Der erste Monat 2023 ist fast rum, schnell noch eben die Acts des Jahres 2022 in eine ordentliche Liste packen:
10. Sudan Archives
Schon der Name, unter dem Brittney Denise Parks Musik macht, macht neugierig: Sudan Archives, das klingt erstmal nach field recordings, nach Ethnologie und world music. Ja, aber: Die Art, wie sie Einflüsse aus afrikanischer Musik, Elektronik und Hip-Hop mischt und zwischendurch noch auf ihrer Geige spielt, ist nur eine (wenn man so will: akademische) Ebene ihres Sounds. Vor allem flirrt, klopft und groovt ihre Musik; oft passiert vieles gleichzeitig und doch bleibt noch viel Platz in den Arrangements, um zu atmen. „Natural Brown Prom Queen“ (Stones Throw Records; Apple Music, Spotify, Bandcamp) heißt ihr zweites Album und der Titel kommt schon angemessen breitschultrig daher: Wer women of color im Jahr 2022 noch an den Rand drängen wollte, ist bei Sudan Archives an der falschen Adresse (natürlich auch generell; diversity exists, get used to it). „I’m not average“ wiederholt sie im Quasi-Titeltrack „NBPQ (Topless)“ und beschreibt darin, wie es ist, ausgegrenzt und kritisch beäugt zu werden und dieses Anders-Sein zu einer Art Markenzeichen umzuwidmen. „Natural Brown Prom Queen“ ist also ein Album, das sowohl bei sorgfältiger Beschäftigung auf der inhaltlichen Ebene funktioniert, als auch einfach gut als Soundtrack des eigenen Lebens funktioniert — und das ist ja immer super, wenn sowas möglich ist!
9. Janou
Ich finde es ja immer stark, wenn Menschen ihr Ding durchziehen: Ich kenne Jana von Janou jetzt schon mehr als zehn Jahre und habe erlebt, wie sie rumorende Bochumer Kneipen zum Schweigen brachte, indem sie ihre Stimme zur Akustikgitarre erhob. Seit einigen Jahren ist Janou ein Duo mit starken elektronischen Einflüssen und diese ganzen Sounds lassen ihre ausdrucksstarke Stimme noch mehr strahlen. Nach einigen Singles erschien 2022 mit „Fluid Ground“ (Skip A Beat; Apple Music, Spotify) die erste EP, die Bock auf mehr macht: Wenn im opening cut „Down“ kurz eine Erinnerung an „She Drives Me Crazy“ von den Fine Young Cannibals durchschimmert, wenn „Lonely Boy“ von den Black Keys mit Genehmigung der Band zu „Lonely Boy (Girl)“ umgewidmet wird, „Solitude“ ein Licht in der Dunkelheit anzündet oder „Rosemary“, mein persönlicher Sommerhit 2022 (s.a. die Songs des Jahres), Bochum nach LA oder Miami verlegt. Wo sind die Radiosender, die sowas auf Rotation nehmen?!
8. Maro
Ich habe es im letzten Jahr in jedem Interview gesagt und ich wiederhole es gerne: Der Eurovision Song Contest hat nur noch wenig mit dem freakigen musikalischen Paralleluniversum zu tun, als das er über Jahrzehnte galt. Er ist nicht mehr nur die jährliche Leistungsschau der Bühnentechnik-Industrie, sondern auch ein … nun ja: ernstzunehmendes Musikfestival, bei dem man Acts entdecken kann, die einem die heimische Musikpresse und der Spotify-Algorithmus jetzt eher nicht vorgestellt hätte. So auch Mariana Secca aus Portugal, die als Maro (gesprochen: Maru) großartige Musik macht: Ihr ESC-Beitrag „Saudade, Saudade“ (s.a. die Songs des Jahres) ist auf ihrem letztjährigen Album „Can You See Me?“ (Secca Records; Apple Music, Spotify) gar nicht vertreten, dafür Songs wie das hypnotische „Am I Not Enough For Now?“, das schläfrige „We’ve Been Loving In Silence“ oder „Like We’re Wired“, das klingt wie ein Sonnenaufgang. Inhaltlich bildet das Album die Gefühlswelt einer Frau Mitte Zwanzig ab, mit all den großen Erwartungen und Enttäuschungen, die auch Liz Phair, Fiona Apple oder Tori Amos vor 30 Jahren schon besungen haben; musikalisch steht vor allem Maros Stimme im Vordergrund, aber dahinter spannen die Gitarren, Klaviere und Drumcomputer einen weiten Raum auf. Und wenn man denkt, das klingt jetzt schon alles sehr ähnlich, kommt mittendrin das portugiesisch-sprachige Duett „Juro Que Vi Flores“. Das nächste Album hat Maro für dieses Jahr schon angekündigt.
