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Dialektik der Nicht-Aufklärung

Waschen Sie sich den rechten Arm, pieksen Sie kleine Reichskriegsfähnchen in den Käse und hängen Sie die Hakenkreuzgirlande auf: Wir haben einen neuen Nazi-Vergleich!

Die katholischen Traditionalisten der Priesterbruderschaft St. Pius X. hat sich im Vorfeld des Stuttgarter Christopher Street Days zu einer bemerkenswerten Aussage hinreißen lassen, wie “Spiegel Online” berichtet:

“Wie stolz sind wir, wenn wir in einem Geschichtsbuch lesen, dass es im Dritten Reich mutige Katholiken gab, die sagten: ‘Wir machen diesen Wahnsinn nicht mit!’. Ebenso muss es heute wieder mutige Katholiken geben!” heißt es in dem Text. Die Bruderschaft stellt den CSD als “eine Menge von sich wild und obszön gebärdenden Menschen” dar, die durch die Straßen Stuttgarts ziehen und suggerieren wollten, “Homosexualität ist das Normalste der Welt”.

Dieser Vergleich ist in zweierlei Hinsicht beeindruckend: Erstens war der Widerstand der Katholiken im Dritten Reich, vorsichtig gesagt, nicht sonderlich erfolgreich. Es dürfte also feststehen, dass nur noch eine Allianz aus den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion Deutschland von der Homosexualität befreien könnte. Und zweitens war der Nationalsozialismus laut Piusbruderschaft ja gar nicht so schlimm.

Hier berufen sich also Leute stolz auf den erfolglosen Widerstand gegen ein – ihrer Meinung nach – nur mittelmäßiges Verbrechen. Normale menschliche Gehirne wären wegen Überhitzung längst auf Not-Aus gegangen.

Auch “Bild” berichtet über die “Kampfansage” der Piusbrüder — natürlich nicht, ohne vorher noch ein bisschen Papst-Klitterung zu betreiben:

Nachdem Anfang des Jahres Pius-Bischof Williamsons den Holocaust leugnete und daraus ein Streit zwischen Pius-Bruderschaft und Vatikan entbrannte, folgt nun der nächste Hammer.

(Für die Jüngeren: Führende Piusbrüder hatten den Holocaust schon öfter geleugnet. Die öffentliche Diskussion entzündete sich daran, dass Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation von vier Bischöfen der Bruderschaft aufgehoben hatte.)

Jetzt schießt kreuz.net, das inoffizielle Zentralorgan der Piusbruderschaft, zurück und beginnt seine Hasstirade völlig unverblümt:

Spätestens jetzt wird die Einrichtung von Gaskammern unvermeidlich – dieses Mal nicht für die von den Deutschen getöteten religiösen Juden, welche die Homo-Perversion genauso verabscheuten wie es heute die Altgläubigen tun.

Immer wieder überraschend, wie viele Haken so ein Kreuz schlagen kann.

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“Mit größter Präzision”

Mahnmal in Dinslaken, geschaffen von Alfred Grimm

Zu den ganz großen Rätseln der Menschheitsgeschichte, die einem den Glauben an Zufälle einigermaßen madig machen, zählt der 9. November. Zu dem Umstand, dass so viele wichtige Ereignisse an jenem 9.11., dem “Schicksalstag der Deutschen”, stattfanden (wobei die Ereignisse von 1923 und 1938 natürlich auf die von 1918 aufbauten), kommt auch noch hinzu, dass die amerikanische Schreibweise des 11. Septembers “9/11” lautet. Darüber haben sich überhaupt noch nicht genug Verschwörungstheoretiker Gedanken gemacht.

Anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Novemberpogrome von 1938 möchte ich Sie heute auf einen Text aufmerksam machen, den ich vor einiger Zeit im Internet gefunden habe. Yitzhak Sophoni Herz, der zu dieser Zeit Direktor des jüdischen Waisenhauses in Dinslaken war, hat ihn geschrieben.

At 9:30 A.M. the bell at the main gate rang persistently. I opened the door: about 50 men stormed into the house, many of them with their coat- or jacket-collars turned up. At first they rushed into the dining room, which fortunately was empty, and there they began their work of destruction, which was carried out with the utmost precision.

Hier errichteten 1885 die Juden unserer Stadt ein Waisenhaus. Bis zur Zerstörung durch die Naziverbrecher wurden hier jüdische Vollwaisen betreut.

