Natürlich fehlt in den Presseberichten jetzt wieder jedweder Hinweis darauf, dass James Bond in Wattenscheid geboren wurde. So steht es in der „autorisierte Biografie von 007“, die John Pearson, der ehemalige Assistent von James-Bond-Erfinder Ian Fleming, 1973 veröffentlicht hat, und weil die Wattenscheider*innen immer noch nicht darüber hinweg sind, dass ihre Stadt seit 1975 zu Bochum gehört, konzentriert sich ihr Stolz eben auf diesen Fakt. Das Stadtmarketing weidet diesen Umstand mit einer Hingabe aus, die schon in Essen und Gelsenkirchen (of all places) eher peinlich berührt zur Kenntnis genommen wird: Zum 100. Geburtstag der Figur im November 2020 gab es eine Plakataktion, Zeitungsanzeigen, eine Postkarten-Edition und die Biere „James Blond“ und „James Dunkelblond“ in der Touristinfo zu erwerben. Eine geplante Fotoaktion mit einem Daniel-Craig-Double musste pandemiebedingt ebenso abgesagt werden wie eine Ausstellung.
Gestorben ist der legendäre Geheimagent, da sind sich die meisten Fans sicher, nicht in den letzten Szenen von „Keine Zeit zu sterben“, jenem vom Pech verfolgten letzten Daniel-Craig-Film, dessen Filmstart erst wegen des Abgangs des ursprünglich geplanten Regisseurs Danny Boyle („Trainspotting“, „28 Days Later“, „Slumdog Millionaire“) und dann wegen der beginnenden COVID-19-Pandemie insgesamt fünf Mal verschoben wurde, sondern am gestrigen Donnerstag auf irgendeinem Schreibtisch, als die bisherigen Produzent*innen Barbara Broccoli und Michael G. Wilson bekannt gaben, die kreative Kontrolle an der Filmreihe an Amazon MGM Studios abgegeben zu haben.
Ebenso wie richtige Geheimdienstarbeit in der Regel aus der Lektüre und Niederschrift von Berichten besteht, ist die Geschichte der James-Bond-Filme mindestens genauso eine von Rechten (juristische, nicht Nazis) wie von exotischen Drehorten und riesigen Sets: Der kanadische Filmproduzent Harry Saltzman und sein US-amerikanischer Kollege Albert R. Broccoli hatten 1961 die Firma Eon Productions gegründet, nachdem Saltzman die Filmrechte der Romanreihe von Ian Fleming erworben hatte. Eon ist eine Tochtergesellschaft der Danjaq, LLC, die ebenfalls von Saltzman und Broccoli gegründet wurde (und nach den damaligen Ehefrauen der beiden benannt ist) und die die Rechte an der Marke „James Bond“ hält — was etwas anderes ist als die Urheberrechte der Filme und die der Bücher. 1975 verkaufte Saltzman seinen Anteil an die Filmfirma United Artists, die wiederum 1980 von MGM (die mit dem Löwen) übernommen wurde.
Weil der Regisseur und Produzent Kevin McClory wegen eines komplizierten Urheberrechtsstreits die Rechte an Ian Flemings James-Bond-Roman „Thunderball“ und der dort vorkommenden Vebrecherorganisation SPECTRE besaß, konnte er 1983 unabhängig von den Eon-Filmen „Sag niemals nie“ drehen, ein faktisches Remake der „Thunderball“-Verfilmung „Feuerball“, in dem Sean Connery im Alter von 53 Jahren zum allerletzten Mal James Bond spielt. Albert R. Broccoli wiederum übertrug seinen Teil der Firma vor seinem Tod 1996 an seine Tochter Barbara Broccoli und seinen Stiefsohn Michael G. Wilson, die seit „GoldenEye“ (1995) alle Bond-Filme produzierten. (Wilson hat auch in ungefähr jedem Film einen Mini-Gastauftritt, was einem nur dann penetrant erscheint, wenn man viel zu tief drin ist in der Materie.) 2005 wurden United Artists und MGM von Sony übernommen, wo sich die finanzielle Lage des Studios bald als so dramatisch erwies, dass die Produktion des 23. Bond-Films, der später „Skyfall“ werden sollte, zunächst auf Eis lag. Nach einer erfolgreichen Chapter-11-Insolvenz (die ganze Nummer mit den Bond-Verleihrechten bei 20th Century Fox, heute Disney, und Universal erspare ich uns allen, denn es ist ja jetzt schon komplizierter als jeder John-le-Carré-Roman) fusionierte MGM im Jahr 2022 mit Amazon Studios.
