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Unterwegs Gesellschaft

Scheint die Sonne auch für Nazis?

Auf Demonstrationen ist es nicht groß anders als im Fußballstadion oder auf Rockkonzerten: man ist umgeben von Menschen, mit denen man ganz offensichtlich gemeinsame Interessen teilt, aber wenn man sie sich so ansieht und anhört, kann man sich beim besten Willen nicht mehr vorstellen, mit ihnen irgendetwas gemein zu haben.

Die NPD hat für heute in Bochum zu einer Demonstration gegen “Überfremdung”, “Islamisierung” und “Ausländerkriminalität” aufgerufen und die Bochumer Öffentlichkeit reagierte mit Gegenveranstaltungen. Die Hauptkundgebung, auf die ich auch hier in der Sidebar hingewiesen hatte, stand unter dem Motto “Wir sind Bochum – Nazis sind es nicht!”, was einmal mehr ein beeindruckend merkwürdiger Slogan ist. Denn zum einen sollte es ja genau darum gehen, dass gewisse rechtsextreme Positionen inzwischen mitten in der Gesellschaft angekommen und also sehr wohl auch Teil dieser Stadt sind (ob man will oder nicht), zum anderen: Was sind Nazis dann? Wanne-Eickel?

Trotzdem ging ich heute Mittag natürlich zum Dr.-Ruer-Platz, wo sich etwa 2.000 Menschen versammelt hatten. Das ist im Vergleich zu den etwa 150 marschierenden Nazis zwar beeindruckend (Redner: “Wir sind mehr wie die Gegenseite.” – Publikum: “Als!”), andererseits aber gerade mal 0,5% der Einwohner der Stadt. Aber irgendwie konnte ich, nachdem ich fünf Minuten den Rednern gelauscht hatte, nur zu gut verstehen, wenn man mit dieser Veranstaltung nichts zu tun haben wollte: Da wurde das Scheitern der Konferenz von “Pro Köln” als leuchtendes Beispiel für zivilen Widerstand dargestellt und mit keinem Wort erwähnt, dass prügelnde und Steine werfende Autonome das Bild des friedlichen Protests erheblich gestört hatten. Immerhin zu Gewaltlosigkeit wurde aufgerufen, woran sich die vielen älteren Leute und Kinder auf dem Platz vermutlich auch von sich aus gehalten hätten. Die Antifa, denen man das hinter die Löffel hätte schreiben müssen, hatte eine eigene Veranstaltung, ein paar hundert Meter weiter.

Wirklich zu viel wurde es mir dann, als ein DGB-Mann ans Mikrofon trat und losbrüllte. Bei geifernden Menschen ist es mir egal, welche Position sie vertreten und wie sie heißen: ich kann das Geschrei nicht ertragen und es ist mir völlig schleierhaft, wie sie damit überhaupt ein Publikum erreichen können. Aber vielleicht lenkt sowas einfach ab, wenn man nichts zu sagen hat (Hitler- und/oder Lafontaine-Vergleiche bitte selbst einsetzen).

Von allen Rednern blieb mir nur ein junger Musiker im Gedächtnis, dessen Ansprache über “Nazis gehören hier nicht hin!” und “Verbietet endlich die NPD!” hinausging. Er geißelte die allgemeine Islamophobie, die auch vor “Mainstreammedien” wie “‘Spiegel’, ‘Stern’ und ‘Focus'” nicht Halt mache. Dieser Hauch von inhaltlicher Auseinandersetzung kam bei den Zuhörern aber nicht so gut an wie das Gebrüll des DGB. Kurz darauf war die Kundgebung vorbei.

Beeindruckender als diese kleine Massenveranstaltung, auf denen ich mich sowieso nie besonders wohl fühle, waren die vielen Menschen, die mit Aufklebern und Buttons auf der Jacke durch die Stadt liefen und so ihre ganz eigenen Zeichen gegen die Nazis setzten. Nennen Sie mich pathetisch, aber eine alte Dame, die beim Wochenendeinkauf “No Go für Nazis” auf dem Pelzmantel kleben hat, ist ein viel stärkeres Bild als ein paar Tausend Leute mit bemalten Bettlaken und SPD-Fahnen.

Der Aufmarsch der NPD läuft zur Stunde noch. Sie ziehen vorbei an Plakaten, auf denen “Nazis haben kleine Pimmel” steht, und an Kirchen, deren Glocken Sturm läuten und so die Parolen weitgehend übertönen.