7. Philine Sonny
Irgendwie hat man es ja bei all dem neuen Elend schon fast vergessen, aber in den Jahren 2020 und 2021 (und ein Stück weit auch noch 2022) gab es in Europa eine Pandemie, die das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen gebracht hatte. Als nach zwei Jahren Zwangspause im letzten Sommer die Musikfestivals zurückkehrten, habe ich mich zum ersten Mal richtig aufs Bochum Total gefreut: endlich wieder Livemusik, fußläufig vor der eigenen Haustür, portionsgerecht fürs eigene Kind und ein guter Anlass, um endlich mal wieder die eigenen Freund*innen zu treffen. Genialerweise hatte auch noch ein fellow nerd eine Spotify-Playlist gebaut, mit der man sich im Vorfeld auf das Festival vorbereiten konnte, weil einem die meisten Namen ja doch noch nichts sagen. Als ich zu den Songs von Philine Sonny kam, war ich als Erstes überrascht, dass ein Act, der so nach Weltformat klingt, tatsächlich beim Bochum Total spielt. Dann stellte ich fest, dass Philine Sonny aus Unna stammt, was jetzt – selbst von Bochum aus betrachtet – eher das Gegenteil der großen, weiten Welt ist. So klingt das also, wenn man mit The War On Drugs, Ryan Adams, Bright Eyes und Lucy Dacus aufgewachsen ist und diese Musik ganz doll fühlt (oder zumindest klingt es so, als wäre Philine Sonny mit dieser Musik aufgewachsen). Die erste EP „Lose Yourself“ (Mightkillya; Apple Music, Spotify) haut den Pflock auf alle Fälle schon mal sehr fest in den Boden und jetzt, wo Philine Sonny in Bochum wohnt und zum legendären showcase festival South By Southwest eingeladen wurde, würde ich sagen: sky’s the limit.
6. Anaïs Mitchell
Manchmal frage ich mich schon, wie bestimmte Acts so lange an mir vorbeigehen konnten. Dann fühle ich mich kurz schlecht und nehme ich mir vor, noch mehr Musik zu hören, aber dann denke ich auch wieder: „Das hier ist kein Wettbewerb und Musik findet einen eh immer im richtigen Moment!“ 2022 war also der richtige Moment, um Anaïs Mitchell nach 18 Jahren und einigem „Ich hab davon gehört/gelesen“ in mein Leben zu lassen — rechtzeitig zum achten, selbstbetitelten Album (BMG; Apple Music, Spotify). Ich hab das bei Musik, die irgendwie mit Folk zu tun hat, immer, dass ich mir beim Hören weite Landschaften vorstelle (was ja auch Sinn dieses Genres ist), aber bei diesem Album ist es besonders stark: es klingt wie ein road trip durch Gegenden, die man am Besten schnell hinter sich lässt, auf der Suche nach dem großen Glück und dem Ort, wo man seine Pläne verwirklichen kann. Es erinnert mich aber auch an Hem, k.d. lang und Bon Iver und es gibt nicht viel besseres, was ich über Musik sagen kann.
5. Lou Turner
Noch mehr Indie-Folk: Auf ihrem dritten Album „Microcosmos“ (Lou Turner; Apple Music, Spotify, Bandcamp) setzt sich Lou Turner unter den Eindrücken der Pandemie mit der Frage auseinander, was es bedeutet, „unterwegs“ und „zuhause“ zu sein. Es geht um die Welt, die im Lockdown gleichzeitig kleiner und größer wurde, als Spaziergänge durch die eigene Nachbarschaft plötzlich die neuen Reisen waren. Dabei orientiert sie sich u.a. an Joni Mitchells Album „Hejira“ (das sie in „Empty Tame And Ugly“ auch namentlich erwähnt) und das alles, Musik und Lyrics, sind wirklich wunderbar.
