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Gesellschaft

Wie das Brötchen vor der Schlange

Ver­gan­ge­ne Woche fei­er­te die Gur­ken­ver­ord­nung der EU ihren 25. Geburts­tag. Es war ein trau­ri­ges Fest, denn die Ver­ord­nung weilt inzwi­schen nicht mehr unter uns. Den­noch ist sie zum Sym­bol gewor­den für den Regu­lie­rungs­wahn der Euro­päi­schen Uni­on – und schuld dar­an, dass Jour­na­lis­ten und Bür­ger der EU wirk­lich jeden Unfug zutrau­en.

Gesetz­lich gänz­lich unge­re­gelt ist aller­dings eine der größ­ten All­tags­gei­ßeln der Zivi­li­sa­ti­on: die War­te­schlan­ge. Man kennt sie in der Super­markt-Vari­an­te aus dem Klein­kunst-Dau­er­bren­ner „Die ande­re Schlan­ge ist immer schnel­ler“, als Num­mern­re­vue aus dem Bür­ger­bü­ro und – in ihrer wil­des­ten und unüber­sicht­lichs­ten Form – aus der Bäcke­rei.

Der deut­sche Durch­schnitts­bür­ger hat pani­sche Angst davor, über­gan­gen zu wer­den. Des­halb bil­det er am Bahn­steig eine im Prin­zip mensch­li­che, aber meist eher an Zom­bies gemah­nen­de Wand vor sich öff­nen­den Zug­tü­ren – die Bahn könn­te ja sonst ohne ihn los­fah­ren. Des­halb bleibt er in der U‑Bahn ste­hen, sobald er ein­ge­stie­gen ist – wenn er wei­ter durch­gin­ge und den gan­zen Wag­gon aus­nut­zen wür­de, könn­te er ja an sei­ner Ziel­hal­te­stel­le unter Umstän­den nicht recht­zei­tig aus­stei­gen. Jeder ist sich selbst der Nächs­te, nur die Stärks­ten über­le­ben.

Wäh­rend das Kli­schee besagt, dass Bri­ten sogar an jeder Bus­hal­te­stel­le in Reih und Glied war­ten, las­sen sich Deut­sche, wie­wohl stets zur Polo­nai­se bereit, meist nur unter Ein­satz von Waf­fen, min­des­tens aber von Gurt­pfos­ten, zum kor­rek­ten Schlan­ge­ste­hen zwin­gen.

Als die Deut­sche Post vor eini­gen Jah­ren das ein­zig sinn­vol­le War­te­sys­tem, die zen­tra­le War­te­schlan­ge, ein­führ­te, ver­glich die „Süd­deut­sche Zei­tung“ die­se mit dem „Prin­zip Wurst­the­ke“. Das mag zutref­fen, solan­ge es genau eine Bedie­nung hin­ter die­ser Wurst­the­ke gibt. Sind es aber zwei oder mehr, ist das Cha­os vor­pro­gram­miert – womit wir wie­der in der Bäcke­rei wären.

Hin­ter der The­ke ste­hen drei, vier, an Sonn­tag­mor­gen viel­leicht sogar fünf Ver­käu­fe­rin­nen. Theo­re­tisch neben­ein­an­der, prak­tisch wuseln sie zwi­schen Mohn­bröt­chen, Crois­sants und Mehr­korn­bro­ten umher wie Amei­sen in ihrem Bau – wie Amei­sen wis­sen sie aber auch genau, was sie tun und wo sie hin­müs­sen. Womit sie sich grund­le­gend von ihren Kun­den unter­schei­den.

Die ste­hen auf der ande­ren Sei­te der The­ke und ver­su­chen, sich an den Posi­tio­nen der auf­ge­stell­ten Kas­sen oder den Ver­käu­fe­rin­nen zu ori­en­tie­ren, und bil­den dabei drei, vier, fünf (die Anzahl kann auch schon mal die der Ver­käu­fe­rin­nen über­stei­gen) Mikro­schlan­gen, die sich aber nicht im rech­ten Win­kel zur The­ke posi­tio­nie­ren (das ist zumeist schon archi­tek­to­nisch aus­ge­schlos­sen), son­dern par­al­lel dazu. Dadurch bleibt für alle Betei­lig­ten – war­ten­de Kun­den, Ver­käu­fe­rin­nen, neu ein­tre­ten­de Kun­den, evtl. zu Hil­fe eilen­de UN-Blau­hel­me – völ­lig unklar, wie vie­le Schlan­gen es gibt, und wer in wel­cher steht. Das Ergeb­nis: Neid, Miss­gunst, Zwie­tracht.