Liveticker dazu gibt es bei den Ruhrbaronen, den Ruhrnachrichten und via twitter vom Westen.

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Digital

Geht die Welt heute unter, geht sie ohne mich

Gestern Nachmittag wurde in der Bochumer Innenstadt eine Zehn-Zentner-Bombe aus dem zweiten Weltkrieg entdeckt. Die Gegend (inklusive des Bermuda3ecks) wurde evakuiert, Straßen und Bahnstrecken gesperrt.

Gerade wollte ich mich mal informieren, ob die Entschärfung denn inzwischen wenigstens vorbei sei und alles gut geklappt hat:

Bombenfund: Klinik und Altenheim evakuiert. Bei Ausschachtungsarbeiten für die neue Kanalisation an der Viktoriastraße in unmittelbarer Nähe der Marienkirche entdeckte heute, 20. Oktober, gegen 15.30 Uhr ein 43 Jahre alter Baggerfahrer einen Blindgänger, der in den Abendstunden entschärft werden soll. mehr... WAZ Bochum, 20.10.2008, Norbert Schmitz

“Der Westen”, das Portal der WAZ-Gruppe, das so gerne “RP Online” als führendes Regionalzeitungsportal ablösen würde, wartet im Bochumer Lokalteil mit einer undatierten Meldung von irgendwann gestern Nachmittag auf, außerdem gibt es eine ebenso undatierte Meldung mit Agenturmaterial auf der Startseite.

Ganz anders die Lokalseite der “Ruhr Nachrichten”:

Aufatmen in der südlichen Innenstadt: Die 500-Kilo-Bombe ist entschärft
BOCHUM Der Bombenalarm in der Bochumer Innenstadt ist aufgehoben. Experten des Kampfmittelräumdienstes haben die 500-Kilo-Bombe am Montagabend um 23 Uhr entschärft. Nach dem Fund des Blindgängers am Nachmittag war die südliche Innenstadt im Umkreis von einem halben Kilometer rund um den Fundort evakuiert worden. 6000 Menschen waren hiervon betroffen, der Verkehr brach zusammen. mehr...

Die hat einen Artikel von 23:23 Uhr, der es mit etwas Glück noch in die Print-Ausgabe schafft und in den ersten zwei Sätzen des Vorspanns alle wichtigen Informationen liefert:

Der Bombenalarm in der Bochumer Innenstadt ist aufgehoben. Experten des Kampfmittelräumdienstes haben die 500-Kilo-Bombe am Montagabend um 23 Uhr entschärft.

Ach, und auf der Startseite von ruhrnachrichten.de ist es im Moment die Top-Meldung.

Nachtrag, 08:14 Uhr: Den Artikel im überregionalen Teil hat “Der Westen” jetzt durch eine dpa-Meldung mit der geistreichen Überschrift “Bombenfund: 6000 Menschen in Bochum evakuiert” ersetzt.

Auf der Bochumer Seite sieht es immer noch so aus wie heute Nacht. Vermutlich ist die Lokalredaktion der “WAZ” einfach mitevakuiert worden und seitdem hat dort kein Mitarbeiter mehr einen Computer gefunden.

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Meine Ruhr-Uni (Teil 3)

Die letzten zehn Tage habe ich mit Filmen, Schneiden, Freunde treffen und Familie besuchen zugebracht (und in all der Zeit die neue Tomte-Platte bisher genau einmal hören können). Währenddessen hat mich die Weltgeschichte rechts überholt und vorwurfsvoll eine Weltwirtschaftskrise, ein Fernsehpreis-Skandälchen, ein Fußball-Skandälchen und einen toten österreichischen Politiker (also einen weiteren) auf meinem Schreibtisch abgeladen. Ich aber sage: “Ach, verzieh Dich, Weltgeschichte, über Dich werden noch genug andere schreiben!”

Stattdessen widme ich mich noch einmal meiner Ruhr-Uni, genauer: dem dritten Teil der Serie “Meine Ruhr-Uni” (s.a. Teil 1 und Teil 2). Heute geht’s da hin, wo ich ohne Quatsch am Abend nur ungern unterwegs wäre — und in die Uni-Bibliothek, die immer so schön nach Kindheit riecht.

Das alles in den letzten viereinhalb Minuten von “Meine Ruhr-Uni”:

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Natürlich wieder mit Dank an Kamerakind Fabian!

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Meine Ruhr-Uni (Teil 2)

Kommen wir nun zum zweiten Teil unserer kleinen Serie über die schönste Universität, an der ich je als Student eingeschrieben war.

