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Digital Gesellschaft

Warum Erwachsene immer beim Versteckspiel verlieren

Seit heute also sind 20 deutsche Städte endlich bei Google Street View online — oder das, was von ihnen übrige geblieben ist, nachdem mehr als 244.000 Haushalte (von 40,2 Millionen) Widerspruch gegen das Abfotografieren ihrer Fassade von einer öffentlichen Straße aus eingelegt haben. Anatol Stefanowitsch hat im Sprachlog eigentlich schon alles gesagt, was es zu den “eingetrübten Vier- und Vielecke, die einem alle paar Schritte die Sicht versperren” zu sagen gibt.

Auch das Haus, in dem ich seit Januar wohne, ist verpixelt und das ist wenigstens ein netter Grund, mal wieder mit allen Nachbarn ins Gespräch zu kommen, um “Cluedo”-mäßig herauszufinden, wer auf diese Idee gekommen ist.

Doch damit nicht genug: Auch auf das Studentenwohnheim, in dem ich zuvor sechs Jahre lang gewohnt habe, muss ich auf meinem virtuellen Rundgang durch Bochum (bzw. durch das Bochum von vor zwei Jahren) verzichten:

Wohnheim Girondelle 6 (verpixelt bei Google Street View)

Dabei wären so ein paar Fotos wohl kaum so detailliert gewesen wie die Informationen, die das Studentenwerk so liefert:

Wohnheim Girondelle 6 (als Modell bei Google Earth)

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Leben

Out Of Time

Ich war vorhin mit Tommy Finke beim Zollamt Bochum, um die gemeinsam bestellten Sondereditionen des neuen Ben-Folds-Albums abzuholen. Schon beim Betreten des Gebäudes merkten wir, dass etwas nicht stimmte: Die Zeit, die ja bekanntlich relativ ist, begann, sich gen Unendlichkeit zu dehnen. Alles. Wurde. Langsamer.

Ein Mann, der aufgrund seines Arbeitsplatzes wohl als Zollbeamter interpretiert werden darf, schlurfte zu uns heran und bewegte seinen Mund. Wer ganz aufmerksam war, konnte Laute erkennen, die das menschliche Gehirn, in derlei Aufgaben geschult, zu einzelnen Worten und ganzen Sätzen zusammensetzen konnte. Ich reichte ihm das Anschreiben, das mich darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass die von mir bestellten Tonträger in jenem kleinen Haus kurz vor dem Rand der Erdscheibe abzuholen seien, und der Mann verschwand in einem Raum, in dem vermutlich mehrere Tonnen Elfenbein, Kokain und Anthrax-Viren seit vielen, vielen Jahren ihrer Abholung harren.

Ich dreht mich zu Tommy – eine Bewegung, die für die Menschen in dieser Zeitblase wie der Flügelschlag eines Kolibris gewirkt haben muss – um “Hier sieht’s genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe” zu sagen, doch da hatte Tommy schon “Hier sieht’s genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe” gesagt. An der Pinnwand hingen fotokopierte Hinweise aus einer Zeit, als die Olympia ES 200 gerade frisch auf den Markt gekommen war, auf einem Schreibtisch stand ein Wimpel des FC Schalke 04, auf den Fensterbänken: Bürobegleitgrün.

Der Zollbeamte kehrte mit einem Paket zurück, das uns sagte, dass es eine gute Idee gewesen war, mit dem Bulli vorbeizukommen. Umständlich holte er ein Teppichmesser, mit dem ich das Paket öffnen durfte. “Teppichmesser”, dachte ich, “haben damit nicht die Attentäter des 11. Sept…” Weiter kam ich nicht: In der unfassbar ruhigen Atmosphäre des Zollamts war mein Gehirn einfach eingeschlafen.

Eine Putzfrau wirbelte um uns herum in einem Tempo, in dem ich für meine eigene Wohnung zwar zwei Tage bräuchte, das in diesem Hause aber als hektisch empfunden werden musste. “Sie machen ja alles nass”, sagte der Zollbeamte, wobei sein monotoner Tonfall offen ließ, ob es sich dabei um einen Vorwurf oder nur um eine Feststellung handelte. Er bat uns in einen Nebenraum und riet uns, auf dem feuchten Untergrund vorsichtig zu gehen — nicht auszumalen, wenn sich einer von uns auf die Fresse gelegt hätte.