Herz beschreibt darin mit erstaunlicher Sachlichkeit die Zerstörung des jüdischen Waisenhauses und der Synagoge, also von zwei Gebäuden, von denen ich nicht viel mehr weiß als dass sie dort standen, “wo jetzt die Bohlen-Passage ist” und “da, wo jetzt die Spielhalle ist”. Und er schreibt über Leute, mit denen ich noch im gleichen Supermarkt eingekauft oder in der gleichen Kirche gesessen haben kann, ohne von ihrer Geschichte zu wissen:

[T]he senior police officer, Freihahn, shouted at us: “Jews do not get protection from us! Vacate the area together with your children as quickly as possible!” Freihahn then chased us back to a side street in the direction of the backyard of the orphanage. As I was unable to hand over the key of the back gate, the policeman drew his bayonet and forced open the door. I then said to Freihahn: “The best thing is to kill me and the children, then our ordeal will be over quickly!” The officer responded to my “suggestion” merely with cynical laughter.

Der frühere Standort der Synagoge in DinslakenIch halte solche Schilderungen aus der eigenen Heimatstadt für aussagekräftiger als jede Tabelle mit abstrakten Zahlen. Man beginnt zu begreifen, was da in der Stadt los war, in der man selber 45 Jahre später lebte.

Aber auch wenn Sie noch nie in Dinslaken waren, sei Ihnen “Description of the Riot at Dinslaken” von Yitzhak Sophoni Herz dringend zur Lektüre empfohlen.

Eine gekürzte deutsche Übersetzung des Textes und weitere Augenzeugenberichte aus jener Nacht in Dinslaken finden Sie auf der Website der Städtepartnerschaft von Dinslaken mit dem israelischen Arad.

Weitere Fakten zur jüdischen Gemeinde in Dinslaken gibt es hier, einen Auszug aus einem Buch des Dinslakener Holocaust-Überlebenden Fred Spiegel können Sie hier lesen.

Das Foto ganz oben zeigt das Mahnmal für die Opfer der Pogromnacht in Dinslaken, geschaffen von Alfred Grimm.

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Der Nazi-Vergleich des Monats

… wird Ihnen präsentiert von Hans-Werner Sinn, dem Präsidenten des Münchner Ifo-Instituts.

Den zitiert der “Tagesspiegel” wie folgt:

“In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken”, sagte er dem Tagesspiegel. In der Weltwirtschaftskrise von 1929 “hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager”.

Damit sichert sich Sinn natürlich einen der begehrten Plätze in der großen Nazi-Vergleichs-Liste von Coffee And TV — auch wenn es sich streng genommen nur um eine Coverversion von Roland Kochs Schlager “Eine neue Form von Stern an der Brust” handelt.

Streng genommen handelt es sich hierbei natürlich nicht direkt um einen Nazi-Vergleich, weil das obligatorische “wie/seit Hitler/Goebbels/1945” fehlt. Andererseits wird hier gleich jeder, der heute Manager kritisiert, mit Antisemiten gleichgesetzt. Und das wäre, wenn Sinn das tatsächlich gemeint haben sollte, natürlich schon eine ziemlich verunglückte Weltsicht.

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Das virtuelle Massengrab der Nischendekadenz

Bei Wind und Wetter stehen auf der Dr.-Gerhard-Petschelt-Brücke, die die Bochumer Stadtbahn-Haltestelle “Ruhr-Universität” mit dem eigentlichen Gelände der Ruhr-Universität verbindet (und die daher zum öffentlichen Raum gehört) Menschen mit einem klapprigen Campingtisch, auf dem Flugschriften ausliegen. Mit wackligen Holzaufstellern, auf denen wirre Forderungen geschrieben stehen, versperren sie den Studenten den Weg zu ihrer Alma Mater. Dies sind die Mitglieder der “Bürgerrechtsbewegung Solidarität”, kurz “BüSo”.

Die meisten Studenten hasten vorbei, nur wenige lassen sich von Botschaften wie “Die Kernschmelze des Weltfinanzsystems ist in vollem Gang!” oder “Killerspiele töten die Seele!” dazu hinreißen, Informationsgespräche zu suchen. Gestern fand ich aber eine ausgelesene “BüSo”-Kampfschrift in einem Seminarraum und meine journalistische Neugier zwang mich dazu, das Werk mit spitzen Fingern (sehr billige Druckerschwärze, saut rum wie sonst was) in Augenschein zu nehmen. Ein Protokoll.

Die Flugschrift, die an eine kleine Zeitung erinnert (“2 € empfohlener Beitrag”), ist zweigeteilt: Aus der einen Richtung beschäftigt sie sich mit der Frage “Steckt der Teufel in Deinem Laptop?” (dazu kommen wir gleich noch ausführlich), dreht man sie um, lacht einen die überraschende Forderung “Bauen wir die Weltlandbrücke!” an.