Heute gehen wir in der Mensa essen und sehen uns mein Institutsgebäude genauer an:

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Wieder mal mit vielen Dank an Kamerakind Fabian!

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Meine Ruhr-Uni (Teil 1)

Schauen Sie mal in Ihren Kalender. Was sehen Sie da (von dem roten Kringel mal ab)?

Richtig: Heute vor fünf Jahren begann mein Studium an der Ruhr-Uni Bochum mit einer Informationsveranstaltung der Germanisten für Erstsemester bei Dr. Ralph Köhnen und Dr. Benedikt Jeßing.

Inzwischen habe ich längst meinen Bachelor-Abschluss, aber die Ruhr-Uni ist natürlich immer noch etwas besonderes für mich. So besonders, dass ich sie Ihnen vorstellen will — mit subjektiven Eindrücken, aber auch mit einigen Fakten.

Im ersten Teil der neuen Serie “Meine Ruhr-Uni”, die sich an Erstsemester, Eltern und sonstwie interessierte Leser dieses Blogs richtet, räumen wir heute mit einigen Klischees auf und verlaufen uns in einem obskuren Gebäude namens “HZO”:

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Mit besonderem Dank an Kamerakind Fabian!

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Rundfunk Gesellschaft

Nicht lustig

Vielleicht ist es ein grundsätzlicher Fehler, sich mit “TV Total” überhaupt auseinandersetzen zu wollen. Dieser allenfalls noch lauwarmen Mischung aus Resteverwertung und Crosspromotion, die inzwischen in etwa so schlimm ist wie das Unterschichtenfernsehen, das beim Start der Sendung vor neuneinhalb Jahren noch in den Einspielern zu sehen war. Dieser Show, die zuletzt Aufmerksamkeit erregte, weil sich ein Kandidat ins Studio erbrach. Aber weil ich die Sendung gestern Abend versehentlich gesehen habe, will ich mich doch mal kurz aufregen:

Vorgestern wurden die Spielorte für die Frauenfußball-WM 2011 in Deutschland bekannt gegeben — und Mönchengladbach und Bochum sind dabei!

Das Thema Frauenfußball finden die Gag-Autoren (und ich habe lange überlegt, ob ich das Wort in Gänsefüßchen packen soll, fand das dann aber zu Leserbrief-mäßig) von “TV Total” sowieso total lustig, weil sie da immer ihre Lesben-Witze, die Hans-Werner Olm und Jürgen von der Lippe seit Mitte der Achtziger unbesehen zurückgehen lassen, unterbringen können. Für gestern hatte man sich aber folgendes ausgedacht: Raab, der seine Witzchen wie immer mit einer “Scheißegal”-Haltung, bei der Harald Schmidt neidisch würde, von Pappen abzulesen versuchte, sollte immer wieder auf die Meldung zu sprechen kommen, aber bevor er die Spielorte vorstellen konnte, sollte immer irgendeine “total wichtige Eilmeldung” von der Sorte “Sack Reis in China umgefallen” eingeschoben werden. So unwichtig ist Frauenfußball nämlich, ha ha. Zusätzlich wurden zwei hässliche Männer als Mannsweiber kostümiert, “Birgit Prinz” und “Kerstin Garefrekes” genannt und immer wieder für später als Gäste angekündigt, wobei für ihren Auftritt am Ende – ha ha – natürlich keine Zeit mehr blieb.

Dass die deutsche Fußballnationalmannschaft der Frauen seit 1997 fünf internationale Titel gewonnen hat (zum Vergleich: die der Männer im gleichen Zeitraum null) — geschenkt. Es geht mir auch noch nicht mal um den unverholenen Sexismus, der solche Aktionen durchweht (der disqualifiziert die Macher der Sendung selbst laut genug). Es ist nur einfach so, dass solche Einlagen nicht mal lustig wären, wenn Raab sie in einem Clownkostüm und einem auf die Stirn getackerten Schild mit der Aufschrift “Lustig! Lachen” vortragen würde.

Allein zur Meldung, dass in den Stadien von Borussia Mönchengladbach und dem VfL Bochum Fußballländerspiele stattfinden sollen, fielen mir als Gladbach-Fan und Bochum-Sympathisant ein Halbdutzend Witze über die derzeitige Situation bei den beiden Mannschaften ein. Auch die Spielorte Augsburg, Dresden, Leverkusen, Sinsheim und Wolfsburg böten genug Möglichkeit, sich wenigstens über die Städte lustig zu machen, wenn man schon doof irgendwas bashen will. Sich irgendwas Witziges zu dem Thema auszudenken, ist erstens nicht schwer und zweitens Aufgabe von einem Haufen von Gag-Autoren.