Während ich einige Zettel unterschreiben musste, durchbrach Tommy die Grabesstille mit einem Smalltalkversuch:

Finke: “Das ist aber ganz schön ruhig hier bei Ihnen …”
Zollbeamter: “Das täuscht.”
Finke: “Ah. Vor Weihnachten ist wahrscheinlich am meisten los, ne?”
Zollbeamter: “Seit eBay. Seitdem ist hier die Hölle los. Früher war’s ruhig.”

Tommy und ich sahen uns an und sogleich wieder weg. Jetzt bitte nicht losbrüllen vor Gelächter. Ruhig bleiben! Kein Problem an einem Ort, gegen den in einem Zen-Tempel ein Trubel wie in der Grand Central Station herrscht. Ich bezahlte die Mehrwertsteuer und bekam mein Wechselgeld wieder, kurz bevor es aufgrund der normalen Inflationsentwicklung völlig wertlos geworden war. Wir durften gehen.

“Dann wünsche ich Ihnen noch einen geruhsamen Arbeitstag”, sagte Tommy zu unserem Sachbearbeiter und rief zum Abschied ein aufmunterndes “Gehen Sie verantwortungsvoll mit unseren Steuergeldern um!” in das fassungslose Großraumbüro. Ein Mann blickte kaum merklich von seinem Computerbildschirm auf und hob missbilligend die Augenbraue.

Dieser Text ist eine Ergänzung zu meiner “Ämter”-Trilogie (bestehend aus dem Singspiel “Kreiswehrersatzamt”, dem klassischen Drama “Finanzamt” und dem absurden Fragment “Arbeitsamt”).

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Gesellschaft

Diesseits der Bannmeile

Ich bin vor acht Monaten umgezogen. Seit Anfang Juli haben sich in Wurfweite ((Ich war immer unfassbar schlecht im Schlagball-Weitwurf, aber ich bin sicher, dass Menschen mit körperlicher Koordination die Entfernung schaffen würden. Auf freier Fläche.)) meiner Wohnung folgende Dinge ereignet: Prof. Dieter Gorny gab eine Pressekonferenz zum Thema Kreativwirtschaft, Revolverheld spielten ein Konzert und heute kam das Team von “‘Bild’ kämpft für Sie” vorbei.

Es ist schwer, das nicht persönlich zu nehmen.

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Digital

Philosophieren mit den “Ruhr Nachrichten”

Dann wohl ziemlich sicher ein Bild der Gegenwart:

Vielleicht zukünftig ein Bild der Vergangenheit.  (Foto: Archiv)

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Kultur

Es gilt das erbrochene Wort

Ich verehre Jochen Malmsheimer seit mehr als einer Dekade. Ich schriebe nicht, wenn er und sein damaliger Tresenlesen-Kollege Frank Goosen mir nicht gezeigt hätten, was man alles Schönes mit der deutschen Sprache anfangen kann (der Rest meines Schreibens stützt sich auf die Gesamtwerke von Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht und natürlich Max Goldt). Deshalb freut es mich besonders, dass Herrn Malmsheimer das gelungen ist, was in unserer beider Heimatstadt Bochum maximal alle zwei Wochen passiert: Er hat einen “Eklat” ausgelöst.

Ort und Grund war die Eröffnung des Zeltfestivals Ruhr, das auch in diesem Jahr wieder hochkarätige Künstler, aber auch Acts wie Ich + Ich, die Simple Minds oder die H-BlockX an den Gestaden des malerischen Kemnader Sees versammelt. Malmsheimer war geladen, ein Grußwort zu sprechen, und er nutzte die Gelegenheit, dass die gesamte Stadtspitze wehrlos vor ihm saß, zu einer “Suada” (“Westdeutsche Allgemeine Zeitung”), um “vom Leder zu ziehen” (ebd.), zu einer “Litanei” (“Ruhr Nachrichten”) und um zu “schocken” (ebd.).

Da ich nicht zu den rund 500 geladenen Würdenträgern aus Politik, Wirtschaft und Kultur gehörte (it’s a long way to the top, even in Bochum), muss ich mich auf die Auszüge aus der elfseitigen Rede verlassen, die die “Ruhr Nachrichten” ins Internet gestellt haben. Diese gefallen mir jedoch außerordentlich.