4. Koffee
Gut: Den Künstlernamen finden wir hier im Blog natürlich schon mal grundsympathisch. Auch Koffees Karriere ist eng mit der COVID-19-Pandemie verbunden: Als gefeierte Nachwuchskünstlerin wurde sie 2020 erstmal ausgebremst, die Single „Lockdown“ wurde im selbigen zum Hit. „Gifted“ (Promised Land; Apple Music, Spotify) ist ihr Debüt-Album und gilt offiziell als Reggae. Ich habe dafür alle Vorurteile, die ich gegenüber dem Genre hatte (auch bzw. vor allem Dank seines studentischen Publikums in Deutschland), über Bord geworfen und mich im Frühjahr 2022, als die „Normalität“ so langsam, aber sicher zurückkam, sehr an diesem Album erfreut. Im opening cut „x10“ läuft Bob Marleys „Redemption Song“ einfach im Hintergrund und auch wenn das natürlich vor allem als Ehrerweisung gemeint ist, zeigt es auch: Dieses Album ist etwas anderes.
3. Bülow
Alter ist ja etwas, was man ungefähr nie gescheit einschätzen kann: Als Kind und Teenager sind Musiker*innen halt alle irgendwie „älter“ und die, mit denen man aufgewachsen ist, werden immer älter bleiben. Dann kommen plötzlich Menschen, die signifikant jünger sind als man selbst, und man denkt: „Woher können die das denn schon alles?“ Naja: George Harrison war 20, als das erste Beatles-Album rauskam, Beck war bei „Loser“ auch nur ein paar Jährchen älter und Conor Oberst ist mit zwölf schon mit eigenen Songs aufgetreten. Also: Megan Bülow ist Ende Dezember 23 geworden und macht professionell Musik, seit sie 16 ist. Das klang immer schon gut, aber ihre EP „Booty Call“ (Universal; Apple Music, Spotify) zeigt ihre Stärken nochmal besser als alle bisherigen Releases: fünf Songs, etwas über 13 Minuten — maximal verdichteter Indie-Pop zwischen besagten Beck und Conor Oberst, mit großer Schnoddrigkeit, nachklingender teenage angst und einem generell starken nineties vibe. Hören junge Menschen noch Alben? Nehmen junge Acts noch welche auf? Ich fänd’s stark!
2. King Princess
Das große Aufreger-Thema in den US-Medien waren Ende des Jahres die „Nepo babies“, also junge Menschen, die – so das Narrativ – aufgrund ihrer Abstammung einen leichteren Einstieg ins Berufsleben und bessere Aufstiegschancen haben. Sicherlich ein ernsthaftes Problem, aber gerade die mediale Fokussierung auf die Unterhaltungsbranche nahm der Kritik auch ein bisschen den Wind aus den Segeln: Wenn Du unter Künstler*innen aufwächst, ist es halt wahrscheinlich, dass Du selbst ein gewisses Interesse an Kunst und Kultur entwickelst. Dazu kommen dann eben noch Talent und Kontakte, also: check your privilege, aber so what?! (Dass deutsche Medien sich vor allem um eine Nacherzählung einer amerikanischen Debatte bemühten, aber nicht für eine Sekunde auf die Idee kamen, dass Thema auf Deutschland herunterzubrechen, spricht entweder für oder gegen sie — ich bin mir da noch unsicher.) Mikaela Straus, jedenfalls, tauchte auf dieser Liste der nepo babies auch auf, weil ihr Vater recording engineer ist und ihr Ur-Urgroßvater (!) Isidor Straus einer der Besitzer von Macy’s war, bevor er mit seiner Frau beim Untergang der „Titanic“ (bekanntermaßen im Jahr 1912) ums Leben kam. Ja, interessante Fußnote, aber viel interessanter ist doch nun wirklich die Musik, die Mikaela (Jahrgang 1998) als King Princess veröffentlicht: krachender Indie-Pop mit großen Melodien und klugen Texten. Mit elf hatte sie einen Plattenvertrag abgelehnt, weil sie die kreative Kontrolle nicht abgeben wollte, und das