Und dann die Nummer mit den “vergessenen Gästen”, die jegliches Timing vermissen ließ: Natürlich ist die auch noch schlecht geklaut, denn der Gag bei Jimmy Kimmel besteht ja darin, einen Weltstar zu “vergessen” und nicht nachgebaute Vertreterinnen einer Sportart, die medial sowieso nicht gerade überrepräsentiert ist. Wenn die Nummer überhaupt zu irgendwas taugte, dann als abschreckendes Beispiel.

Aber es sind ja nicht nur die Autoren. Die können sich viel erlauben, weil es in Deutschland sowieso keine guten Comedy-Shows als Konkurrenz gibt und der Humor der Deutschen nicht umsonst weltweiten Spott genießt. Es ist auch der Moderator, dem seine eigene Sendung so völlig egal ist, dass die besten Lacher in dem Moment entstehen, wenn es ihm selbst auffällt. Stefan Raab ist sicher ein verdienstvoller TV-Schaffender (vermutlich der Wichtigste in diesem Jahrzehnt), aber “TV Total” ist ein völliges Desaster.

Alles, wirklich alles an der Sendung ist schlimm: der Standup; die Ausschnitte, die inzwischen weitgehend unkommentiert und reflektiert abgenudelt werden; die Einspieler mit lustigen Straßeninterviews, die erstens soooo 1998 sind und bei denen zweitens die Fragen in der Nachbearbeitung von diesem Mann mit der ach-so-lustigen Stimme vorgelesen werden; die Gäste, die Raab völlig egal sind, und über die er die Hintergrund-Infos allenfalls während der Show liest.

Alle paar Wochen, wenn Tiere zu Gast sind oder die Hersteller von Elektrorollern, ist Raab bei der Sache. Dann macht es ihm Spaß und mit ein wenig Glück kommen dabei wirklich lustige, bisweilen brillante Aktionen rum. Wenn irgendein Redakteur Wert darauf legen würde, unterhaltsames Fernsehen zu produzieren, würde er an genau der Stelle ansetzen. Aber so lange ProSieben die Verträge trotz sinkender Quoten verlängert, scheinen alle zufrieden zu sein. Und wenn die einzige “Konkurrenz” ungefähr drei Mal im Jahr unter dem Titel “Schmidt & Pocher” versendet wird, ist das sogar fast nachzuvollziehen. Zuschauer, die echte Late-Night-Unterhaltung wollen, sehen sich eh die US-Originale im Internet an.

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Leben

Train In Vain

Seit 15 Jahren verkehrt zwischen den Hauptbahnhöfen von Bochum und Gelsenkirchen die Nokia-Bahn, deren wichtigste Haltestelle der Bahnhof Bochum-Nokia am Nokia-Werk in Bochum-Riemke ist.

Allein: Das Nokia-Werk gibt es nicht mehr, seit sich der finnische Handyhersteller spontan und unter Zahlung von Abfindungen aus der Stadt verabschiedet hat. Die Haltestelle und die Bahn-Linie der privaten Firma Abellio brauchen also einen neuen Namen, weswegen der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) einen Wettbewerb ins Leben gerufen hat, bei dem man seine Vorschläge einreichen kann.

Na, dann wollen wir doch mal anfangen:

  • BO-GE-n-Bahn (fährt ja zwischen Bochum und Gelsenkirchen und in einem schönen Bogen über das Bochumer Bermuda3eck)
  • Bermuda-Express (weil wegen Bermuda3eck; aus den Kommentaren bei den Ruhrbaronen)
  • Rimmelbahn (benannt nach RIM, der neuen Firma in den alten Nokia-Gebäuden; erfunden von Jens)
  • Blau-Weiß-Express (passt zwar schön zu den Erstligavereinen der beiden Städte, ist aber insofern albern, als die jeweiligen Stadien nur von Straßenbahnen angesteuert werden)
  • Urbahn (braucht ein bisschen länger, bis er zündet, wird sich aber bei Leuten, die in Restaurants namens “Ess-Bar” gehen, großer Beliebtheit erfreuen)
  • Truppenab-Zug (der heimliche Favorit der Partei “Die Linke”)
  • Western And Occidental Express (immerhin hält er in Bochum-West und die Zeit des Understatements muss im Pott endlich mal vorbei sein)
  • City Express (als Hommage an diese unfassbar schlechte ARD-Serie, die ich immer mit großer Begeisterung geschaut habe)
  • Starlight Express

Sehr cool wäre ja ein Coffee-And-TV-Express, aber ich fürchte, selbst wenn wir alle zusammenschmeißen, reicht das nicht aus.

