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Musik Literatur

Der Saal wird still, die Lichter gehn aus

Seien wir ehrlich: Wir Sind Helden sind so ziemlich die langweiligste Band Deutschlands. Zwar wird man hierzulande sowieso kaum eine Band finden, die sich mal schlecht benimmt oder wenigstens mal ein paar Kollegen disst, aber Wir Sind Helden sind immer noch eine Spur netter. Jetzt touren sie sogar schon mit Baby! Und so eine Band will uns gerade fünf Jahre nach dem Durchbruch ihre Geschichte und ihren Touralltag erzählen? Auf 400 Seiten?

Wir Sind Helden sind aber natürlich auch eine der sympathischsten Bands Deutschlands. Selbst als “Brigitte” und “Polylux”, wo sie zu Hochzeiten gefühlt in jeder Sendung porträtiert wurden, Judith Holofernes zur Klassensprecherin der Nation erklären wollten und die Band drohte, zum Soundtracklieferanten von Attac-Demonstrationen zu werden, sorgte das Quartett immer mit genug Selbstironie dafür, dass man sie immer noch mochte. Oder sie hassen musste, weil sonst ausnahmslos alle sie mochten. Diese Wir Sind Helden haben jetzt “Informationen zu Touren und anderen Einzelteilen” veröffentlicht, eine Sammlung alter Tour- und Studiotagebücher, angereichert mit ganz vielen Zusatzgeschichten und liebevoll kompiliert von den “Musikexpress”-Granden Josef Winkler und Albert Koch.

Wir haben die aktive Legendenbildung in einem frühen Stadium versäumt und müssen nun damit leben: Drei Viertel der Helden haben sich beim, seufz, Sommerkurs einer Musikhochschule kennengelernt.

Nun gut, wer unreflektiert Drogen- und Sexgeschichten geschildert kriegen will, kann ja “Scar Tissue” von Anthony Kiedis lesen, bei Wir Sind Helden gibt es erst mal längere Schilderungen des zaghaften Kennenlernens, die dafür jeder Mensch nachvollziehen kann, der sich mal mit ein paar Freunden und deren Freunden “so zum rumzocken” getroffen hat. Überhaupt: Das Helden-Buch sollte man zur Pflichtlektüre von Nachwuchsmusikern ernennen. Wenn sich die Band euphorisch an die ersten (natürlich ziemlich schlechten) Auftritte erinnert, will man sofort auf die Bühne in egal welchem Jugendzentrum stürmen – und vielleicht sogar in den Proberaum. Wie man nebenher auch noch ohne echtes Management die Angebote von Plattenfirmen ablehnt, die einen “topdown in GSA” “breaken” wollen, kann man sich bei den Helden zumindest abschauen.

Dass das Buch aber trotz ausführlicher Schilderungen von Studioarbeit und Livebetrieb auch noch für Nicht-Insider interessant ist (sein dürfte), ist der eigentliche Verdienst: Im Gegensatz zum vergleichbaren Tomte-Tourtagebuch “Die Schönheit der Chance” hat “Informationen zu Touren und anderen Einzelteilen” zwar den sperrigeren Titel, erzählt aber sehr viel allgemeinverständlicher und weit weniger pubertär vom Tour-Alltag. Das könnte natürlich auch daran liegen, dass die beiden Bands so grundverschieden sind, wie Thees Uhlmann im Buch noch mal erklären darf. Als Mehrwert hängt dem Buch noch ein Glossar an, in dem von “A&R” über “Nightliner” bis zum sensationell dämlichen Wort “Venue” (“Auftrittsort”) alle Begriffe erklärt werden, die im Musikgeschäft so wichtig sind. Darüber freuen sich sicher auch Musiker, Musikjournalisten und Musikindustrielle, die zwar täglich mit diesen Begriffen hantieren müssen, sich aber nie trauen würden, nach deren Bedeutung zu fragen.

400 Seiten sind recht viel, um darauf knapp sieben Jahre Bandgeschichte zu erzählen. Den Großteil nimmt dabei der Weg bis zum unerwarteten Erfolg des Debütalbums “Die Reklamation” ein, aber das war ja auch eine spannende Zeit und man merkt den klug montierten Erzählungen der Bandmitglieder an, wie unglaublich diese Erfahrungen für sie auch heute noch sein müssen. Man hört das Zweitwerk “Von hier an blind” mit etwas anderen Ohren, wenn man um den Druck weiß, der damals auf den Musikern lastete, und man glaubt es ihnen gerne, wie befreiend es gewesen sein muss, als die Aufmerksamkeit im vergangenen Jahr etwas nachließ.