“BüSo”: “Bauen wir die Weltlandbrücke!”Die “Weltlandbrücke”, das soll ein “genau aufeinander abgestimmtes System von Schnellbahnen, Transrapidstrecken, Autobahnen sowie Wasserwegen” werden, ergänzt durch die “Querung der Beringstraße mit einem 100 km langen Tunnel”. Gebraucht werde dieses völlig neuartige Verkehrsnetz für die Zeit nach dem “gegenwärtig kollabierenden System der Globalisierung” und um eine “neue Friedensordnung” möglich zu machen. Solche Utopien von latentem Größenwahn üben immer eine gewisse Faszination auf mich aus, so wie die das “Globale Wiederaufbauprogramm für dauerhaften Weltfrieden” oder die Pläne für die “Welthauptstadt Germania” (deren zugrunde liegender Größenwahn allerdings nicht mehr latent war).

Die “Weltlandbrücke” basiert auf einem Vorschlag von Lyndon LaRouche, einem amerikanischen Politiker, der vor allem durch den siebenmaligen Versuch, Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu werden, antisemitische Äußerungen und eine Verurteilung wegen Verschwörung und Postbetrug von sich reden machte. ((LaRouche bezeichnet seine Verurteilung als eine Verschwörung von – halten Sie sich bitte fest! – Henry Kissinger, dem FBI, dem “Wall Street Journal”, NBC, “Reader’s Digest” und der Anti-Defamation League.)) Geschrieben wurde der Artikel von Helga Zepp-LaRouche, der Gattin Lyndon LaRouches und Gründerin des “Schiller-Instituts”, der Parteien “Europäischen Arbeiterpartei” und “Patrioten für Deutschland”, sowie von “BüSo”. In der ganzen Schrift findet sich kein Artikel, der nicht aus der Feder eines der Beiden stammt, sie zitiert oder auf ihre Theorien Bezug nimmt.

Besorgniserregender als die Forderung, eine “Eurasische Landbrücke” zu bauen, ist der andere Teil der Flugschrift, der mit markigen Worten eingeleitet wird:

Historisch betrachtet könnte man dieser Flugschrift vielleicht ebenso viel Wert beimessen wie den Flugblättern der Weißen Rose, die mit Heldenmut den Feind im eigenen Land bekämpften und bis zuletzt das wahre Deutschland Friedrich Schillers verteidigten. Wie im folgenden klar werden wird, kommt Faschismus heute nicht im braunen Gewand daher, sondern mittels subtiler Gleichschaltung/”Vernetzung” einer ganzen Generation, bei der sowohl Joseph Goebbels als auch Aldous Huxley vor Neid erblaßt wären. Diese Flugschrift soll vor allem den jungen Leser befähigen, dies als Krankheit zu erkennen, um sich rechtzeitig davon zu befreien.

“Oh mein Gott, worum geht’s?”, werden Sie sich entsetzt fragen. Oder: “Was kann ich dagegen tun?” Nichts, denn Sie und ich, wir sind schon mittendrin im Elend, im Kampf “Noosphäre contra Blogosphäre”. Was die “Noosphäre” ist, entnehmen Sie bitte der Wikipedia.

Doch worum geht es wirklich? MySpace, Facebook und Killerspiele, die allen Ernstes durchgehend in dieser Dreifaltigkeit genannt werden, sind Schuld daran, dass die Jugend völlig verkommt und zu brutalen Amokläufern wird:

Ob iPod, Laptop, wLAN, Killerspiele, Second Life usw.; wer sich diese Art von Zeitvertreib a la MySpace, StudiVZ oder SchülerVZ mal genauer anschaut, wird schnell feststellen, daß er hier auf ein virtuelles Massengrab gestoßen ist, in dem wirklich jede Form von Dekadenz ihre Nische gefunden hat, bis hin zur Nekro- und Pädophilie.

Hinter all dem stecken das “International Network of Social Network Analysis” (INSNA), das das Internet erfunden hat, um die Menschheit zu unterjochen, und Bill Gates, dessen Firma Microsoft laut Flugschrift unter anderem für “Counterstrike” und “Doom” verantwortlich ist, zwei “Killerspiele”, die in der Welt, die wir für die Realität halten, natürlich von Sierra Entertainment/EA Games bzw. id soft stammen und mit Microsoft so rein gar nichts am Hut haben.

Wir haben aber natürlich alle keine Ahnung, weil wir uns auf Google und die Wikipedia verlassen. In einem ganzseitigen Artikel wird der Versuch unternommen, die Geschichte der Wikipedia zu erklären, die ihrem Gründer Jim Wales unterstellt sei. Der ebenso zentrale wie entlarvende Satz des Artikels lautet:

Stöhnt man stets “Verschwörungstheorie!” und schließt aus, was nicht dem gängigen Konsens entspricht, so verbietet man effektiv, nach Gründen und Ursachen zu forschen, und zwingt andere, sich der Manipulation und Überredung des einfachen Konsens zu unterwerfen.