Was meinen Sie?

[via Ruhrbarone]

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Leben

Gebt den Kindern das Kommando

Man kennt das aus vielen, vielen Hollywood-Komödien: es klingelt an der Tür und – Zack! – hat ein Mann ein Kind am Hacken, von dessen Existenz er nichts geahnt hat und mit dem er sich erst gar nicht und dann super gut versteht. Mir ist gestern auch ein Kind zugelaufen — allerdings konnte ich sicher sein, dass es nicht mein eigenes war.

Ich ging gerade auf die Rolltreppen in Bochums größtem Elektronikkaufhaus zu, als ich ein kleines Mädchen erblickte, das einsam zwischen Dampfbügeleisen und diesen komischen aufblasbaren Hemdenglattmachern stand, von denen niemand weiß, wie sie funktionieren und wer sie kauft.

“Ich muss da rauf”, sagte das Mädchen mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. “Meine Mama ist da oben und muss noch was bezahlen!”
“Und dann bist Du alleine hier unten?”, fragte ich ungläubig.
“Ja, aber ich muss da wieder rauf!”
“Und Deine Mama ist oben?”
“Ja”, wiederholte die Kleine und nagte nervös am Ohr ihrer Stoffente herum.
“Willst Du mit mir hochfahren?”, fragte ich und – Zack! – hatte ich ein Kind am Hacken.

Erstaunlich selbständig fuhr das Mädchen mit mir die Rolltreppen hinauf in den zweiten Stock. Blitzschnell verschwand sie ((Ich schreibe immer “das Mädchen” und “sie” — biologisches Geschlecht geht mir vor grammatikalischem.)) laut “Mama! Mama, bist Du hier?” rufend zwischen den Reihen von CD-Regalen. Ich wollte mich gerade den aktuellen Angeboten zuwenden, als ihr Gesicht wieder auf Höhe meiner Knie auftauchte und mich verwirrt anschaute. Mir fiel auf, dass die Stoffente nur noch ein Ohr hatte.

“Nicht da?”, fragte ich das Offensichtliche.
“Die muss hier sein, aber ich finde sie nicht”, entgegnete das Kind, nur minimal beunruhigt. Es ist das Privileg von Kindern und Paranoiden, sich die eigene Theorie nicht durch Fakten zerstören zu lassen.

Weil ich als Kind mal bei einem Stadtfest meine Eltern verloren hatte ((Also, keine Angst: Die Beiden leben noch und erfreuen sich bester Gesundheit, sie waren mir damals nur abhanden gekommen.)) und mit dem Gedanken, für den Rest meines Lebens unter der Rotbachbrücke an der katholischen Kirche schlafen zu müssen, durch die Gegend getaumelt war, dachte ich, dass es in dieser Situation doch sinnvoller wäre, aktiv zu werden.
“Sollen wir mal Deine Mama ausrufen lassen?”, fragte ich das Kind und mich einen Augenblick später, ob “ausrufen lassen” nicht vielleicht doch eine etwas zu komplexe Formulierung war. Überhaupt “ausrufen”, was soll denn das Wort heißen?

Die erste Information war geschlossen, an der zweiten mussten wir einige Zeit warten ((Im Nachhinein muss ich zugeben, dass es taktisch unklug war, das Kind direkt vor einer ein Meter hohen Theke und damit außerhalb der Sichtweite der Verkäufer abzustellen.)), ehe wir die Aufmerksamkeit der Bediensteten erregen konnten.
“Sie sucht ihre Mama”, erklärte ich und unterstrich das eben Gesagte mit einem Blick, von dem ich hoffte, er würde “Seid so freundlich und tut um Himmels Willen irgendwas!” ausdrücken.
Mit jeder Minute, die verstrich, wurden nämlich die Bilder eines Mobs von “Bild”-Lesern, die mit Mistforken und Fackeln diesen wahnsinnigen Studenten von der Entführung des unschuldigen Kindes abhalten wollten, vor meinem geistigen Auge schärfer. Ich überlegte, ob ich die Nummer meines Anwalts im Handy eingespeichert hatte, und war ausgesprochen froh, nicht auch noch irgendwie südländisch auszuschauen. Sie hätten mich sonst sofort erschossen.