Am Ende hat man das Gefühl, die Band und ihre Mitglieder wirklich kennengelernt zu haben. Bei der Schonungslosigkeit, mit der eigene Fehler eingestanden und eigene Lügen in der Vergangenheit als solche entlarvt werden, muss dieses Buch einfach der Wahrheit entsprechen. Wenn etwas nervt, dann der wiederholte Hinweis auf die eigene Unkommerzialität: Keine Firmenveranstaltungen, Werbebanner am Konzertort bitte abnehmen – aber dann begeistert annehmen, wenn bei “Rock am Ring”, diesem Marketingfestival mit integriertem Konzertbetrieb, der Headliner abspringt! Wenn die Band sich dann allerdings über die Rezeption am Nürburgring freut, glaubt man ihnen schon fast wieder, dass dort tatsächlich mal für die Länge eines Konzerts keine Hunderttausend Dosenbier-Asis, sondern echte Musikfans auf dem Gelände herumliefen.

Am Ende weiß man: Wir Sind Helden werden nie Rock’n’Roll sein, sind aber grundsympathisch. Sie machen tolle Musik und können sogar Bücher schreiben. Das soll ihnen erst mal einer nachmachen.

Wir Sind Helden – Informationen zu Touren und anderen Einzelteilen
Fischer Verlag
12,95 Euro

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Literatur

Er, Ich, Über-Ich

Es ist natürlich reiner Zufall, dass ausgerechnet in dem Herbst, in dem das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass Maxim Billers Roman “Esra” verboten bleibt, weil er zu nah an der Realität sei und die Persönlichkeitsrechte der “Protagonisten” verletze, ein Roman erscheint, der der Wirklichkeit so nahe kommt, dass er schon fast die Frage aufwirft, ob es sich überhaupt noch um einen Roman handelt: Die Hauptfigur in Thomas Glavinic’ Roman “Das bin doch ich” heißt Thomas Glavinic, ist Schriftsteller, hat gerade einen Roman fertiggestellt und wartet auf dessen Veröffentlichung. Er kämpft sich durch den Alltag mit Frau, Kleinkind und Neurosen, trinkt regelmäßig viel zu viel und ist viel im österreichischen Literatur- und Kulturbetrieb unterwegs. Ansonsten passiert wenig.

Es ist weniger die Handlung, die “Das bin doch ich” zu einem ungewöhnlichen Buch macht. Sie ist gleichsam nicht vorhanden und Glavinic (der echte wie der literarische) hat mit “Der Kameramörder” und “Die Arbeit der Nacht” bedeutend handlungsreichere Romane geschrieben. “Das bin doch ich” lebt von der vordergründig aufgelösten Grenze zwischen Autor und Hauptfigur, von der ständigen Frage, welche Roman-Passagen abgeschriebene Wirklichkeit und welche Fiktion sein könnten.

Glavinic (der Autor) war aber klug genug zu erkennen, dass solche postmodernen Expositionen alleine einen Roman von 230 Seiten nur schwerlich tragen können, und so lässt er seinen Thomas Glavinic im Alltag absurde, quälende und zum Teil richtig peinliche Geschichten erleben, die er mit unprätentiöser Sprache erzählt. Das liest sich leicht und unterhält.

Damit offenbaren sich auch schon die zwei Hauptlesarten von “Das bin doch ich”: Die literaturwissenschaftliche Herangehensweise, bei der man sich die ganze Zeit mit Erzähltheorien und dem Konzept von Fiktion und Realität beschäftigen kann, und die Klatschvariante, bei der man alles Beschriebene für bare Münze nimmt und sich an den vermeintlichen (dann aber doch eher unspektakulären) Einsichten in die österreichische Kulturszene erfreuen kann. Angst vor juristischen Schritten muss Glavinic dabei kaum haben: Von allen beschriebenen Figuren ist der größte Säufer und Neurotiker seine Hauptfigur, also letztlich er selbst.

