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Musik

Ich erinner‘ mich an alles

Alles hat­te mit Tom Liwa ange­fan­gen. Auf mei­nem ers­ten Fes­ti­val, Hald­ern 2000. Zwi­schen all den rocken­den Bands (also: soweit man in Hald­ern von „rocken“ spre­chen kann, es war irgend­wann zwi­schen Soul­wax, Embrace, K’s Choice und Paul Wel­ler) stand da ein Mann auf der Büh­ne, der zur Akus­tik­gi­tar­re irgend­wel­che deut­schen Tex­te näsel­te, in denen For­mu­lie­run­gen wie „jetzt darfst Du mich anfas­sen“ und „der Mit­tel­strei­fen wird nie­mals für uns bei­de rei­chen“ vor­ka­men. Mein bes­ter Freund und ich fanden’s doof – aus Prin­zip. Aber der Mann brauch­te kei­ne vier­zig Minu­ten, um uns durch die Emo­tio­nen „Ableh­nung“, „Mit­leid“, „Respekt“ und „Bewun­de­rung“ zu schi­cken. Anschlie­ßend baten wir höf­lich um Auto­gram­me und waren Fans.

Das ers­te Kon­zert, für das wir uns allei­ne mit der Bahn von Dins­la­ken aus auf den Weg in die gro­ße wei­te Welt mach­ten, war Tom Liwa im Bahn­hof Lan­gen­d­re­er (auf der Rück­fahrt ereig­ne­te sich die­se Epi­so­de). Obwohl wir mit 17 noch nicht die vol­le Dimen­si­on der Liwa’schen Tex­te erfas­sen konn­ten, waren Zei­len wie „Du bist ein selt­sa­mes, selt­sa­mes Mäd­chen“ oder „Es gab eine Zeit, da waren wir alle ver­liebt in Dich – auch ich“ natür­lich auch damals schon greif­bar. Liwa brach­te mir deutsch­spra­chi­ge Musik nahe, lan­ge bevor ich kett­car oder Tom­te kann­te.

Inner­halb von 13 Mona­ten sah ich Tom Liwa fünf Mal live, davon ein­mal auf dem Kir­chen­tag in Frank­furt, wo er zuvor bei einer Podi­ums­dis­kus­si­on irgend­ein Mit­glied der Söh­ne Mann­heims … nun ja: gedisst hat­te. Der bis­her letz­te Kon­zert­be­such war am 13. Sep­tem­ber 2001 in Wesel: Die gan­ze Welt war durch­ein­an­der und Tom Liwa stand auf der Büh­ne des Karo und bret­ter­te mit sei­ner Post-Punk-Band No Exis­te durch sein sonst so fili­gra­nes Werk. Alles war sur­re­al, aber es pass­te. Auf dem Heim­weg fühl­ten wir uns ein Stück weit siche­rer.

Dann dif­fun­dier­te Liwas Werk ins Eso­te­ri­sche: Er nahm Plat­ten auf, die mir gar nichts gaben, bot irgend­wel­che Semi­na­re an, über deren Inhalt und Sinn ich nicht urtei­len kann, und refor­mier­te die Flower­porn­oes für ein auch eher außer­ge­wöhn­lich zu nen­nen­des Album. Im ver­gan­ge­nen Jahr dann „Eine Lie­be aus­schließ­lich“: Tom Liwa wie­der völ­lig redu­ziert und ganz bei sich, dazu je ein Cover von Dylan und Snow Pat­rol.

Und jetzt: Tom Liwa, Bahn­hof Lan­gen­d­re­er. (Almost) ten years after. Die anfäng­li­che Angst, dass man da allei­ne sit­zen wür­de, ver­fliegt schnell. Neben­an tritt Johann König auf – auch nicht schön, aber so sind sie, unse­re Kul­tur­zen­tren: Ein Spie­gel der Gesell­schaft und ihres Geschmacks. Liwa eröff­net mit „I’ll Keep It With Mine“ auf der Uku­le­le und Bob Dylan ist ein gutes Stich­wort: Ein Grea­test-Hits-Pro­gramm wer­de er spie­len, sagt Liwa, „was ein biss­chen schwie­rig ist, weil ich ja nie Hits hat­te“. Aber was er spielt, ist genau das, was ich hören will, und was mich tat­säch­lich um zehn Jah­re zurück­wirft.

Nach einer Dylan-mäßig dekon­stru­ier­ten Fas­sung von „Für die lin­ke Spur zu lang­sam“ (Wie jetzt, „nie Hits“?!) fol­gen vie­le Sachen von den ers­ten bei­den Solo­al­ben, Neil Young, Joni Mit­chell und so ziem­lich das Schöns­te aus Flower­porn­oes-Zei­ten („Nicht müde genug“, „Eng in mei­nem Leben“, „Herz aus Stein“, „Respekt“). Tom Liwa ist blen­dend auf­ge­legt, er hat pri­vat ordent­lich was durch­ge­macht, wie er andeu­tet, aber alles über­wun­den. Nach Elliott Smith, Vic Ches­nutt und Mark Lin­kous tut es gut, einen Musi­ker zu sehen, dem es offen­sicht­lich gut geht. Sei­ne Ansa­gen las­sen den neben­an auf­tre­ten­den Come­di­an alt aus­se­hen. Und dann zwei Stun­den lang die­se Songs in einer Atmo­sphä­re, in der man Steck­na­deln Han­dys fal­len hören kann …

Man kann und will das nicht glau­ben, dass es schon fast eine gan­ze Deka­de her sein soll, als man in sei­nem Jugend­zim­mer saß, „St. Amour“ ins CD-Lauf­werk des PCs ein­leg­te und sich der Melan­cho­lie von Songs hin­gab, die sich einem zum gro­ßen Teil erst jetzt erschlie­ßen. Wenn grad nicht Tom Liwa lief, lie­fen die Smas­hing Pump­kins, an die­sen dunk­len, nas­sen Herbst­aben­den, die im Rück­blick gan­ze Jah­re füll­ten. Bil­ly Cor­gan schreibt heu­te Songs mit Jes­si­ca Simpson, Tom Liwa ist immer noch da. Und er ist so gut wie eh und je.