“Äh”, sagte der Verkäufer, was jetzt nicht ganz meinen in ihn gesetzten Hoffnungen entsprach. “Am Besten geht Ihr ins Erdgeschoss. An der Information können die auch ausrufen!”
“Ah, okay. Vielen Dank”, sagte ich und freute mich auf eine weiter Tour durchs halbe Kaufhaus.

Ich wandte mich wieder der Kleinen zu: “Wir müssen wieder runter. Da können die dann Deiner Mama über Lautsprecher Bescheid sagen.”
Das Kind nickte begeistert und wirkte immer noch nicht sonderlich beunruhigt. Gemeinsam gingen wir wieder durch die komplette CD-Abteilung, wo sie noch einmal in jeden Gang guckte, ob sich ihre Mutter dort auch nicht versteckt hätte.

“Wollen wir Fahrstuhl fahren?”, fragte ich, weil mir das irgendwie ungefährlicher erschien als noch mal die Rolltreppe zu nehmen. Das Mädchen nickte und langsam machte ich mir Sorgen um das zweite Ohr der Ente.

Im Aufzug nach unten fragte ich sie, wie alt sie eigentlich sei.
“Ich bin vier!”, verkündete sie stolz und bejahte auch meine anschließende Frage, ob sie denn mit vier auch schon alleine durchs Kaufhaus ziehen dürfe.

Die gläserne Kabine schwebte ins Erdgeschoss ein und ich wappnete mich gerade für die Begegnung mit dem Lynchmob, als das Kind erfreut “Ich kann meine Mama sehen!” ausrief.
Die Türen öffneten sich und die Kleine stürmte mit gutgelauntem “Mama, Mama!”-Gebrüll einer Frau in die Arme, die offensichtlich bis zu diesem Augenblick in großer Sorge gewesen war.

Nun passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Die Mutter schloss ihr Kind in ihre Arme, begann zu weinen, fragte “Wo warst Du denn?” und sagte “Mach das nie wieder!”
Ich stand unschlüssig daneben und kam mir so fehl am Platze vor, wie es Redakteure von Reality-Formaten tun sollten, wenn sie ein bisschen Anstand und Schamgefühl hätten. Einfach gehen hätte ich aber auch doof gefunden, also sagte ich “Sie hat Sie gesucht, wir wollten Sie gerade ausrufen lassen!” in den offenen Raum hinein, womit es mir immerhin gelang, die Aufmerksamkeit der Mutter zu erregen, die sich mit feuchten Augen bedankte.

“Okay, alles geklärt”, dachte ich und verließ auf dem schnellsten Wege den Laden. “Wäre ich Pfadfinder gewesen, hätte ich heute einen besonders großen Haken in meinen Kalender machen können.”

Von dem kleinen Mädchen hatte ich mich gar nicht mehr verabschiedet. Von der Stoffente auch nicht.

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Kultur Sport

Wer braucht schon ein Sektfrühstück bei Real Madrid?

Es gibt ja so Sachen, die nimmt man sich immer mal wieder vor, macht sie dann aber doch nie: zum Zahnarzt gehen, rechtzeitig Weihnachtsgeschenke kaufen, “Spiegel Online” aus dem Feedreader schmeißen. Ich habe mir seit einigen Jahren vorgenommen, endlich mal zu “Scudetto” zu gehen, einer in Bochum schon legendären Veranstaltungsreihe in Sachen Fußballliteratur.

Ausgerichtet wird sie von Ben Redelings, der nicht nur mehrere Bücher über Fußball und das Leben als Fan geschrieben, sondern auch drei Filme über den VfL Bochum gedreht hat. Seit einiger Zeit verfolge ich sein Scudettoblog, in dem ich auch endlich die Gelegenheit witterte, “Scudetto” einmal live zu erleben.

Und obwohl ich im Moment eher ungern mit Fußball beschäftige, ging ich trotzdem gespannt ins Bochumer Riff, wo mich “Far Away In America” begrüßte, das vielleicht beknackteste Stück Fußballmusik aller Zeiten. Nach diesem Duett mit Village People (!!!) und der desaströsen WM 1994 hat sich die deutsche Fußballnationalmannschaft anschließend nie wieder an ein Mottolied herangewagt.