Dabei bleibt Glavinic, die Romanfigur, trotz aller Weinerlichkeit und seinem offensichtlichen Unvermögen, mit seinem Alltag zurechtzukommen, immer sympathisch. Nur wenn er morgens ängstlich vor dem Computer hockt und sich fragt, wem er in der vorherigen Nacht wieder betrunkene E-Mails geschrieben haben könnte, wird die Situation bei allem Amüsement unglaubwürdig: “Guck doch einfach in Deinen verdammten ‘Gesendet’-Ordner!”, möchte man ihm da zurufen und würde damit abermals die Grenzen der Literatur sprengen, mit denen Glavinic, der Autor, die ganze Zeit hantiert. Eine dritte Lesart wäre natürlich, sich weder auf Theorien noch auf Klatsch zu konzentrieren, sondern das Buch als gelungene Mischung aus beidem und als interessante Unterhaltung zu betrachten.

Die außergewöhnliche Ausgangslage des Romans sorgt schnell dafür, dass man sich genauer mit seiner Form als mit seinem Inhalt auseinandersetzt. Lässt man sich auf das Spiel ein und akzeptiert das Geschriebene als im großen und ganzen real, dann ist “Das bin doch ich” ein interessante Studie über einen Autor, der mit seiner Tagesfreizeit nichts anzufangen weiß, was im Ergebnis dazu führt, dass er einen Meta-Roman über sich und seine Situation schreibt. Bei dieser Konstruktion muss man dann natürlich vorsichtig sein, dass sie einen nicht bei längerem Nachdenken in den Wahnsinn treibt, so wie der Roman-Glavinic mit seiner Hypochondrie, seiner Flugangst und seiner immer konfuser werdenden Konversation mit seinem Freund, dem Bestsellerautor Daniel Kehlmann (“Die Vermessung der Welt”), auch immer ein bisschen wahnsinniger zu werden scheint.

Unabhängig vom tatsächlichen Realitätsgehalt zeichnet “Das bin doch ich” ein glaubwürdiges Bild aus dem Leben eines Kreativen mit all seinen Macken, Sorgen und Ängsten. Glavinic pendelt dabei gekonnt zwischen Klischees und eher überraschenden Anekdoten aus der Welt der Hochkultur und bringt den deutschen Lesern ganz nebenbei seine österreichische Heimat und vor allem Wien näher. Wenigstens einmal will man auch beim Inder am Naschmarkt essen gehen, wie es der Protagonist jeden Tag tut. Vielleicht würde man dort tatsächlich auf den echten Thomas Glavinic treffen. Vielleicht aber auch nicht.

Eine besondere Ironie der Geschichte (nicht des Romans): Mit “Das bin doch ich” gelang Glavinic das, worauf sein Romanheld mit dem Vorgänger “Die Arbeit der Nacht” vergeblich hofft – der Sprung auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.

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Literatur

Verschwör dich gegen dich

Kommt ein BILDblogger in die Buchhandlung und stolpert über ein Buch mit dem Untertitel “Was 2007 nicht in der Zeitung stand”. Er blättert ein wenig darin, denkt “Das hört sich ja ganz interessant an”, fragt sich, woher ihm der Name Gerhard Wisnewski bekannt vorkommt und zahlt den sympathischen Preis von sechs Euro.

Und damit lag “Verheimlicht, vertuscht, vergessen” (von nun an: “VVV”) vor mir. Im Vorwort erklärt Wisnewski die Intention seines “kritischen Jahrbuchs”:

Mein Ziel war es, bekannte Themen nochmals unter die Lupe zu nehmen und unbekannte Themen aufzudecken, um das Geschichtsbild dieses Jahres ein wenig zu korrigieren.

Ein hehres Ziel, wenngleich er einen Absatz später immerhin einräumt, nicht im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Gute 300 Seiten später weiß der Leser, wo Wisnewski Korrekturbedarf sieht: Es gibt keine vom Menschen verursachte globale Erwärmung, keine Vogelgrippe und kein Aids; die Anschläge des 11. Septembers 2001 wurden von den Amerikanern selbst geplant (wobei einige Medien im Vorfeld informiert waren) und mit Hilfe von Al Gore soll eine “Klimaplanwirtschaft”, eine “Diktatur mit lächelndem Gesicht, aber mit eisernen Fesseln” installiert werden um die Macht der USA in der Welt weiter auszubauen.