Wie oft habe ich es als Kind erlebt, dass ich beim sams­täg­li­chen Bröt­chen­kauf schlicht über­gan­gen wur­de. Ich konn­te ja noch nicht mal über die The­ke schau­en und dann waren da auch noch all die­se alten Men­schen, die sich ein­fach vor­ge­drän­gelt haben! Und wie froh ich war, als die Bäcke­rei in unse­rem nie­der­län­di­schen Urlaubs­ort eine Num­mern­aus­ga­be ein­führ­te! Da konn­te man abschät­zen, wie lan­ge man noch war­ten muss, bis man auch wirk­lich bedient wird – und in der Zwi­schen­zeit schon mal einen hal­ben Tag an den Strand gehen oder eine mitt­le­re Fahr­rad­tour unter­neh­men.

Auch heu­te sind es häu­fig noch Rent­ner, die glau­ben, schon „dran“ zu sein. Man kann ihnen da aller­dings nur schwer­lich Vor­wür­fe machen: Die Lage ist ja meis­tens fast so unüber­sicht­lich wie in Syri­en und nach eini­gen Jah­ren, in denen man dau­ernd über­gan­gen wur­de, gewöhnt man sich an, auf die leicht pani­sche Fra­ge der Ver­käu­fe­rin­nen, wer der Nächs­te sei, mit „Ich!“ zu ant­wor­ten. Sind wir nicht alle ein biss­chen FDP?

Es ist daher erstaun­lich, dass die Grü­nen, die doch sonst alles regu­lie­ren wol­len, in ihrem Wahl­pro­gramm dem Kon­flikt­herd in jeder Nach­bar­schaft kei­ne ein­zi­ge Zei­le wid­men. Eine Par­tei, die sich für eine sinn­vol­le Orga­ni­sa­ti­on von Bäcke­rei-War­te­schlan­gen stark macht, hät­te durch­aus mei­ne Sym­pa­thien.

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Leben Unterwegs

Räuber und Gedärm

Es gibt gute Grün­de, kei­ne Bank zu über­fal­len. Der nahe­lie­gends­te: dar­auf ste­hen hohe Stra­fen. Wenn man nicht sofort erwischt wird, wird man in „Akten­zei­chen XY … unge­löst“ von einem schlech­ten Lai­en­schau­spie­ler por­trä­tiert, der der Mei­nung ist, wil­des Her­um­ge­fuch­tel und ein alber­ner Akzent täten sei­ner Rol­le gut. Soll­te man die Haft end­lich hin­ter sich gebracht haben, ist längst noch nicht alles vor­bei: es dro­hen Ein­la­dun­gen zu Beck­mann und/​oder Ker­ner, die man auch noch anneh­men muss, weil man das Geld braucht. Mög­li­cher­wei­se wird es auch unmög­lich, jemals noch­mal ein Kon­to zu eröff­nen.

Bei mir kommt ein ganz prak­ti­scher Grund dazu.

Auf der Durch­rei­se im Duis­bur­ger Haupt­bahn­hof dach­te ich mir, ich geh noch mal eben Geld abhe­ben. Direkt am Hin­ter­aus­gang liegt näm­lich eine Volks­bank. Da ging ich mit Ruck­sack und Rei­se­ta­sche hin­ein, hol­te etwas Geld aus der Wand und woll­te beschwing­ten Schrit­tes, weil Cold­play im Ohr, mei­nen Weg fort­set­zen. Mit mei­ner Rei­se­ta­sche in der Hand trat ich auf die Stra­ße und ver­hed­der­te mich im her­un­ter­hän­gen­den Tra­ge­rie­men. Ich stol­per­te, ver­hin­der­te einen Sturz, sah dabei aber sicher nicht son­der­lich ele­gant aus. Dann ging ich noch einen Schritt, hat­te aber nicht bemerkt, dass sich mein Fuß immer noch in dem ver­damm­ten Rie­men befand, und stol­per­te erneut. Dicke Kin­der star­ten mich mit­lei­dig an und für einen Moment befürch­te­te ich, mein altes Bun­des­ju­gend­spiel­trau­ma wür­de wie­der her­vor­bre­chen.

Zum Glück gibt es im Duis­bur­ger Haupt­bahn­hof einen der bes­ten Bäcker der Repu­blik. Rha­bar­ber­tört­chen sind eine ganz her­vor­ra­gen­de Ner­ven­nah­rung.

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Kultur

Back Office

Der Klas­sen­raum einer berufs­bil­den­den Schu­le irgend­wo in Ber­lin. An einem Dut­zend Tische sit­zen ange­hen­de Bäcke­rei­fach­ver­käu­fe­rin­nen. Vor­ne ste­hen der Leh­rer und Herr Brö­dow von der IHK.

Leh­rer: Guten Mor­gen, Mädels! Ihr wisst, heu­te wird’s ernst! Ich bin aber ganz zuver­sicht­lich, dass Ihr die Prü­fung schaf­fen wer­det, Ihr seid ja alle gut vor­be­rei­tet. Lasst Euch nicht ver­rückt machen!
Herr Brö­dow: Ja, natür­lich auch von mei­ner Sei­te einen guten Mor­gen. Ich wün­sche Ihnen viel Erfolg, ich bin ja nicht hier, um Sie durch­fal­len zu las­sen! (lacht)
Leh­rer: Um es mög­lichst fair zu gestal­ten, haben wir die Rei­hen­fol­ge, in der Ihr geprüft wer­det, vor­ab aus­ge­lost. Es geht los mit: Nadi­ne!