Zum Beispiel das, was Malmsheimer über das geplante, jedoch nicht vor der Wiederkehr Christi fertiggestellte Bochumer Konzerthaus zu sagen hat:

…dies ist die Stadt, die vollmundig, um nicht zu sagen: großmäulig, die Notwendigkeit zur Installation eines vollkommen unnützen Konzerthauses verkündet, ohne einen Bedarf dafür zu haben und die Kosten des laufenden Betriebes decken zu können, und das alles in einem Kulturraum, der inzwischen über mehr nicht ausgelastete Konzerthäuser verfügt, als er Orchester unterhält, und die das alles dann doch nicht hinkriegt, weil der Regierungspräsident zum Glück solchen und ähnlichen Unfug einer Gemeinde untersagt hat, die ihre Rechnungen in einer Größenordnung im Keller verschlampt, die unsereinen für Jahre in den Knast brächte und die finanziell noch nicht mal in der Lage ist, die Frostschäden des letzten Winters im Straßennetz zu beseitigen…

Den gekürzten Rest gibt’s auf ruhrnachrichten.de.

Malmsheimers Worte jedenfalls verfehlten nicht ihr Ziel. Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz ließ eine erneute Einladung, sich zu blamieren, nicht ungenutzt verfallen, wie die “WAZ” berichtet:

Die Oberbürgermeisterin beschwerte sich bei den Veranstaltern, diese distanzierten sich sogleich von ihrem Gast; in seinem “polarisierenden Vortrag” habe Malmsheimer “für sich selbst gesprochen”.

Das hatte Malmsheimer selbst freilich direkt klargestellt — aber dafür hätte man ihm natürlich zuhören müssen:

Dabei möchte ich gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass ich, anders als jene, die vor mir adressierten, ausschließlich für mich selber spreche, eine Fähigkeit, die ich mir unter Mühen antrainierte und die mich eigentlich seitdem hinreichend ausfüllt.

[via Jens]

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Siehste!

Hinterher hat man es ja sowieso immer gewusst. Im Nachhinein ist jedem klar, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, die Loveparade 2009 in Bochum abzusagen. Aber was haben wir damals auf den Stadtoberen rumgehackt …

Gut, die Art und Weise der Absage war peinlich gewesen: Nach Monaten plötzlich festzustellen, dass die Stadt dann doch irgendwie zu klein ist, deutete entweder auf erstaunlich schwache Ortskenntnisse hin — oder auf einen besorgniserregenden “Das muss doch irgendwie zu schaffen sein”-Aktionismus, der die Augen vor der Realität verschließt. Letztlich haben sie es in Bochum noch gemerkt, die Schuld an der Absage der Deutschen Bahn in die Schuhe geschoben und Häme und Spott einfach ausgesessen. Dass der damalige Polizeipräsident, der sich lautstark gegen die Durchführung der Loveparade ausgesprochen hatte, neun Monate später in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde, hatte ja ganz andere Gründe.

Erstaunlich aber: Von der Sicherheit war in all den Artikeln, Kommentaren und Pressemitteilungen kaum die Rede. Das kam nur am Rande zur Sprache:

Ganz andere Risiken bewegen Martin Jansen. Dem Leitenden Polizeidirektor wäre die Rolle zugefallen, den wohl größten Polizeieinsatz aller Zeiten in Bochum zu koordinieren. “Wir hätten die Loveparade nur unter Zurückstellung erheblicher Sicherheitsbedenken vertreten.” Knackpunkt ist nach seiner Einschätzung der Bochumer Hauptbahnhof.

Aber um die Sicherheit der zu erwartenden Menschenmassen ging es auch im Vorfeld der Duisburger Loveparade öffentlich nie, immer nur um die Kosten:

Fritz Pleitgen, Vorsitzender und Geschäftsführer der Ruhr.2010, beobachtet mit großer Sorge, wie sehr die Auswirkungen der Finanzkrise den Städten der Metropole Ruhr zu schaffen machen. Besonders prägnant sei das aktuelle Beispiel Loveparade in Duisburg. “Hier müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um dieses Fest der Szenekultur mit seiner internationalen Strahlkraft auf die Beine zu stellen.”