Uff! Da sollte man sich vielleicht erst mal noch mal anschauen, wer dieser “bekannte Erfolgsautor und Enthüllungsjournalist” (so der Verlag) Gerhard Wisnewski eigentlich ist. Er ist Jahrgang 1959, hat Politikwissenschaften studiert, als Journalist gearbeitet und mehrere Sachbücher geschrieben. Zum Beispiel “Lügen im Weltraum” (die Mondlandung hat es so nicht gegeben), “Das RAF-Phantom” (die dritte Generation der RAF hat es so nicht gegeben), “Mythos 9/11” und “Operation 9/11” (den 11. September hat es so nicht gegeben). Über den 11. September hat Wisnewski sogar einen Dokumentarfilm für den WDR gedreht: “Aktenzeichen 11.9. ungelöst” wurde vom “Spiegel” derart zerpflückt, dass der WDR anschließend eine weitere Zusammenarbeit mit Wisnewski und seinem Co-Autor ausschloss.

Vorsichtig ausgedrückt sind Wisnewskis Theorien also mit Vorsicht zu genießen. Und in der Tat sind manche Beweisführungen so krude, manche Quellen so dubios und manche handwerklichen Fehler so offensichtlich, dass es der Glaubwürdigkeit des Buches erheblich schadet. Das ist tragisch, denn in “VVV”, das die Ereignisse von Oktober 2006 bis September 2007 behandelt, gibt es durchaus Kapitel, die lesenswert sind. So ist zum Beispiel eine kurze Rückschau auf die verschiedenen Bundesminister des Inneren in den letzten Jahrzehnten hochinteressant, weil hier eindrucksvoll aufgelistet wird, wie es um die Verfassungs- und Gesetzestreue der jeweiligen Herren so bestellt war. Auch Wisnewskis Kritik an Wahlautomaten, ePässen und RFID-Chips ist weitestgehend fundiert und sinnvoll, seine statistischen Vergleiche der Gefahren von Vogelgrippe und internationalem Terrorismus mit denen im Straßenverkehr sind angenehm Hysterie-bremsend. Einige der Kapitel über ungelöste Kriminalfälle laden zumindest zu einer näheren Beschäftigung mit den Quellen ein, sorgten aber auch dafür, dass ich mich nach der Lektüre fühlte wie als Vierzehnjähriger nach dem “Akte X”-Gucken, als ich bei eingeschaltetem Licht einschlafen musste.

Wisnewski ist davon überzeugt, dass sich die Weltwirtschaft unter amerikanischer Führung gerade im Zusammenbruch befindet (was ich als Wirtschaftslaie nach den Ereignissen vom Montag nicht mal ausschließen kann), vermutet hinter den Vogelgrippe-Fällen in Deutschland eine Verschwörung von Pharma-Industrie, Geflügelgroßbetrieben und dem Friedrich-Loeffler-Institut und wärmt die alte Verschwörungstheorie um die BBC am 11. September 2001 wieder auf. Ihn zu widerlegen erscheint in den meisten Fällen unmöglich, da es ja zum Wesen jeder besseren Verschwörungstheorie gehört, dass ihre Verbreiter dem Rest der Welt unterstellen, selbst Verschwörer oder deren Opfer zu sein. Offizielle Quellen gelten eh nicht, unabhängige Sachverständige sind Teil der Verschwörung und wer die “Gegenbeweise” kritisiert gehört zu denen. Unter dieser Prämisse kann natürlich keine Seite irgendwas beweisen – oder es haben einfach beide Recht.

