sollte man Iggy Pops „Lust For Life“ covern? Nein. Außer, wenn Chrissie Hynde von The Pretenders und Tom Jones singen. Dann unbedingt.

Dass ein Album mit 17 Tracks so seine Längen hat, lässt sich schwer vermeiden: „Ain’t That A Lot Of Love“ mit fucking Simply Red? „She Drives Me Crazy“ mit Zucchero? Ist doch schön, wenn Tom Jones so viele angesagte Acts zum Mitwirken bewegen konnte!

Der große Hit, der zu einem späten signature song werden sollte, war indes ein anderer: „Sex Bomb“, die einzige Neukomposition des Albums, aus der Feder des Hannoveraner Musikproduzenten Mousse T., der mit seinem Debüt-Hit „Horny ’98“ bereits gezeigt hatte, dass er stumpfes Rumpf-Gemumpf extrem cool und clubtauglich klingen lassen konnte. Heute würde man anders darüber denken, wenn ein 59-jähriger Mann mit gefärbtem Haupthaar einer mutmaßlich sehr viel jüngeren Frau den Refrain „Sexbomb, sexbomb you’re a sexbomb / You can give it to me, when I need to come along / Sexbomb, sexbomb you’re my sexbomb / And baby you can turn me on“ angedeihen lassen wollte, aber man muss Popkultur immer aus ihrem Zeitgeist lesen, wenn man sie irgendwie verstehen will, und der Zeitgeist der ausgehenden 1990er Jahre war eben so, dass ich ihn auf einer Website, die auch Minderjährige besuchen können, schlecht ausformulieren kann.

Einmal angefixt, tauchte ich natürlich in das Gesamtwerk des walisischen Tigers ein — und, meine Güte, waren da Hits, Hits, Hits! Gut: Die Mörderballade „Delilah“ wurde in den letzten Jahren von Sportveranstaltungen verbannt und auch die Sujets manch anderer Songs sind schlecht gealtert, aber diese Stimme, die immer über irgendwelchen State-of-the-art-Arrangements schwebte, lässt zumindest mich einen Tacken mehr durchgehen lassen als es bei anderen Acts der Fall wäre.

Tom Jones war – nach den Prinzen 1994 – tatsächlich das zweite große Popkonzert, das ich in meinem Leben besuchte (im Mai 2000 mit meinen Eltern und meinem Bruder in der Arena Oberhausen; das Konzertplakat, das mein Vater auf dem Heimweg von einem Maschendrahtzaun abmontierte, könnte immer noch im Keller meiner Eltern stehen) und auch wenn natürlich keiner der „Reload“-Gäste dabei war, war es ein Erlebnis. Jones legte in der weiteren Folge einen beeindruckenden dritten (oder vierten oder fünften) Karriere-Akt hin, indem er aufhörte, seine Haare zu färben, und begann, Folk- und Americana-Alben aufzunehmen (ich habe im letzten Jahr zufällig festgestellt, dass er eine Version von „Charlie Darwin“ von The Low Anthem veröffentlicht hat!). Das hatte Folgen, denn als ich ihn zum zweiten Mal live sah, spielte er die meisten seiner Klassiker in kaum wiederzuerkennenden Arrangements. Das Publikum wirkte ein bisschen enttäuscht, aber mit damals schon 79 Jahren hatte er sich das Recht erarbeitet, seine Songs derart zu dylanisieren. Der überraschende Ort dieses überraschenden Auftritts: das Burgtheater Dinslaken.

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Tom Jones – Reload
(Gut/V2, 16. September 1999)
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25 Jahre „Equally Cursed And Blessed“

Dieser Eintrag ist Teil 3 von bisher 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Catatonia - Equally Cursed And Blessed (abfotografiert von Lukas Heinser)