Dabei hätte das Argument “Menschenleben” bestimmt auch Dampfplauderer wie Prof. Dieter Gorny beeindrucken können, der im Januar mal wieder das tat, was er am Besten kann, und groß tönte:

“Man muss sich an einen Tisch setzten und den Willen bekunden, die Loveparade durchzuführen, statt klein beizugeben.” Die Politik müsse sich dahingehend erklären, dass sie sagt: “Wir wollen die Veranstaltung und alle Kraft einsetzen, sie zu retten!”

Gorny, der sonst keinen öffentlichen Auftritt auslässt, hat sich seit Samstagnachmittag zurückgezogen. Er sei “schwer erschüttert”, erklärte die Ruhr.2010 auf Anfrage, und fügte hinzu:

Wir haben beschlossen, dass für die Kulturhauptstadt ausschließlich Fritz Pleitgen als Vorsitzender der Geschäftsführung spricht und bitten, dies zu respektieren.

Aber es gibt ja immer noch die Journalisten, die sich spätestens seit der denkwürdigen Pressekonferenz am Sonntagmittag als Ermittler, Ankläger und Richter sehen. Und als Sachverständige:

“We were the only newspaper that said: ‘No. Stop it. The city is not prepared. We will not be able to cope with all these people,”

lässt sich Götz Middeldorf von der “Neuen Ruhr Zeitung” in der “New York Times” zitieren.

Bei “Der Westen” forderte Middeldorf bereits am Sonntag lautstark den Rücktritt von Oberbürgermeister Sauerland und kommentierte:

Auf die Frage der NRZ, ob man nicht gesehen habe, dass Duisburg nicht geignet ist für die Loveparade ging der OB nicht ein, sprach von “Unterstellung” und wies mögliches Mitverschulden der Stadt zurück.

Ich habe mich lange durch alte Artikel gewühlt, aber nichts dergleichen gefunden. Da das auch an der unfassbar unübersichtlichen Archivsuche bei “Der Westen” liegen kann, habe ich Herrn Middeldorf gefragt, nach welchen Artikeln ich Ausschau halten sollte. Eine Antwort habe ich bisher nicht erhalten.

Wie kritisch die Duisburger Presse war, kann man zum Beispiel an Passagen wie dieser ablesen:

Die Organisatoren gaben sich am Dienstag allerdings sehr optimistisch, dass es kein Chaos geben werde. “Die eine Million Besucher wird ja nicht auf einmal, sondern über den Tag verteilt kommen”, so Rabe. Es sei zwar nicht auszuschließen, dass der Zugang während der zehnstündigen Veranstaltung kurzzeitig gesperrt werden müsse, aber derzeit gehe man nicht davon aus. Und wenn der Fall doch eintrete, “dann haben wir ganz unterschiedliche Maßnahmen, mit denen wir das problemlos steuern können”, verspricht der Sicherheitsdezernent – bei den Details wollte er sich nicht in die Karten schauen lassen.

(Kritisch ist da der letzte Halbsatz, nehme ich an.)

Artikel wie der Kommentar “Die Loveparade als Glücksfall” vom 23. Juli oder die großspurigen Übertreibungen von Ordnungsdezernent Rabe und Veranstalter Lopavent die Kapazität des Festivalgeländes betreffend sind plötzlich offline — “Technikprobleme”, wie mir der Pressesprecher der WAZ-Gruppe bereits am Dienstag erklärte.

Den (vorläufigen) Gipfel des Irrsinns erklomm aber Rolf Hartmann, stellvertretender Redaktionsleiter der “WAZ” Bochum. Anders als seine Kollegen, die sich hinterher als aktive Mahner und Warner sahen, schaffte es Hartmann in seinem Kommentar am Dienstag, völlig hinter dem Thema zu verschwinden:

Meine Güte, war man Anfang 2009 über OB & Co hergefallen, als die Stadt Bochum die Loveparade 2009 in Bochum absagte.

“Man.”

Nachtrag, 1. August: Stefan Niggemeier hat in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” über das gleiche Thema geschrieben.

Ihm hat Götz Middeldorf auch geantwortet:

Auf Nachfrage räumt Middeldorf ein, dass Sicherheitsbedenken nicht das Thema waren. “Wir waren immer gegen die Loveparade, aber aus anderen Gründen.” Dann muss die “International Herald Tribune” ihn mit seinem Lob für die eigene, einzigartige Weitsichtigkeit wohl falsch verstanden haben? “Das vermute ich mal”, antwortet Middeldorf. “Das ist nicht ganz richtig.” Er klingt nicht zerknirscht.