Ich tue mich schwer damit, “VVV” pauschal als substanzlose Verschwörungstheorie und albernes Gewäsch abzutun, weil in dem Buch einige interessante Denkansätze auftauchen. Auf der anderen Seite steht darin aber auch viel Quark, der bei mir teils für Gelächter, teils für Wutanfälle gesorgt hat:

  • Die alberne RTL-Comedy “Freitagnachtnews” lobt Wisnewski gleich an zwei Stellen als “Satiresendung” bzw. die “zusammen mit Sieben Tage, sieben Köpfe […] einzige Sendung, die man sich im Deutschen Fernsehen überhaupt ansehen konnte”.
  • Das Kapitel über den unter mysteriösen Umständen verstorbenen Felix von Quistorp beginnt Wisnewski mit dem Hinweis, dass in Deutschland jährlich etwa 50.000 Kinder als vermisst gemeldet werden – um ein paar Zeilen später auf Fälle von verwahrlosten und misshandelten Kindern zu sprechen zu kommen und zwischendurch noch Madeleine McCann zu erwähnen, die nun kaum zu den in Deutschland vermissten Kindern zählen dürfte.
  • Wisnewski will Murat Kurnaz dessen Folterbeschreibungen nicht glauben, weil diesem “selbst die Beschreibung schlimmster Folterpraktiken” “keine Gefühlsregungen” entlocke. Eine etwas dünne Logik, wenn man sich vorstellt, welche psychischen Folgen solche Folter auslösen muss.
  • Im Fall des Amoklaufs von Blacksburg zweifelt er die offizielle Version mit der Begründung an, es habe ja gar keine Verbindung zwischen dem vermeintlichen Täter und seinen Opfern gegeben. Dabei dachte ich immer, diese Willkür gehöre zum Konzept des Amok.
  • Das Kapitel über Mark Medlock (bzw. die Praktiken von RTL bei der telefonischen Abstimmung) beginnt er mit dem Klischeesatz jedes Kulturpessimisten

    Das deutsche Showgeschäft erreicht einen neuen künstlerischen und ästhetischen Tiefpunkt.

    um hinzuzufügen, Medlock sehe “schlecht” aus, singe “schlecht” und spreche “schlecht”:

    Dem Wahren, Schönen, Guten setzt DSDS das Unwahre, Hässliche und Schlechte entgegen.

  • Völlig unreflektiert zitiert Wisnewski einen Wissenschaftler, der das “befürchtete Übergreifen der Seuche [Aids, Anm. des Bloggers] auf die heterosexuelle Bevölkerung” in Abrede stellt.
  • Den Status der “Bild”-Zeitung als Hofberichterstatterin im “Arbeiter- und Merkelstaat” will Wisnewski allen Ernstes mit einer Meldung über die Qualität von Billig-Sonnencremes belegen.
  • Zu Eva Herman fällt ihm ein, sie sei Opfer eines böswilligen Komplotts geworden. Ihr viel gescholtenes Zitat sei doch “eindeutig” gewesen. Dabei hatte ich gehofft, man könnte sich inzwischen wenigstens darauf einigen, dass das ganze Elende dieser unseligen Debatte nur entstanden ist, weil sich Frau Herman im freien Vortrag in ihren Nebensätzen verheddert hatte und sich hinterher zu fein war, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Wir haben gesehen, dass man Hermans berühmten Satz in zweierlei Richtungen auslegen kann und genau das sollte doch wohl ein Kriterium für Uneindeutigkeit sein.
  • Wisnewski macht aber zwischendurch auch noch mal selbst die Herman, wenn er die “erheblichen” Unterschiede im Verhalten von Jungen und Mädchen am folgenden Beispiel beweisen will:

    Während Mädchen im Handarbeitsunterricht brav sticken, schweifen Jungen gedanklich ab und gucken aus dem Fenster.

Solche Bücher machen mich ganz gaga, weil ich die meiste Zeit damit beschäftigt bin, mich selbst zu fragen, ob ich dem Autor bei diesem oder jenem Thema überhaupt noch zustimmen kann, wenn ich an anderen Stellen nicht nur nicht seiner Meinung bin, sondern sein Vorgehen mal für falsch, mal für gefährlich halte. Natürlich kann ich das, denn letztlich muss ja sowieso jeder für sich selbst entscheiden, was er glaubt und was nicht. Die Quintessenz der Lektüre kann also nur lauten, allen Quellen mit einer gewissen Grundskepsis zu begegnen. Für diese Erkenntnis brauche ich aber keine 300 Seiten Text.

Der BILDblogger fand dann übrigens zumindest doch noch was: Im Kapitel über die Haftentlassung Brigitte Monhaupts zitiert Wisnewski die “sehr empfehlenswerte, Bild-kritische Website www.bildblog.de”.