Dann ging’s los und es gab Tondokumente, Fotos, Videos (YouTube und eigene, s.a. “Scudetto-TV”, jetzt auch bei “Spiegel Online”), eigene Texte von Ben Redelings und Rezitationen wie die des grandiosen Peter-Neururer-Interviews aus der “Zeit”. Also all das, was man “Fußballkultur” nennt.

“Scudetto” ist da wie “11 Freunde” oder “Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs”: von Fans für Fans, noch ganz nah an dem Fußball mit Bratwurst und Bier, weit weg von den VIP-Lounges — also ganz nah dran am VfL Bochum. Irgendwie klar, dass das neue Buch, das Ben Redelings gestern vorstellte, “Fußball ist nicht das wichtigste im Leben. Es ist das Einzige” heißt.

Irgendwann zwischen Lese-Teilen und Videos gab es das (offensichtlich traditionelle) Fußballer-Zitate-Quiz, bei dem man Redelings’ Fußball-Zitate-Buch gewinnen konnte (wer es einmal gewonnen und auswendig gelernt hat, hat beim nächsten Mal bessere Chancen) und bei dem ich gerade mal anderthalb Antworten gewusst hätte. Ben Redelings’ eigene Texte sind kurzweilig, sehr gut beobachtet und aus der Perspektive eines echten Fans geschrieben. Dass sie nicht unbedingt auf Pointen hinauslaufen, lässt sie im auf Lacher ausgerichteten Livevortrag mitunter ein bisschen wie Angriffe von Mario Gomez wirken, macht sie aber kein Stück schlechter.

Der nächste “Scudetto”-Termin steht auch schon fest: am 16. Oktober, dann mit einem Gast, auf den das Wort “Legende” noch zutrifft: Willi “Ente” Lippens. Und am Abend drauf spielt der VfL Bochum gegen Borussia Mönchengladbach.

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Leben

Mitbewohner 1.0

Leeres Zimmer (Symbolbild)

Im Mai startete ich einen Aufruf, mit dem ich einen neuen Bewohner für das leerstehende Zimmer in unserer WG finden wollte.

Ich schrieb damals, mit dieser Aktion “das weltweite Datennetz auf eine harte Probe stellen” zu wollen. Nun, was soll ich sagen? Das Web hat verloren.

Der Mai ist kein guter Monat, um neue Mitbewohner zu finden: das Semester ist im vollen Gange und kaum jemand ist auf der Suche nach einem Zimmer oder Willens umzuziehen. In den ersten drei Monaten meldeten sich genau drei Leute, die durch Zettel, die ich an der Uni ausgehängt hatte, auf das Angebot aufmerksam geworden waren: der Erste suchte nur was zur Zwischenmiete (was wir nicht wollten), der Zweite war enttäuscht, dass das Zimmer gänzlich unmöbliert war (was auch für den Ersten von Nachteil gewesen wäre), vom Dritten waren wir so angetan, dass wir ihm das Zimmer geben wollten. Leider hat er sich nach unserem Angebot, bei uns einzuziehen, nie wieder gemeldet.

twitter hatte kein bisschen geholfen und mit der Zeit begriff ich auch, dass ein Blog-Eintrag allein nicht ausreichen würde: bei einer Google-Suche nach freien Zimmern in Bochum kam Coffee And TV unter den ersten 200 Suchergebnissen nicht ansatzweise vor (Der erste Besucher, der nach mitbewohner gesucht bochum gegoogelt hatte, kam heute auf das Blog).

Mein verbliebener Mitbewohner kam schließlich auf die Idee, das Zimmer bei wg-gesucht.de zu inserieren. Das hatte ich auch schon mal versucht, war aber irgendwie an der Seite gescheitert. Mit dem herannahenden neuen Semester wurde der Kreis der Interessenten schließlich doch noch größer – wobei etwa die Hälfte der Bewerber über das Internetportal kam und die andere Hälfte direkt beim Studentenwerk nach freien Zimmern gefragt hatte.

So besahen wir uns etwa ein Dutzend Kandidaten beiderlei Geschlechts (wir hatten zwischenzeitlich überlegt, aus der seit Jahren existierenden Männer-WG eine gemischte zu machen) und erklärten etwa ein Dutzend Mal, wie das mit der Miete, dem Besteck, den Bahnhaltestellen und den Waschmaschinen ist. Nur ein Bewerber verlor schon bei der Besichtigung das Interesse – die 15m2 waren ihm bei einer Körpergröße von mehr als zwei Metern offenbar zu wenig.