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Musik

That’s When I Reach For My Revolver

Auf der einen Seite: Liberalismus. Die Idee, dass jede Band, deren Musik auch nur einer einzigen Person etwas bedeutet, ihre Existenzberechtigung hat. Die Erinnerung, dass selbst die “Punkband”, in der ich vor zehn Jahren in Dinslaken Schlagzeug gespielt habe, Fans hatte — und wenn es nur dicke Kinder aus dem Nachbardorf waren.

Auf der anderen Seite: Revolverheld. Eine Band, die für mich alles verkörpert, was in der Musikindustrie falsch gelaufen ist. Ein Synonym für spießiges Rockbeamtentum, für Musik, die von Leuten gehört wird, die sich nicht für Musik interessieren.

Was macht man also, wenn man einen Rucksack voller Vorurteile spazieren trägt? Man lässt sie sich eins zu eins im Real Life bestätigen. Zum Start der U20-Frauen-Fußball-WM, die zu einem erheblichen Teil im Bochumer Ruhrstadion stattfindet, spielten die Hamburger Chartstürmer ein kostenloses Konzert in der Bochumer Innenstadt — was die Regenerationszeit für Anwohner und Gastronomen zwischen dem Finale der Herren-Fußball-WM und dem Bochum Total (ab Donnerstag) auf ein absolutes Minimum reduziert. Der Konzertort in Wurfweite meiner Wohnung hatte den Vorteil, in direkter Nachbarschaft meiner Stammkneipe zu liegen, so dass ich nach einem kurzen Gang durch das Publikum (keine Menschen mit Hörnern oder Ziegenfüßen gesehen) den Auftritt aus sicherer Entfernung und in bester Gesellschaft verfolgen konnte.

Aber so sehr ich mich auch um Unvoreingenommenheit bemühte: Schon während der ersten zwei Songs hatte Sänger Johannes Strate das ganze Anbiederungs-Arsenal von “Bochum, seid Ihr da?” und “Ich will Eure Hände sehen!” abgefeuert, auf das er im Verlauf des Abends aber gerne noch mal zurückgriff. Und das bei Liedern, deren Egalheit munter zwischen Spätneunziger-Dreistreifenmetal und deutschem Schlager oszilliert.

Aus der Ferne war die Demarkationslinie zwischen echten Fans (die – um das noch mal zu betonen – um Himmels Willen ihren Spaß an derlei Musik haben sollen) und Mitnahmementalisten gut zu erkennen: Da, wo die Arme nicht mehr wie beim Banküberfall dauerhaft erhoben waren und im Takt wogten, da begannen die, die sich das einfach nur mal anschauen wollten. Vorne wurde mitgesungen (“Und jetzt alle!”) und es kam zum Einsatz von Seifenblasenflüssigkeit.

Es war schlimm. Ungefähr nach einer halben Stunde hätte ich mir eine Lesung vogonischer Dichtkunst herbeigewünscht — oder alternativ irgendjemandes Hände, deren Fingernägel ich auch noch hätte abnagen können. Revolverheld sind eine Band, die mit ihrer naiv-dumpfen Pennälerlyrik und ihrer musikalischen Simplizität selbst Silbermond progressiv erscheinen lassen. Der Umstand, dass sich solche Musik besser verkauft als die von Tomte oder kettcar, könnte dem deutschen Volk dereinst vor irgendeinem internationalen Gerichtshof noch zum Nachteil gereichen. Und dann kamen die ganzen Hits (also der Kram, dem man im Radio nicht ausweichen kann) auch noch geballt zum Schluss.

Als die Band dann auch noch “Was geht” anstimmten, eine Tribute-Album-erprobte Reminiszenz an die Fantastischen Vier (die ja selbst auf dem besten Weg Richtung Revolverheld sind), war bei uns am Tisch alles vorbei: Hektisch wurde in Mobiltelefonen und Taschenkalendern überprüft, ob wir tatsächlich das Jahr 2010 schrieben. Erinnerungen an Bands wie Such A Surge wurden geweckt wie schlafende Hunde. Dann irgendwann endlich “Freunde bleiben” und Abgang. Hat man das auch mal erlebt.