Eines der Opfer dieser ganzen „Succession“-mäßigen Unterhaltungsindustrie-Wirrungen ist James Bond: Nach „Keine Zeit zu sterben“, dem letzten Film mit Daniel Craig als Titelheld, sollte eigentlich ein neuer Hauptdarsteller gefunden werden. Kreative Entscheidungen hätten gefällt werden müssen: Macht man, wie schon bei Craigs erstem Auftritt in „Casino Royale“ einen erneuten reboot, also einen Neuanfang, der die bisherigen Filme der Reihe verwirft bzw. in ein Paralleluniversum verweist? Lässt man die neuen Filme, wie Ian Flemings Romanvorlagen, in den 1950er und 60er Jahren und damit im Kalten Krieg spielen? Wird James Bond vielleicht doch eine Frau? Für diese Entscheidungen waren eigentlich immer Barbara Broccoli und Michael G. Wilson zuständig, bei Amazon fanden sie aber offenbar keine Ansprechpartner*innen mehr, von denen sie sich ausreichend wertgeschätzt fühlten: Im vergangenen Dezember berichtete das „Wall Street Journal“, dass Wilson nur Gesprächspartner*innen in unteren Hierarchierängen bekäme und Broccoli die Amazon-Leute im privaten Rahmen als „fucking idiots“ bezeichnet habe. Vor diesem Hintergrund liest sich die gestrige Ankündigung nur zwei Monate später als Kapitulation der Denkmalpfleger*innen.
Broccoli und Wilson hatten es mehrfach geschafft, James Bond zu modernisieren: Mitte der 1990er Jahre, als Pierce Brosnans Bond-Laufbahn begann, konnte ihn seine Chefin M (Judi Dench) als „sexistischen Dinosaurier“ und „Relikt des Kalten Krieges“ verspotten und den (aus heutiger Sicht wirklich verstörenden) Sexismus der alten Filme so wenigstens werkimmanent kommentieren. 2006, als es mit Daniel Craig tatsächlich zurück auf Anfang ging (irritierenderweise immer noch mit Judi Dench als M, aber wer würde dieser Casting-Entscheidung widersprechen wollen?), orientierten sich die Filme an der schroffen Ästhetik der damals sehr erfolgreichen Jason-Bourne-Filme mit Matt Damon. Das wären einerseits gute Argumente, das Duo wieder mit einer Neuerfindung der Reihe zu beauftragen. Andererseits ist Wilson inzwischen 83 und bei Amazon sitzen Menschen, die weniger als halb so alt sind, das Ekelwort „content“ benutzen und aufgrund von sekundengenauen Auswertungen des eigenen Streaming-Angebots genau zu wissen glauben, was die Leute interessiert und was nicht. Das ist ein übleres Aufeinandertreffen zweier Welten als in der Szene mit Brosnan und Dench.