“BüSo”: “Steckt der Teufel in Deinem Laptop?”Der Satz bezieht sich auf die 9/11-Verschwörungstheorien, die durchs Internet geistern, von LaRouche gerne mal befeuert werden und theoretisch mithilfe der Wikipedia belegt werden können – wenn man ihr denn als Quelle traut. Er sagt aber im Umkehrschluss auch alles über die Verschwörungstheoretiker dieser Welt aus: Hat man nämlich einmal den Gedanken verinnerlicht, dass eine gleichgeschaltete Weltöffentlichkeit einem Informationen vorenthält, dann muss man ja die Informationen, die einem die Verschwörungstheoretiker unterbreiten, schon allein deshalb für bare Münze nehmen, weil man sie ja nirgendwo sonst findet. Und schon befindet man sich mitten in der altbekannten Logikschleife der Paranoiden, die man auch gar nicht mehr stoppen kann, weil man ja systemimmanent keinen Gegenbeweis antreten kann. Deshalb sieht es für mich als Opfer der Verschwörung natürlich auch so aus, als stecke hinter dem Wikipedia-Bashing vor allem gekränkte Eitelkeit, wie dieser Abschnitt suggeriert:

Originalschriften, die von LaRouche oder seiner Bewegung verfaßt wurden, dürfen aus jedem Wikipedia-Artikel, außer den Artikeln “LyndonLaRouche” und anderen eng verwandten, gelöscht werden. Weiterhin werden die Unterstützer LaRouches angewiesen, keine direkten Referenzen zu ihm in Artikel einzufügen, es sei denn dort, wo sie sehr relevant sind. Es soll nichts geschrieben werden, was als “Werbung” für LaRouche wahrgenommen werden könnten.

Es wurde, so erfahren wir weiter, ein Artikel rückgängig gemacht, in dem Lyndon LaRouche als “die dritte große Schule der Kritik an der Frankfurter Schule zitiert wurde”.

In einem vor den üblichen Klischees nur so strotzenden Dreiseiter über Amokläufer soll nachgewiesen werden, dass “die Fakten” “auf der Hand” liegen, was im Klartext heißt: Sie alle haben “Killerspiele” gespielt und Nine Inch Nails (“die Lieblingsband bereits früherer Schulattentäter”) gehört. Inwiefern die Lieblingsbücher eines finnischen Amokläufers (“1984 von George Orwell, Schöne neue Welt von Aldous Huxley und Nietzsches Gesamtwerk“) da hineinpassen sollen, erschließt sich mir als ahnungslosem Außenstehenden zwar nicht, aber Huxley haben wir ja weiter oben schon in einem Atemzug mit Goebbels getroffen.

Ein weiterer Artikel handelt von den “42 Millionen MySpace-Nutzern bzw. -Opfern!”, der “alten anglo-holländischen Politik, die die Kultur lenken und den Geist derjenigen kontrollieren will, die in Zukunft die Führung der Menschheit darstellen” und wartet mit so geistreichen Fakten wie diesen auf:

Wie die Internetseite MyDeathSpace im Nov. 2006 berichtete, gab es 600 Mordopfer und 35 Mörder, die bei MySpace registriert waren.

Das hört sich natürlich spektakulär an. In Deutschland mit seinen 82 Millionen (also fast doppelt so vielen) Einwohnern gab es im Jahr 2006 983 Mordopfer (1,19 Morde pro 100.000 Einwohner). Zieht man zum Vergleich aber die Kriminalitätsrate in den USA heran, die 7,8 Mordopfer pro 100.000 Einwohner zählt, wäre selbst eine Zahl von 600 Mordopfern bei 42 Millionen “MySpace-Opfern” noch die relativ harmlose Mordquote von 1,43 Opfern pro 100.000. Und Berlin wäre froh, wenn sich dort nur 35 Mörder rumtrieben!

Das Geeiere um “Killerspiele und Internetgewalt” wirkt, als hätten die Redakteure von “Frontal 21” und “Süddeutscher Zeitung” einen Eierlikörreichen Nachmittag bei meinen Großeltern auf der Couch verbracht, und das sonstige Weltbild hinter “BüSo” ist so bunt und krude zusammengezimmert, dass selbst L. Ron Hubbard und Eva Herman noch etwas lernen könnten. Das nordrhein-westfälische Innenministerium nennt das ganze “allgemeine politische Theorien, utopische Vorstellungen und z. T. verwirrende Forderungen und Thesen”, die “im Übrigen jedoch keine Kernforderungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Frage stelle”.