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Rundfunk

Redaktionsräume gesucht

Ruhr-Uni Bochum

An der Ruhr-Uni Bochum wird so langsam aber sicher die dringend notwendige Sanierung in Angriff genommen. Das ist gut, hat aber einen kleinen bis mittelgroßen Nachteil: Mein früherer Heimatsender CT das radio wird dadurch … äh: obdachlos.

Jetzt ist die derzeitige Mannschaft des Campusradios auf der Suche nach einer neuen Bleibe, die – so nehme ich an – in Uninähe liegen und wenig bis nichts kosten sollte. Und da dachte ich, vielleicht haben Sie ja eine Idee.

Das ambitionierte Immobiliengroßprojekt in Innenstadtnähe ist ja noch lange nicht fertig.

Für Vorschläge sind die Kollegen dankbar und es gibt sogar etwas zu gewinnen.

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Musik

Das Gegenteil von Stadion

Vergangene Woche hat das sehr empfehlenswerte Internetmusikmagazin getaddicted.org im mindestens ebenso empfehlenswerten Freibeuter einen Akustik-Cover-Abend veranstaltet. Es spielten und sangen Nicholas Müller von Jupiter Jones, die mir bisher unbekannte Band Tengo Hambre Pero No Tengo Dinero und mein Kumpel Tommy Finke, der Laden war voll und die Stimmung hehr.

Tommy Finke im Freibeuter

Die Auswahl der gecoverten Songs war mindestens eklektisch zu nennen und beinhaltete Leonard Cohens “Hallelujah” ebenso wie “Can You Feel The Love Tonight” von Elton John, Ingrid Michaelsons “Be Ok” ebenso wie “With Or Without You” von U2.

Warum erzähle ich Ihnen das alles? Die netten Menschen von getaddicted.org haben angefangen, Videos von dem Abend online zu stellen. Und so können Sie jetzt noch einmal miterleben, wie Nicholas Müller “Timshel” von Mumford & Sons singt, oder Tommy Finke mit “Wonderwall” (Originalinterpret bekannt) den ganzen Laden zum Mitsingen bringt.

Mein persönliches Highlight aber … Ach, sehen Sie selbst!

(Weil die Videos automatisch starten, hab ich sie hier nicht eingebaut.)

Das dürfte ja wohl eine der cleversten Riff-Amputationen in einem Coversong seit Cat Powers “Satisfaction” sein!

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Sport

Eine neue Liga ist wie ein neues Leben

Das war nicht schön, am Samstag in der Stammkneipe zu stehen und den VfL Bochum mit hängenden Fahnen untergehen zu sehen. Als Fan von Borussia Mönchengladbach ist man zwar Kummer gewohnt (und nach dem 1:6 in Hannover, das die Bochumer in die unglückliche Ausgangslage vor dem letzten Spieltag brachte, auch nicht frei von schlechtem Gewissen), aber dieses kampf- und lieblose Gekicke da tat schon weh.

Noch während sich die Stadt von diesem Tiefschlag zu erholen versuchte (was bei diesem grauen Wetter noch ein wenig länger dauert), hat Frank Goosen, Kabarettist, Schriftsteller und treuer VfL-Fan eine Brandrede … äh: geschrieben, die “Der Westen” gestern veröffentlicht hat.

Es ist eine bittere Abrechnung, die den Tausenden Fans aus der Seele sprechen dürfte, die immer zu ihrem Verein gehalten haben, nur um irgendwann festzustellen, dass ihr Verein einige strukturelle Probleme hat:

Dieser Verein ist mittlerweile durchsuppt von einem Gestus der Mittelmäßigkeit, einer Haltung, die kein Ziel, keine Vision kennt, nur Langeweile. Wer einmal das Glück hatte, den Aufsichtsratsvorsitzenden auf einer Saisonabschlussfeier sprechen zu hören, weiß, wo das herkommt: Nicht der VfL Wolfsburg sei deutscher Meister geworden, hieß es da, sondern VW. Auf dem zweiten Platz seien Allianz und Telekom gelandet. Und so weiter. So richtet man sich in einer Opferrolle ein, die im wahrsten Sinne des Wortes un-sportlich ist. Kein Rhönradfahrer kann seinen Sport mit diesem Habitus betreiben