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Literatur

Ist das Lesen nicht schön?

In einem Anfall nur geringer Selbstüberschätzung dachte ich einmal “Was Elke Heidenreich kann, kann ich schon lange”, schnappte mir die Videokamera und erzählte dieser, welche Bücher man denn meine Meinung nach zu Weihnachten verschenken solle.

Herausgekommen ist ununterbrochenes Gesabbel, das man auch gut als bilderlosen Podcast hätte fabrizieren können, aber ich wollte ja unbedingt ein Video draus machen.

Bitte sehr, hier ist es:

Hier klicken, um den Inhalt von de.sevenload.com anzuzeigen


Link: sevenload.com

Anders als Elke Heidenreich brauche ich aber nur 16 Minuten. Das heißt, ich rede doppelt so schnell.

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Literatur

IV For Pop Culture

Chuck Klosterman IV (Cover der gebundenen Ausgabe)Manchmal neige ich zu sehr wohlwollenden Zukunftsprognosen. An diesem Eintrag war deshalb nahezu alles falsch: Das bestellte Buch kam nicht (wie wir inzwischen wissen) am darauffolgenden Montag an, sondern konnte erst nach einer Woche aus seiner Gefangenschaft befreit werden. Auch brauchte ich für die Lektüre nicht die veranschlagte eine Woche, sondern derer drei.

Jetzt aber: “Chuck Klosterman IV: A Decade of Curious People and Dangerous Ideas” ist (wie der Titel schon nahelegt) das vierte Buch von Chuck Klosterman. Chuck Klosterman ist ein amerikanischer Musik-, Film- und Popkulturjournalist, der lange Jahre für das “Spin Magazine”, aber auch für “Esquire”, das “New York Times Magazine” und diverse andere Druckerzeugnisse gearbeitet hat. Ich kam mit seiner Arbeit erstmals bewusst in Kontakt, als der deutsche “Rolling Stone” im vergangenen Jahr das Kapitel über Kurt Cobain aus dem damals frisch auf deutsch erschienenen Klosterman-Buch “Eine zu 85% wahre Geschichte abdruckte. Das Buch heißt im Original “Killing Yourself To Live” (“85% Of A True Story” ist der Untertitel, sooo abwegig ist deutsche Variante dann doch nicht) und Klosterman reist darin durch die halben USA und klappert dabei Orte ab, an denen Rockstars zu Tode gekommen sind.

Als ich ein paar Monate später bei Borders in San Francisco stand und mich nicht entscheiden konnte, mit welchem Buch ich als nächstes meine Kreditkarte belasten sollte, fiel mir “Killing Yourself To Live” in die Hände. Ich kaufte es, las es in einer Woche durch1 und wurde Fan. In den nächsten Wochen kaufte ich mir nacheinander “Sex, Drugs and Cocoa Puffs”, eine Artikel- und Essaysammlung über Popkultur im weiteren Sinne, und “Fargo Rock City”, ein Buch über Heavy Metal, Hardrock und Landleben, das sehr spät meine Begeisterung für die Musik von Guns N’ Roses weckte.

“Chuck Klosterman IV” war im letzten Herbst schon als Hardcover erschienen, aber ich wollte es zwecks besserer Optik im Bücherregal gerne ebenfalls als Taschenbuch haben.2 Dafür hab ich jetzt auch ein paar zusätzliche Essays und Fußnoten mit drin, die bei der Erstveröffentlichung teilweise noch gar nicht geschrieben waren. Essays und Fußnoten gibt es in dem Buch eine ganze Menge, denn es vereint – wie der Untertitel schon andeutet – Texte aus zehn Jahren und ist in drei Teile gegliedert: “Things that are true”, “Things that might be true” und “Something that isn’t true at all”.

