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Leben

Out Of Time

Ich war vorhin mit Tommy Finke beim Zollamt Bochum, um die gemeinsam bestellten Sondereditionen des neuen Ben-Folds-Albums abzuholen. Schon beim Betreten des Gebäudes merkten wir, dass etwas nicht stimmte: Die Zeit, die ja bekanntlich relativ ist, begann, sich gen Unendlichkeit zu dehnen. Alles. Wurde. Langsamer.

Ein Mann, der aufgrund seines Arbeitsplatzes wohl als Zollbeamter interpretiert werden darf, schlurfte zu uns heran und bewegte seinen Mund. Wer ganz aufmerksam war, konnte Laute erkennen, die das menschliche Gehirn, in derlei Aufgaben geschult, zu einzelnen Worten und ganzen Sätzen zusammensetzen konnte. Ich reichte ihm das Anschreiben, das mich darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass die von mir bestellten Tonträger in jenem kleinen Haus kurz vor dem Rand der Erdscheibe abzuholen seien, und der Mann verschwand in einem Raum, in dem vermutlich mehrere Tonnen Elfenbein, Kokain und Anthrax-Viren seit vielen, vielen Jahren ihrer Abholung harren.

Ich dreht mich zu Tommy – eine Bewegung, die für die Menschen in dieser Zeitblase wie der Flügelschlag eines Kolibris gewirkt haben muss – um “Hier sieht’s genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe” zu sagen, doch da hatte Tommy schon “Hier sieht’s genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe” gesagt. An der Pinnwand hingen fotokopierte Hinweise aus einer Zeit, als die Olympia ES 200 gerade frisch auf den Markt gekommen war, auf einem Schreibtisch stand ein Wimpel des FC Schalke 04, auf den Fensterbänken: Bürobegleitgrün.

Der Zollbeamte kehrte mit einem Paket zurück, das uns sagte, dass es eine gute Idee gewesen war, mit dem Bulli vorbeizukommen. Umständlich holte er ein Teppichmesser, mit dem ich das Paket öffnen durfte. “Teppichmesser”, dachte ich, “haben damit nicht die Attentäter des 11. Sept…” Weiter kam ich nicht: In der unfassbar ruhigen Atmosphäre des Zollamts war mein Gehirn einfach eingeschlafen.

Eine Putzfrau wirbelte um uns herum in einem Tempo, in dem ich für meine eigene Wohnung zwar zwei Tage bräuchte, das in diesem Hause aber als hektisch empfunden werden musste. “Sie machen ja alles nass”, sagte der Zollbeamte, wobei sein monotoner Tonfall offen ließ, ob es sich dabei um einen Vorwurf oder nur um eine Feststellung handelte. Er bat uns in einen Nebenraum und riet uns, auf dem feuchten Untergrund vorsichtig zu gehen — nicht auszumalen, wenn sich einer von uns auf die Fresse gelegt hätte.

Während ich einige Zettel unterschreiben musste, durchbrach Tommy die Grabesstille mit einem Smalltalkversuch:

Finke: “Das ist aber ganz schön ruhig hier bei Ihnen …”
Zollbeamter: “Das täuscht.”
Finke: “Ah. Vor Weihnachten ist wahrscheinlich am meisten los, ne?”
Zollbeamter: “Seit eBay. Seitdem ist hier die Hölle los. Früher war’s ruhig.”

Tommy und ich sahen uns an und sogleich wieder weg. Jetzt bitte nicht losbrüllen vor Gelächter. Ruhig bleiben! Kein Problem an einem Ort, gegen den in einem Zen-Tempel ein Trubel wie in der Grand Central Station herrscht. Ich bezahlte die Mehrwertsteuer und bekam mein Wechselgeld wieder, kurz bevor es aufgrund der normalen Inflationsentwicklung völlig wertlos geworden war. Wir durften gehen.

“Dann wünsche ich Ihnen noch einen geruhsamen Arbeitstag”, sagte Tommy zu unserem Sachbearbeiter und rief zum Abschied ein aufmunterndes “Gehen Sie verantwortungsvoll mit unseren Steuergeldern um!” in das fassungslose Großraumbüro. Ein Mann blickte kaum merklich von seinem Computerbildschirm auf und hob missbilligend die Augenbraue.

Dieser Text ist eine Ergänzung zu meiner “Ämter”-Trilogie (bestehend aus dem Singspiel “Kreiswehrersatzamt”, dem klassischen Drama “Finanzamt” und dem absurden Fragment “Arbeitsamt”).