Trotz all der (sicherlich berechtigten) Vorhaltungen ist Goosens Text nicht durchweg negativ. Er zeigt sogar neue Möglichkeiten auf:

Wie gesagt, der Verein braucht eine Identität und eine Idee von sich selbst. Er braucht auf allen Ebenen Personal, das diese Idee verkörpert und dafür kämpft. Wir wollen wieder Lust auf unseren Verein haben. Wenn es dafür nötig ist, ihn umzubauen, sollten wir sofort damit anfangen

Für mich klingt das, als habe da jemand seinen Hut in den Ring geworfen.

“Gebt uns unseren Verein zurück” bei “Der Westen”

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Leben Gesellschaft

Möbeltransport im ÖPNV – Eine Fallstudie

Menschen mit entsprechenden Erfahrungen erklären gerne, ein Kind zu bekommen würde die Sichtweise auf die Welt völlig verändern. Ich bin weit davon entfernt, dem widersprechen zu wollen (oder zu können), aber ich kann diesen Menschen zurufen: “Für einen Perspektivwechsel braucht’s keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr. Es reicht auch, mit vier Aluminiumstühlen unterm Arm U-Bahn zu fahren.”

Und das kam so:

Ich hatte kurz vor meinem Umzug in einem Geschäft in der Bochumer Innenstadt meine Traumsitzmöbel entdeckt: Nachbauten des Designklassikers “Navy Chair”, herabgesetzt auf einen Preis, der nahezu unanständig niedrig war. Als mein Vater meiner neuen Einrichtungsgegenstände ansichtig wurde (und den dazugehörigen Preis erfuhr), rief er aus: “Sohn, gehe hin und hole mir davon, so viel Du tragen kannst!”

Das ganze Prozedere dauerte etwas länger, die Stühle mussten erst bestellt werden, aber dann waren sie da: Schön, stabil, leicht und unfassbar billig. Problem: Meine Fuhre hatte ich bequem mit einem Auto abholen können, das zum Zwecke der Umzugsvorbereitungen gerade bei mir auf dem Parkplatz rumgestanden hatte. Aber das war jetzt weg.

Da zu den oben aufgeführten hervorstechenden Eigenschaften der Möbel auch das geringe Gewicht zählt, war ich aber unbesorgt, die Situation trotzdem meistern zu können. Kurz bevor Bochum zum siebenundneunzigsten Mal in dieser Saison unter einer geschlossenen Schneedecke versank, machte ich mich also auf den Weg, kaufte die bestellten Stühle und klemmte sie mir unter dem angsterfüllten Blick der Mitarbeiter unter den Arm. Würde ich es schaffen, das Geschäft zu verlassen, ohne andere Teile der Produktpalette in Mitleidenschaft zu ziehen? Ich schaffte es. Eine freundliche Kundin hielt mir sogar die Tür auf.

Der Weg hinab in die U-Bahn-Station war kurz und soweit kein Problem. Zwar nahm ich auf der Rolltreppe einigen Platz ein, aber die wenigen Menschen, die vorbei wollten, beschieden mir geradezu ausufernd, dass das schon passe.

Die U35 stellte kein Problem dar: Die Wagen sind groß und geräumig, und da ich eh nur eine Haltestelle fahren und auf der gegenüberliegenden Seite aussteigen musste, konnte ich mich direkt vor die Tür stellen. Heikel wurde es, als sich eine Kontrolleurin näherte und die Fahrausweise sehen wollte. Auf keinen Fall wollte ich die genau ausbalancierten Sitzelemente abstellen müssen, um mein Portemonnaie zu zücken. Es war wie bei Hitchcock: Sie kam immer näher, während die Bahn schon für den Halt am Hauptbahnhof abbremste. Glücklicherweise schaffte ich es, den Zug zu verlassen, bevor ich mein Ticket vorzeigen musste.

Im Bahnhof kämpfte ich mich – etwas in Wendigkeit und Tempo gehemmt – zur unterirdischen Straßenbahnhaltestelle vor. Dort traf mich die Erkenntnis mit der Wucht einer auf dem Bühnenboden des New Yorker Palladiums zertrümmerten Bassgitarre: Die Rush Hour ist nicht der ideale Zeitpunkt, um den öffentlichen Personennahverkehr als Möbeltransporter zu missbrauchen.