“Things that are true” sind Porträts über Musiker wie Britney Spears, U2, Radiohead, Wilco oder Billy Joel, aber auch Reportagen über The-Smiths-Fantreffen voller Latinos, Goths in Disneyland und eine einwöchige Chicken-McNuggets-Diät (acht Jahre vor “Super Size Me”). Klosterman hat ihnen kleine Einführungen vorangestellt, die mitunter mindestens so unterhaltsam und erhellend sind wie die Artikel selbst. Er bemüht sich, seine Themen und Porträtierten ernst zu nehmen (sogar Britney Spears) und beschreibt Szenen, Gespräche und Ereignisse mit einem unglaublichen Gespür für Sprache und Komik. Dabei kommt es ihm sehr zu Gute, dass angelsächsischer Journalismus (im Gegensatz zum deutschen) dem Verfasser eine eigene Position und sogar ein Ich zugesteht. Statt umständlicher Konstruktionen kann er somit ganz persönliche Eindrücke bringen, die viel aussagekräftiger sind als es die Vortäuschung von Objektivität je wäre. Fast nie erhebt er sich über den Gegenstand, nur Europäer und Soccer sind Themen, bei denen er schnell emotional wird.

“Things that might be true” vereint zahlreiche “Esquire”-Kolumnen zu eher abstrakten Gedanken. Er jongliert mit kulturtheoretischen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Themen, was ihm meistens sehr gut gelingt, worin er sich mitunter aber auch ein wenig verheddert. Diese Texte regen aber, mehr als die aus Teil Eins, zum Nachdenken an und ich bin mir sicher, dass sie an amerikanischen Unis bereits Gegenstand einiger Seminare und Hausarbeiten sind. Ihnen vorangestellt ist je eine (mitunter höchst hypothetische Frage), die den Leser schon mal an den Rand des Wahnsinns bringen kann. Beispiel gefällig?

Q: Think of someone who is your friend (do not select your best friend, but make sure the person is someone you would classify as “considerably more than an acquaintance”).
 This friend is going to be attacked by a grizzly bear.
 Now, this person will survive this bear attack; that is guaranteed. There is a 100 percent chance that your friend will live. However, the extent of his injuries is unknown; he might receive nothing but a few superficial scratches, but he also might lose a lim (or multiple limbs). He might recover completely in twenty-four hours with nothing but a great story, or he might spend the rest of his life in a wheelchair.
 Somehow, you have the ability to stop this attack from happening. You can magically save your friend from the bear. But his (or her) salvation will come at a peculiar price: if you choose to stop the bear, it will always rain. For the est of your life, wherever you go, it will be raining. Sometimes it will pour and sometimes it will drizzle – but it will never not be raining. But it won’t rain over the totality of the earth, nor will the hydrological cycle be disrupted; these storm clouds will be isolated, and they will focus entirely on your specific whereabouts. You will never see the sun again.
 Do you stop the bear and accept a lifetime of rain?

Also bitte, wie brillant ist denn sowas?

“Things that aren’t true at all” enthält eine etwa dreißigseitige Kurzgeschichte über einen jungen Filmkritiker, dem einige ziemlich abgefahrene3 Sachen passieren. Die Geschichte ist gut geschrieben, mit der Klosterman-üblichen Liebe zu ausgefallenen Details und sie ist nur etwa dreißig Seiten lang. Viel mehr positives lässt sich darüber nicht sagen, sie ist halt “ganz nett”, aber ihr Fehlen hätte für das Buch keinen großen Makel bedeutet.

Wenn Sie sich jetzt seit ungefähr dem zweiten Absatz fragen, ob Chuck Klosterman “sowas wie der amerikanische Benjamin von Stuckrad-Barre” sei: Schwer zu sagen. Beide beherrschen ihr Handwerk sicherlich sehr gut, aber es gibt schon deutliche Unterschiede, die ganz profan bei der Sprache anfangen (ich liebe dieses Formelhafte der englischen Sprache, ihre idiomatischen Wendungen und die zahlreichen Möglichkeiten, sich vom Beschriebenen zu distanzieren) und bei der Einstellung der Autoren gegenüber ihren Inhalten aufhören.

“Chuck Klosterman IV” ist für alle, die sich für Popkultur im weiteren Sinne (und für amerikanische Massenkultur) interessieren, die gerne gut geschriebene Porträts und Reportagen lesen und sich für etwas abseitige Gedankengänge erwärmen können. Und für kuriose Leute.

1 Es ist bedeutend dünner als das neue Buch (257 zu 416 Seiten).
2 Ironie der Geschichte: Die Bücher stehen gar nicht bei mir im Regal. Das ist nämlich voll. Sie liegen jetzt auf einer Reihe stehender Bücher und werden noch dazu von einer Borussia-Mönchengladbach-Flagge verdeckt.
3 Demnächst an dieser Stelle: Die zehn schönsten Achtziger-Jahre-Adjektive.