Nadi­ne schlägt die Hän­de vors Gesicht, dann steht sie auf und geht nach vor­ne.

Herr Brö­dow: Nadi­ne, machen Sie sich kei­ne Sor­gen. Ihre Noten sind ja alle­samt sehr gut, sehe ich. Wir machen ein klei­nes Rol­len­spiel: Ich bin Kun­de bei einem mit­tel­gro­ßen Sor­ti­ment-Bäcker, Sie bedie­nen mich. Ich kom­me dann mal rein.

Herr Brö­dow geht umständ­lich zur Tür, öff­net die­se aber nicht, und geht wie­der auf Nadi­ne zu.

Nadi­ne: Guten Mor­gen!

Der Leh­rer zuckt zusam­men, ein Rau­nen geht durch die Klas­se. Herr Brö­dow hält inne.

Herr Brö­dow: Nadi­ne, Sie sind auf­ge­regt, das macht gar nichts. Atmen Sie ein­mal tief durch, wir begin­nen dann noch mal!

Herr Brö­dow geht wie­der Rich­tung Tür, war­tet, bis Nadi­ne sich etwas locke­rer hin­ge­stellt hat, und geht dann wie­der zu ihr.

Herr Brö­dow: Guten Mor­gen!
Nadi­ne: Guten Mor­gen, was …

Der Leh­rer schlägt die Hän­de vors Gesicht, die Mit­schü­le­rin­nen rut­schen ein Stück unter ihre Pul­te.

Herr Brö­dow: Wis­sen Sie, wir fan­gen ein­fach noch ein drit­tes Mal an. Aller guten Din­ge sind ja, haha, drei. Blei­ben Sie ganz ruhig und kon­zen­trie­ren Sie sich. (Er ballt die Faust, eine alber­ne Moti­vie­rungs­ges­te.) Sie wol­len die Bäcke­rei­fach­ver­käu­fe­rin­nen von Ber­lin reprä­sen­tie­ren! Wir fan­gen ein­fach direkt an: Guten Mor­gen!

Nadi­ne guckt unsi­cher zu ihren Mit­schü­le­rin­nen, die abbrem­sen­de Ges­ten machen. Es ent­steht eine pein­li­che Stil­le.

Nadi­ne: (brummt) Mor­gen!

Der Leh­rer atmet erleich­tert durch, die Mit­schü­le­rin­nen strah­len.

Herr Brö­dow: Ich hät­te gern einen But­ter­crois­sant, drei Schrip­pen und … Was ist das da? (Deu­tet auf ima­gi­nä­re Back­wa­ren.)
Nadi­ne: Das sind Rosi­nen­schne­cken!

Herr Brö­dow fällt aus sei­ner Kun­den­rol­le und wird wütend.

Herr Brö­dow: Also wirk­lich, ich gebe Ihnen hier die drit­te Chan­ce und Sie machen immer noch alles falsch. Sie da (er deu­tet auf Man­dy): Wie lau­tet die kor­rek­te Ant­wort?
Man­dy: (steht auf) „Steht doch dran!“
Herr Brö­dow: Sehr rich­tig! Sie haben schon fast bestan­den! (lächelt unan­ge­nehm; wen­det sich wie­der Nadi­ne zu) Also noch­mal: Was ist das da?
Nadi­ne: (brummt) Steht doch dran!
Herr Brö­dow: Dann neh­me ich davon zwei!
Nadi­ne: Sonst noch was?

Der Leh­rer schlägt mit dem Kopf gegen die Wand, die Mit­schü­le­rin­nen seuf­zen.

Herr Brö­dow: (wütend) Nadi­ne, wo wol­len Sie denn arbei­ten? Im Puff oder in der Bäcke­rei? Sie müs­sen sich schon kon­zen­trie­ren! Mit so einer Lari-Fari-Ein­stel­lung kom­men Sie nicht weit!
Nadi­ne: (brüllt) Jetzt reicht’s mir aber, Sie dum­mes Arsch­loch! Sie gucken doch eh nur die gan­ze Zeit der Man­dy auf die Tit­ten! Ich kann das hier sehr wohl, ja? Ich hab nur kei­nen Bock, für so eine arm­se­li­ge Witz­fi­gur hier so eine Rie­sen­schau abzu­zie­hen wie im Kas­per­le­thea­ter! Ich hab über­haupt kei­nen Bock mehr auf die gan­ze Schei­ße hier!

Nadi­ne stampft wütend zu ihrem Platz, wo sie sich mit ver­schränk­ten Armen nie­der­lässt. Die Mit­schü­le­rin­nen erhe­ben sich und applau­die­ren, der Leh­rer strahlt.

Herr Brö­dow: Glück­wunsch, Sie haben mit Aus­zeich­nung bestan­den!