scheint sich ausgezahlt zu haben: „Hold On Baby“ (Zelig Records; Apple Music, Spotify) ist ihr zweites Album und man ahnt, dass es auf einem Major-Label eventuell etwas anders klingen würde. Inhaltlich geht es um Beziehungsspannungen in der Pandemie, um Freundschaften, gender identity und Selbstzweifel im Sex Shop. Mit Mark Ronson, Ethan Gruska, Aaron Dessner, Bryce Dessner und Tobias Jesso Jr. haben einige der aktuell namhaftesten Produzenten am Album mitgewirkt und der closer „Let Us Die“ ist einer der letzten Song, auf dem Taylor Hawkins von den Foo Fighters vor seinem viel zu frühen Tod getrommelt hat. Kurzum: Es gibt viel zu entdecken und zum Nachdenken und das mag ich ja immer, wenn man Musik hören, aber ihr auch zuhören kann. Bei passendem Verkehrsaufkommen „reicht“ das Album genau von meinem Elternhaus bis zu unserer Haustür und in jedem normalen Jahr hätten King Princess und „Hold On Baby“ den Spitzenplatz meiner Rangliste belegt, aber 2022 war auch in dieser Hinsicht kein normales Jahr.
1. Pale
Ich hab die Geschichte jetzt schon ein paar Mal erzählt: Pale hatten sich eigentlich 2009 aufgelöst. Dann wurde 2019 bei ihrem ehemaligen Gitarristen Christian ein Gehirntumor diagnostiziert, was die Mitglieder auf die Idee brachte, wieder gemeinsam Musik zu machen. Schlagzeuger Stephan hatte mit einer eigenen schweren Erkrankung zu kämpfen, dann kam die Pandemie und im Frühjahr 2021 ist Christian leider gestorben. Man muss diese Geschichte kennen, um zu verstehen, was „The Night, The Dawn And What Remains“ (Grand Hotel van Cleef; Apple Music, Spotify), das finale Album, das aus all dem doch noch entstanden ist, eigentlich ist: eine einzige Feier des Lebens, der Freundschaft und der Musik. Vom instrumentalen Opener „Wherever You Will Go“, der an U2 und Stars erinnert und die Tür schon mal entsprechend weit aufmacht, über die Singles „New York“ (s.a. Songs des Jahres), „Man Of 20 Lives“ (für Stephan) und „Bigger Than Life“ (für Christian) bis zum Schlussakkord von „Someday You Will Know“ zelebriert dieses Album das Trotzdem, das Überleben, das Zurückbleiben und auch die Trauer. Es ist wie ein Bengalo auf einer Beerdigung. Und dann taucht mittendrin plötzlich Simon den Hartog auf. Der ehemalige Sänger der Kilians hat zwar fast eine ganze Dekade nicht gesungen, aber auf „Still You Feel“ kuschelt sich seine altbekannte, jung gebliebene Reibeisenstimme plötzlich an die von Pale-Sänger Holger Kochs und gemeinsam singen sie über große Gefühle, Musik und Heimatstädte. Ich wusste selbst nicht, wie dringend ich genau das gebraucht hatte, aber: Junge, war ich glücklich, als ich das Lied zum ersten Mal gehört habe! Klar, dass die Songs zu meinem täglichen Begleiter wurden, als ich nach dem Tod meiner Omi mit meiner eigenen Trauer, meinen Erinnerungen und vor allem aber auch meiner alles überlagernden Liebe für alles und alle klarkommen musste. Klar, dass so ein Album natürlich wieder beim GHvC erscheinen musste. Klar, dass so ein Album seinen ganz eigenen Platz auf meinem privaten Popkultur-Altar bekommen muss — und wie krass ist es da bitte, dass das Albumcover einen Popkultur-Altar zeigt, auf dem (neben einer Ausgabe von „Per Anhalter durch die Galaxis“) ein Mixtape namens „Hometown Mix“ steht, dessen B-Seite (nur auf der Vinyl-Version zu entziffern) mit „Dinslaken 2002“ beschriftet ist?! Eben. It is the last stop that tells you a lot about where you came from and what you have got.