Im Verlauf der Aktion lernte ich, warum ich für Castingshowjuries und Personalabteilungen denkbar ungeeignet bin: Ich bin unfähig, Menschen miteinander zu vergleichen wie verschiedene Karten beim Autoquartett. So lautete die Standardzusammenfassung meist: “Joa, der war ganz nett – aber der andere auch. Aber was weiß ich eigentlich nach zehn Minuten Smalltalk über ihn oder sie?” Google sagte über die meisten Kandidaten auch nicht viel aus.

Jedenfalls haben wir uns letztlich für einen Medizinstudenten entschieden, der über das Studentenwerk von dem Zimmer gehört und mich telefonisch kontaktiert hatte. Das Internet hatte nichts damit zu tun (und das finde ich ehrlich gesagt auch mal ganz beruhigend).

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Musik Leben

Das Stadtfest der Woche

In Bochum ist immer was los: “Bochum Total” sowieso, vor vier Wochen “Bochum kulinarisch” (Vorsicht, Musik!), bis morgen findet noch das erste “Zeltfestival Ruhr” statt, in zwei Wochen ist “Kuhhirtenfest”.

Dieses Wochenende ist aber auch noch der zweite “Bochumer Musiksommer” (Vorsicht, Musik!), das im vergangenen Jahr als anspruchsvollere und angenehmere Alternative zu “Bochum Total” gestartet war.

So ging ich dann heute auch auf den sogenannten “Boulevard”, der unter der Woche normalerweise so belebt ist wie der Friedhof von Wanne-Eickel. Neben verschiedensten Musiken auf zahlreichen Bühnen gab es auch noch ein Weinfest mit Dutzenden Buden, die Wein, Käse und andere Kleinigkeiten anboten. Und: Es war voll. So viele Lehrer mit Karohemden und Windbreakern kann es in Bochum gar nicht geben, wie sie heute in der Stadt unterwegs waren. Aber das war sowieso eine Mischung: Punker und Rentner, Skinheads und Arbeiter, dazwischen jede Menge Kinder.

Während Stadtfeste mit Umsonst-Musik normalerweise ziemlich grauenhaft und für die auftretenden Künstler reichlich würdelos sein können (weswegen ich heute auch darauf verzichtet habe, mir Wir Sind Helden beim Duisburger Stadtjubiläum anzusehen), hat man beim “Musiksommer” das Gefühl, dass die Leute bei aller Gemütlichkeit auch die Musik zu schätzen wissen.

Primär war ich nämlich da, um mir den Auftritt von Tommy Finke anzusehen. Den haben wir hier im Blog überhaupt noch gar nicht vorgestellt bzw. gelobt, was dringend mal geändert werden sollte. Sein Song “Rock’n’Roll Leben” zählt für mich zum Beispiel zu den erhabensten deutschsprachigen Liedern überhaupt.

Das Konzert war dann trotz des stets drohenden Regens (Tommy Finke sprach vom “Bochumer Musikherbst”) auch sehr schön, sogar die vorbeigehenden und kurzzeitig innehaltenden Mormonen haben mit dem Fuß gewippt.

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Print Kultur

Kunst im Alltag: Lokalredaktion Bochum “Überschriften”

Bochum ist mit dem gesamten Ruhrgebiet Teil der Kulturhauptstadt 2010. Eine kleine Gruppe von Sprachakrobaten möchte sich daran mit ihrem Literaturprojekt beteiligen, das sie “Überschriften” nennt.

Erste Kostproben ihres Könnens werden derzeit im Kunstmagazin “WAZ (Lokalteil Bochum)” abgedruckt und sollen auch hier angemessen gewürdigt werden:

Da gibt es informative Kurzprosa mit verstörenden Satzanfängen, die nur wenig länger ist als ein Artikel in der Regionalpresse zum selben Thema:

Opel plant am Standort Bochum ab 2010 eine Kapazität bis zu 260 000 Wagen pro Jahr:
Aber England baut den neuen Astra-Caravan früher

Es gibt humoristische Spielereien mit Präpositionen:

Polizisten im Einsatz am Bordell verletzt

Und es gibt (über der Metahpern- und Vergleichereichen Parodie auf das journalistische Genre des Kommentars) Kleinode, die in der Tradition der japanischen Haikus stehen:

Jacke mit Luft

Halten Sie die Augen offen für weitere Arbeiten des Künstlerkollektivs “Lokalredaktion Bochum”. Unvorstellbar, was passieren würde, wenn diese kreativen Köpfe auch noch die Möglichkeiten des Internets für sich entdeckten!

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