Außerdem hatte die Reihe nach „Skyfall“ auch arg ihr Mojo verloren: In „SPECTRE“ und „Keine Zeit zu sterben“ konnten die nach wie vor beeindruckenden set pieces von den Drehbüchern nur noch bedingt zusammengehalten werden. Zu dringend wollten die Macher die Vebrecherorganisation SPECTRE, deren Rechte sie gerade nach den oben angedeuteten jahrzehntelangen Rechtsstreitigkeiten endlich erworben hatten, in die bereits bestehende Geschichte einflechten, weshalb die ganze Motivation und der ganze Handlungsbogen des „Skyfall“-Bösewichts Silva (Javier Bardem) nachträglich unter den Bus bzw. den entgleisten U‑Bahn-Waggon geworfen wurde. Christoph Waltz überschritt als ungefähr siebte Iteration des Superschurken Ernst Stavro Blofeld die Grenzen zur Selbstparodie, nur um dann in „Keine Zeit zu sterben“ nach einem Klischee-Monolog urplötzlich abgemurkst zu werden. Die Filmreihe war – wie zuletzt im berüchtigten letzten Pierce-Brosnan-Auftritt „Stirb an einem anderen Tag“ – einmal mehr aus der Kurve getragen worden.
Meine persönliche Bond-Sozialisation begann 1995 in der Lichtburg in Dinslaken an der Seite meines Vaters mit besagtem „GoldenEye“. Ich war gerade zwölf und entsprach damit der Altersfreigabe (die Vorstellung, den Film in anderthalb Jahren mit meinem Sohn zu schauen, irritiert mich gerade allerdings sehr), es war mein erster „Erwachsenen“-Film, der Titelsong kam von Tina Turner und der Charakter der Xenia Onatopp (Famke Janssen), einer Schurkin, die Männer beim Geschlechtsakt mit ihren Schenkeln ermordet, sorgte für ein irritiertes erstes sexuelles Erwachen. Wollte ich wie James Bond sein? Wohl kaum. Aber ich wollte solche Filme machen, weshalb die meisten Heimvideos, die ich als Teenager mit meinen Freunden und Geschwistern drehte, auch James-Bond-Parodien rund um unserem eigenen Geheimagenten Johann Bünett waren („James und Johann sind beides Butler-Namen und statt ‚blond‘ ohne L halt ‚brünett‘ ohne R“, wie mein Schulfreund Benjamin todsicher ausgeführt hatte).
Mit einer Energie, die nur Nerd-Kinder ohne Computer an den Tag legen können, verschlang ich alle gedruckten Informationen über die damals schon mehr als 30 Jahre laufende Filmreihe, so dass ich Euch die oben aufgeführten juristischen Probleme schon mit 13, 14 hätte referieren können. Da mein Schlagzeuglehrer ebenso großer Fan war und alle Filme auf VHS besaß, war ich nicht zwingend auf die Ausstrahlungen im linearen Fernsehen angewiesen — obwohl „Lizenz zum Töten“ für mich heute immer noch ein Weihnachts-Vorabend-Film ist, nur weil er zufälligerweise am 23. Dezember 1997 im Ersten gelaufen war, als meine Eltern im Wohnzimmer den Baum schmückten und ich den Film deshalb in Papas Arbeitszimmer gucken durfte.
Die Daniel-Craig-Ära begann im November 2006, als ich gerade für drei Monate in San Francisco lebte, und tatsächlich hab ich bis heute keinen einzigen Craig-Bond in deutscher Synchronfassung gesehen, weil es ab „Ein Quantum Trost“ (2008) dann auch in Bochum Filmvorführungen im englischsprachigen Original gab. Aber seit 2015 haben die „Mission: Impossible“-Filme bei mir eh „James Bond“ als liebste Agentenfilm-Reihe abgelöst.