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This land is your land, this land is my land

Die Frage, was eigentlich typisch deutsch sei, ist sicherlich bedeutend älter als die Bundesrepublik und nicht selten wird als Antwort gegeben, eben so eine Frage sei typisch deutsch. Wer von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückkehrt, wird bei seinen Landsleuten eine umfangreiche Sammlung andernorts nicht vorgefundener Marotten entdecken (ich persönlich würde “Rauchen wie ein Schlot” und “ständiges Meckern” nennen, sowie das schlechte Wetter, was aber nicht an den Leuten selbst liegt). Wer gar als Ausländer nach Deutschland kommt, wird einen sehr eigenen Blick auf das Land und seine Menschen haben und wenn dieser Blick gut geschärft ist und der Blicker ein Buch darüber schreibt, dann ist klar, dass ich das lesen muss.

Eric T. Hansen wuchs auf Hawaii auf, kam als Mormonenmissionar nach Deutschland und schwor als erstes seinem Missionarentum ab. Stattdessen beschäftigte er sich ausgiebig mit der deutschen Geschichte, Literatur und Gesellschaft. Sein Buch “Planet Germany” lässt sich am Besten als Reiseführer für Einheimische beschreiben: Hansen greift darin typisch deutsche Selbsteinschätzungen auf und zerrupft sie genüsslich. Die Deutschen sind Workoholics? Nirgendwo sonst wird mehr Geld für Urlaub ausgegeben. Die Deutschen lieben die Hochkultur? Es gibt nichts erfolgreicheres als Volksmusiksendungen. Ganz nebenbei erklärt Hansen den aufmerksamen Lesern so einiges über die Geschichte Deutschlands, seine bedeutendsten Erfinder und zieht dabei immer wieder Parallelen zu seiner eigentlichen Heimat, den USA. Schnell wird deutlich: was den Deutschen fehlt, ist vor allem Selbstbewusstsein. Der Deutsche nörgelt am liebsten und redet alles schlecht – am liebsten sein eigenes Heimatland.

Dabei lernt man (gerade als Deutscher) so einiges: wenn Hansen in wenigen Sätzen klar macht, dass weite Teile der deutschen Wirtschaft heute noch Regelungen unterworfen sind, die aus dem Mittelalter stammen, möchte man sofort der FDP beitreten. Trotzdem ist das Buch gut, es ist unterhaltsam und lehrreich. Und: es wirft Fragen auf, die man sich selbst wohl noch nie gestellt hat. Ob das Buch einer differenzierten Betrachtung stand hielte, ist eigentlich zweitrangig, aber nicht mal auszuschließen: Hansen hat sehr gründlich recherchiert und arbeitet sich von dort mit einer Mischung aus gesundem Menschenverstand und Schalk im Nacken weiter. Allein das Kapitel, in dem er namhafte Politiker erklären lässt, was noch mal das Besondere an Goethe und Schiller war, sollte in jedem Deutsch-LK besprochen werden: Von sechsen geht genau einer (Lothar Bisky von der Linkspartei), wenigstens halbwegs angemessen auf das literarische Schaffen der beiden ein. Dafür schafft es jede Partei, diese “Dichter und Denker” mit dem eigenen Programm auf Linie zu bringen.

Die ganze Zeit bleibt klar: Eric T. Hansen mag die Deutschen und ihr Land und er kann beim besten Willen nicht verstehen, warum sie es nicht selbst auch mögen. Den schmalen Grat zwischen “Schlussstrich” und “Tätervolk” lässt er nicht aus, aber er beschreitet ihn so leichtfüßig, wie es wohl nur ein Ausländer kann. Das, was Hansen anspricht, wäre dann möglicherweise “positiver Patriotismus”, nicht das Wedeln mit Fähnchen bei Sportgroßveranstaltungen. Ein paar Argumentationen und Ideen erinnern dann auch ein wenig an Michael Moore – nur dass der die freie Marktwirtschaft vermutlich nicht ganz so laut lobpreisen würde.

Ich würde mir wünschen, dass jeder dieses Buch liest – danach können wir weiterdiskutieren.