Radio Bohlen, jedenfalls, schloss im Sommer 2001 für immer seine Türen. Der Ort, an dem meine Eltern (und Großeltern) nahezu alle Fernseher, Videorecorder und Stereoanlagen gekauft hatten, und an dem ich auch ein paar CDs erstanden hatte (ein ganz paar: R&K und Karstadt waren meist günstiger gewesen — und ich hatte die Preise natürlich oft verglichen), machte nach Jahrzehnten dicht. Der Verkaufsraum war eine dieser 1950er-Jahre-Extravaganzen gewesen, die man zu ebener Ebene betrat (Kasse, Kopfhörer und anderes Zubehör), um dann wahlweise eine halbe Etage hinab- (Fernseher, Stereoanlagen, Boxen, Laserdisc-Player) oder hinaufzusteigen (CDs, Band-T-Shirts, Poster und letzte Vinyl-Schallplatten, die damals wirklich out waren). Absolut nicht barrierefrei (dabei hatte Deutschland in den 1950er Jahren über einen außergewöhnlich hohen Bevölkerungsanteil von Menschen mit fehlenden Gliedmaßen verfügt) und beim anschließenden Umbau zu einem DM ordentlich nivelliert (schöne 50er-Jahre-Treppengeländer kann man sich schließlich auch woanders anschauen).

Die letzte CD, die ich bei einer dieser für alle Beteiligten immer etwas entwürdigenden, Ausverkauf geheißenen, Leichenfleddereien erstand (und das ungehört), war „Equally Cursed And Blessed“, das dritte Album der walisischen Band Catatonia. Die hatte ich, wie schon die Stereophonics, als Gäste auf dem Tom-Jones-Karriere-Revitalisierungswerk „Reload“ kennengelernt und es muss, wenn ich mich nicht sehr irre, der erste Act mit weiblicher Stimme gewesen sein, der seinen Weg in meine CD-Sammlung fand. Kostete glaub ich auch nur noch acht Mark oder so.

Was mich zuhause beim ersten Hören erwartete war das, was ich mir als Noch-nicht-18-Jähriger unter „Musik für Erwachsene“ vorstellte: ein bisschen überdrehter, ein bisschen cooler und ein bisschen cleverer als das, was meist auf 1Live und WDR2 lief. Ich malte mir aus, dass Menschen um die 30, die in schicken Apartments in London wohnten und in den Medien arbeiteten, solche Musik bei ihren dinner parties auflegen würden. Aus irgendeinem Grund stellte ich mir ziemlich genau das Setdesign der „About A Boy“-Verfilmung vor, ein Jahr, bevor der Film rauskam.

Sängerin Cerys Matthews hatte eine Stimme, die klang, als hätte Tiffy aus der „Sesamstraße“ mit dem Trinken und Rauchen angefangen, und sie sang bissige, gelangweilte Gesellschaftskommentare; manche Textzeilen überraschen auch Jahrzehnte später („The ad begs, ‘Buy bottled water‘ / But we know that it tastes of piss / Should be getting our tampons free / DIY gynecology“). Das Album wurde Teil meines Sommer-Soundtracks und tatsächlich klingen die meisten Songs für mich auch heute noch nach dem leichten Wind, der an heißen Sommertagen über die niederrheinische Landschaft kriecht: Könnte auch noch schwül werden, könnte noch gewittern, aber wir würden bei irgendwelchen Schulfreunden, deren Eltern ohne sie in den Urlaub gefahren waren, unter der Markise sitzen.

Track 2 – und damit traditionell das klare Highlight, die klare Single – ist ein Hassliebeslied auf London: „Londinium“ beklagt die hohen Lebenshaltungskosten, den dichten Verkehr und den verlogenen Showbiz-Glamour mit einem unfassbar eingängigen Refrain, der Bahnhöfe und Taxen zusammenbringt. In meiner lebhaften Phantasie entstand eine romantische Komödie um Menschen, die bei einem Stadtmagazin namens „Londinium“ arbeiteten. (Fuck, vielleicht habe ich aus Versehen „Tatsächlich Liebe“ erfunden!)

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Catatonia veröffentlichten im gleichen Sommer ihr viertes Album, das ich nie gehört habe; die Band löste sich kurz darauf auf. Ich habe „Equally Cursed And Blessed“ mehr als zehn Jahre lang nicht gehört, aber die Musik erschafft immer noch farbenfrohe Bilder in meinem Kopf. Nur die Menschen sind inzwischen Mitte Fünfzig und zum zweiten Mal geschieden.

Catatonia – Equally Cursed And Blessed
(Blanco y Negro; 12. April 1999)
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