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Rundfunk Gesellschaft

Schattenkinder

Aus aktuellem Anlass lief gerade in der ARD die Dokumentation “Schattenkinder” von Uta König. Es geht um Kinder in Hamburg-Jenfeld, die aus kaputten Familien kommen: Bei der einen trinkt der Vater, beim anderen sitzen die Eltern den ganzen Tag vor dem Computer – man hat das so oft gehört, dass es genau solche Allgemeinplätze geworden sind wie die neuesten Opferzahlen aus dem Irak.

Uta Königs Film gibt den Allgemeinplätzen Gesichter. Da ist ein kleines, dickes Mädchen, das nichts hat außer seiner sprechenden und tanzenden Barbiepuppe. Ein Junge, der in viel zu kleinen Schuhen herumläuft und sich nichts wünscht außer passende Schuhe und ein UNO-Spiel. Zwei Schwestern, neun und elf, deren Mutter am Alkohol gestorben ist und deren Vater säuft und rumschreit.

Da steht dann der Vater betrunken vor der Tür der (ebenfalls alkoholkranken) Lebensgefährtin, zu der die Töchter geflohen sind, und randaliert. Die Reporterin versteckt sich mit den Kindern. Draußen poltert es, die Kamera ist nur noch auf das angsterfüllte Gesicht der Elfjährigen gerichtet und der Popkultur-geschädigte Zuschauer ertappt sich dabei, wie er “Wie ‘Blair Witch Project’ …” denkt, weil er sonst die hoffnungslose Realität dahinter anerkennen müsste und in Tränen ausbrechen würde, während die Kinder da zusammengekauert hocken und nicht weinen.

Das Jugendamt hielt es zu diesem Zeitpunkt übrigens noch nicht für nötig, einzugreifen: Der Vater sei zwar gewalttätig, aber (noch) nicht gegen die Kinder. Da erscheint es einem als Zuschauer unmöglich, amtliche Vorschriften auf der einen und gesunden Menschenverstand und menschliche Seele auf der anderen Seite irgendwie zusammenzupacken. Als der Vater schließlich seine letzte Chance verspielt und die Mädchen zu einer Pflegefamilie kommen, weigert sich das Amt wiederum, der christlichen Organisation “Arche”, die sich als einzige um die Kinder gekümmert hat und wo die Beiden Freunde hatten, einen Kontakt zu ihnen zu ermöglichen.

Überhaupt: Diese “Arche” hält alles zusammen. Die Kinder kriegen dort eine warme Mahlzeit, Aufmerksamkeit, Zuwendung – all das, was für Kinder in einer Industrienation selbstverständlich sein sollte. Einige der Kinder sind hochgradig verstört, andere wirken schon mit zehn unglaublich lebensklug und können sich besser artikulieren als ihre Eltern. Aber natürlich wäre es viel schöner, naive, fröhliche, alberne, nervige Zehnjährige zu sehen.

“Schattenkinder” ist aus mindestens zwei Gründen beeindruckend und wichtig: Zum einen zeigt der Film anhand von Einzelschicksalen, wie es in ungezählten Familien aussehen muss und wovon man als Außenstehender nichts mitkriegt. (Als Mittelklasse-Kind bekommt man ja eh meist nur in der Grundschule einen Einblick in sozial schwache Familien, in denen sich niemand um die Kinder kümmert. Das deutsche Schulsystem sorgt ja sehr schnell dafür, dass die Kinder, die sich aus Gründen wie den oben genannten nicht auf die Schule konzentrieren können, sehr schnell den Anschluss verpassen und so nie aus dem System werden ausbrechen können.) Zum anderen sieht man, wie wichtig die Arbeit solcher Organisationen wie der “Arche” ist, die sich zu 95% über Spenden und staatliche Fördermittel finanziert.

Nachtrag 26. November, 23:45 Uhr: Wegen des großen Interesses an dem Film, das sich auch in meinen Suchanfragen wiederspiegelt, hat sich der NDR entschlossen, “Schattenkinder” zu wiederholen. Und zwar gerade eben

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Politik

Vorgang wird bearbeitet

Vielleicht brauchen wir uns doch nicht so viele Sorgen zu machen um mitgelesene E-Mails, Vorratsdatenspeicherung und Gedankenkontrolle.

Schließlich leben wir in einem Land, in dem es die Behörden nicht mal auf die Reihe kriegen, 82 Millionen Steuernummern in time zuzuteilen.