Mehrere Hunderttausend Menschen (Schätzung von mir) standen am Gleis und scharrten mit den Füßen, auf dass sie sich in eben jene Straßenbahn des Todes zwängen können würden, um möglichst schnell bei Familie, Abendbrot und/oder TV-Unterhaltung zu sein. Das würde ein harter, brutaler Kampf werden.

Innerlich bereitete ich mich schon darauf vor, Galle geifernde Texte über zu kleine Verkehrsmittel, dumm glotzende Mitmenschen und die generelle Schlechtigkeit der Welt ins Internet zu kotzen. Dann kam die Bahn, eine stark gegen unendlich tendierende Anzahl Menschen stieg aus und eine ebensolche ein. Ich auch.

Es war mir etwas unangenehm und ich hatte auch Angst, Menschen mit den Leichtmetallmöbeln zu verletzen. Aber zum Glück ist ja immer noch Polarwinter und alle Menschen sind gut verpackt. Entschuldigend murmelte ich in die Runde, ich hätte halt kein Auto und die Stoßzeiten außer acht gelassen. “Ach, Sie haben sich dazu entschieden, jetzt und hier mit der Bahn zu fahren und damit ist es gut”, erklärte mir eine Frau mittleren Alters zu meiner eigenen Verwunderung meine momentane Situation.

Erstaunlicherweise waren alle Menschen in einem Maße hilfsbereit, dass mich sofort das schlechte Gewissen überkam, vorher jemals etwas anderes erwartet zu haben: Soll ich Ihnen das mal abnehmen? Wo müssen Sie denn raus? Wissen Sie, auf welcher Seite der Ausstieg ist?

An meiner Haltestelle trug mir ein junger Mann zwei zwischenzeitlich doch mal abgestellte Stühle auf den Bahnsteig und fragte, ob er mir tragen helfen solle, er wohne hier ja auch in der Gegend. Vielen Dank, sagte ich, geht schon.

Auf der Rolltreppe nach oben starrte mich eine junge Frau mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen an und fragte, ob ich Hilfe brauche. Nein, sagt ich, kein Problem, wiegt ja nix.

Drei Minuten später war ich zuhause. Ich hatte nicht nur meine Heimatstadt mit ganz neuen Augen gesehen, sondern auch die Menschen dort.

Nächste Woche bringe ich meine alte Ledercouch mit der Bahn von Dinslaken nach Bochum.

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Musik Literatur

“Das ist keine Reisegruppe”
Ein Interview mit Sven Regener

Musikjournalisten erzählen häufiger, dass sie relativ wenig Ambitionen hätten, ihre persönlichen Helden zu treffen. Zu groß ist die Angst, dass sich der über lange Jahre Bewunderte als langweilig oder – schlimmer noch – unsympathisch herausstellt, dass einem keine guten Fragen einfallen oder man versehentlich die eigenen Freunde mit reinzieht.

Vor Sven Regener habe ich einen Heidenrespekt: Die Musik seiner Band Element Of Crime begleitet mich schon länger, die letzten beiden Alben habe ich rauf und runter gehört und seine Romantrilogie über Frank Lehmann habe ich mit großem Gewinn gelesen. Außerdem muss ich immer an jenes legendäre Interview mit der (inzwischen fast schon wieder völlig vergessenen) “Netzeitung” denken.

Es hätte also gute Gründe gegeben, sich nicht um ein Interview mit dem Mann zu bemühen, obwohl er mit Element Of Crime in Bochum war. Aber ein kurze Begegnung beim letztjährigen Fest van Cleef hatte mich so weit beruhigt, dass ich gewillt war, mich auf das Experiment einzulassen.

Element Of Crime (Archivfoto vom Fest van Cleef 2009)

Kurz bevor es losging sagte er: “So, wir duzen uns. Ich bin Sven.” Gut, dass das vorab geklärt ist, Respektspersonen würde man ja sonst auch siezen.

Wie das Gespräch dann lief, können Sie jetzt selber hören und beurteilen. Zu den Themen zählen Sven Regeners Tourblog, kleinere Städte, “Romeo und Julia”, Coverversionen und Vorbands.

Interview mit Sven Regener
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