Und jetzt? Unken die Fans im Internet, dass es das natürlich gewesen sei mit James Bond. Amazon werde das franchise ausschlachten und eine Art Marvel Cinematic Universe (MCU) daraus erschaffen mit spin-offs, Fernsehserien, origin stories und ähnlichem Schnickschnack. Gerade Barbara Broccoli hatte bis zuletzt darauf beharrt, Bond-Filme als singuläre Ereignisse alle zwei bis fünf Jahre ins Kino zu bringen. Vergleiche werden gezogen zum „Star Wars“-Universum, das seit dem Verkauf von Lucasfilm an Disney auch seinen Reiz verloren habe. Und da muss man jetzt vorsichtig sein: Ich sitze den ganzen „Star Wars“-Fernsehserien auch ratlos gegenüber und finde, dass „Der Aufstieg Skywalkers“, der letzte „Star Wars“-Film der dritten Trilogie aus dem Jahr 2019 seinen unmittelbaren Vorgänger „Die letzten Jedi“ in ähnlicher Weise verraten hat wie „SPECTRE“ es mit „Skyfall“ getan hatte. Anders als viele „Star Wars“-Fans, die zumindest geistig das Arbeitszimmer ihres Vaters oder den Keller ihrer Mutter nie verlassen zu haben scheinen, sehe ich das Problem aber nicht in starken Frauenrollen oder einem diversen cast.
Das Elend moderner Erzählweisen liegt für mich vielmehr in dem unendlichen Breittreten von Charakteren und Handlungsbögen (Stichwort „horizontales Erzählen“, Stichwort MCU), weil das teuer erworbene intellectual property so stark wie möglich ausgepresst werden muss — da bin ich dann ganz bei Barbara Broccoli, ihren event movies und ihrer Ablehnung des Begriffs „content“. (Die Ironie, dass wir hier über Bewegtbild-Adaptionen von Comicbuch-Reihen bzw. gehobeneren Groschenromanen sprechen, ist mir dabei durchaus bewusst, danke der Nachfrage!)
Fans, die sich im Internet empören, die kreative Kontrolle über künstlerische Projekte zu überlassen, halte ich allerdings für mindestens ebenso bescheuert, wie diese Aufgaben an die controller abzugeben, die einem dank irgendwelcher Erhebungen erklären wollen, welche „Inhalte“ gut „funktionieren“ — die Ergebnisse dieser Vorgehensweise kann man in den meisten Social-Media-Auftritten ehemals seriöser deutscher Medienmarken besichtigen. Es gibt immer zwei Sorten Nerds: Die, die Musik hören und dann das Bedürfnis haben, eine Band gründen (oder fernsehen und dann eine Kamera in die Hand nehmen), und die, die Verkaufszahlen oder Einschaltquoten studieren und dann daraus ableiten zu können glauben, was für Songs oder Filme erfolgreich sein könnten. Ich war immer entschieden im ersten Team.
Den rauchenden, trinkenden, schießenden und durchaus auch sexuell übergriffigen James Bond der Romane und frühen Filme könnte man heute allenfalls als period piece inszenieren, auch das vermutlich nur mit irgendeiner Art einordnendem Kommentar. In Zeiten, wo Typen wie Andrew Tate, Mark Zuckerberg und Joe Rogan ihre eher verstörende, weil unendlich traurige, Vorstellung von Männlichkeit ungefiltert auf Millionen Jungen und junge Männer loslassen können und giftige Männlichkeit eher wieder auf dem auf- als auf dem absteigenden Ast scheint, würde einer Judi Dench, die mal ordentlich auf den Tisch haut, vermutlich „cancel culture“ vorgeworfen werden, aber sie wäre notwendig.
Eine besondere Ironie liegt natürlich darin, dass die Zukunft des berühmtesten Geheimagenten jetzt in den Händen eines Konzerns liegt, dessen Gründer so eindeutig eine Checkliste der wichtigsten Bond-Bösewichte abgearbeitet zu haben scheint: Er baut Raketen wie Hugo Drax („Moonraker“), besitzt eine wichtige Zeitung wie Elliot Carver („Der Morgen stirbt nie“) und ist kahlköpfig wie Ernst Stavro Blofeld bei mehreren Auftritten. Aber wer weiß, vielleicht will Jeff Bezos den Antagonisten im nächsten Film auch einfach selbst spielen.