Kategorien
Rundfunk Gesellschaft

Staatsakt

Wenn Sie der Meinung sind, die Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls heute Abend im ZDF sei irgendwie würdelos, albern oder klamottig gewesen, dann haben Sie ganz sicher den Festakt zur Wiedereröffnung des Brandenburger Tors am 3. Oktober 2002 vergessen verdrängt.

Aber da kann ich Ihnen vielleicht kurz mit einem zeitgenössischen Zitat von Martin Hoefs aus de.rec.tv.misc wieder auf die Sprünge helfen:

Wenn mir jemand vorher gesagt hätte: “Zur Feier der 12jährigen Einheit wird ein ältlicher Modeschöpfer an einem Heliumballon übers Brandenburger Tor fliegen, derweil eine dickliche Opernsängerin auf einem Hubstapler vor einem Schild “Kandierte Früchte” Filmmelodien von Peter Thomas zum besten gibt. Anschließend öffnet der fliegende Mann vor dem 42ten Präsidenten der USA und anderer Prominenz seinen (Werbe-)Reißverschluss. Nena singt als Gute-Nacht-Lied eine Coverversion von ’99 Luftballons’ in halber Geschwindigkeit.” …ich hätte es nicht geglaubt.
[Formatierung angepasst]

Kategorien
Rundfunk

Wenn es passiert

Ich verehre Christian Dassel. Die Reportagen, die er für “Hier und heute” oder die “Aktuelle Stunde” dreht, stechen aus dem sonstigen Elend im deutschen Fernsehen heraus und bescheren mir die wenigen Momente im WDR-Fernsehen, in denen ich meine Rundfunkgebühren nicht für verschwendet halte. Dassel schafft es, ganz normale Menschen und alltägliche Situationen so zu porträtieren, dass man sie als etwas ganz Besonderes wahrnimmt.

Als der WDR eine neue Dokumentarreihe von Dassel ankündigte, in der er Menschen porträtiert, deren Lebenswege sich mit der Weltgeschichte gekreuzt haben (11. September, Mauerfall, Tsunami), war ich mir sicher, dass dabei Großes entstehen würde. Nachdem ich Gelegenheit hatte, die ersten beiden Folgen von “Wo warst Du, als … ?” zu sehen, bin ich enttäuscht — aber nur ein bisschen.

Vermutlich weiß jeder noch, wo er am Nachmittag des 11. September 2001 war, als er zum ersten Mal die Nachrichten aus New York City hörte. Susan Borchert verbrachte den Rest des Tages vor dem Fernseher. Ihr Mann Klaus arbeitete im World Trade Center und sie wusste lange nicht, ob er hinausgekommen war.

Die Geschichte der Borcherts, die von Lars Fiechtner, dessen Schwester Ingeborg vier Wochen nach den Anschlägen an den folgen ihrer Verletzungen starb, oder von Rainer Groß, der durch den Börsencrash nach den Anschlägen sein Vermögen verlor und sich daraufhin entschloss, einen Kaufhauskonzern zu erpressen — sie alle sind spannend, gleichermaßen außergewöhnlich wie alltäglich, und es gibt durchaus genug Raum, sie nebeneinander in einer halben Stunde zu erzählen.

Leider werden sie auf eine Art und Weise erzählt, die einem mitunter tierisch auf die Nerven geht: Schnelle, unmotivierte Schnitte; ein On-Screen-Design das wirkt, als hätten Schüler mit iMovie “Matrix” nachbauen wollen; Rasanz suggerierende Schnurr- und Zirpgeräusche und eine grotesk überdramatisierende Off-Sprecherin machen viel von der Atmosphäre kaputt. Wenn man Dassels andere Arbeiten kennt, ahnt man, was man alles aus dem Rohmaterial hätte herausholen können.

In der zweiten Folge über den Fall der Berliner Mauer passt dann alles ein bisschen besser zusammen: Dassel porträtiert einen Mann, der damals wegen Vorbereitung zur Republikflucht im DDR-Gefängnis saß; eine Frau, die ihre Tochter am 10. November 1989 auf einem Berliner Gehweg zur Welt brachte, und einen Oberstleutnant der Staatssicherheit, der damals am Grenzübergang Bornholmer Straße Wache schob.

Er gibt heute ganz offen zu, 28 Jahre seines Lebens einem Unrechtsstaat gedient zu haben – “mit allen meinen Fähigkeiten” -, aber wenn er vom Befehlsvakuum berichtet, das damals herrschte und die Grenzsoldaten auf sich selbst gestellt zurückließ, kommt auch hier das Menschliche durch. Die Bilder der Grenzer, die jahrzehntelang an ein System geglaubt haben, das innerhalb weniger Stunden vor ihren Augen zerfiel, umweht dann auch eine große Tragik, und die Menschen und die Geschichte treffen sich auf eine ganz andere Weise als in den anderen Erzählsträngen.

Trotz der stilistischen Schwächen sind die Dokumentationen von “Wo warst Du, als … ?” berührend und beeindruckend. Die in ihrer eigentlichen Größe unbegreiflichen Ereignisse werden in den Alltag heruntergebrochen und sind dadurch vielleicht nicht verständlicher, aber greifbarer. Es wäre schön, wenn die Reihe (nach ein paar Korrekturen) fortgesetzt würde.

“Wo warst Du, als … ?”
Erste Folge am Sonntag, 8. Februar um 23:35 Uhr im Ersten, Folge 2 und 3 an den darauf folgenden Sonntagen um 23:30 Uhr.

Überschrift: Wir Sind Helden

Kategorien
Politik Gesellschaft

“Mit größter Präzision”

Mahnmal in Dinslaken, geschaffen von Alfred Grimm

Zu den ganz großen Rätseln der Menschheitsgeschichte, die einem den Glauben an Zufälle einigermaßen madig machen, zählt der 9. November. Zu dem Umstand, dass so viele wichtige Ereignisse an jenem 9.11., dem “Schicksalstag der Deutschen”, stattfanden (wobei die Ereignisse von 1923 und 1938 natürlich auf die von 1918 aufbauten), kommt auch noch hinzu, dass die amerikanische Schreibweise des 11. Septembers “9/11” lautet. Darüber haben sich überhaupt noch nicht genug Verschwörungstheoretiker Gedanken gemacht.

Anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Novemberpogrome von 1938 möchte ich Sie heute auf einen Text aufmerksam machen, den ich vor einiger Zeit im Internet gefunden habe. Yitzhak Sophoni Herz, der zu dieser Zeit Direktor des jüdischen Waisenhauses in Dinslaken war, hat ihn geschrieben.

At 9:30 A.M. the bell at the main gate rang persistently. I opened the door: about 50 men stormed into the house, many of them with their coat- or jacket-collars turned up. At first they rushed into the dining room, which fortunately was empty, and there they began their work of destruction, which was carried out with the utmost precision.

Hier errichteten 1885 die Juden unserer Stadt ein Waisenhaus. Bis zur Zerstörung durch die Naziverbrecher wurden hier jüdische Vollwaisen betreut.

Herz beschreibt darin mit erstaunlicher Sachlichkeit die Zerstörung des jüdischen Waisenhauses und der Synagoge, also von zwei Gebäuden, von denen ich nicht viel mehr weiß als dass sie dort standen, “wo jetzt die Bohlen-Passage ist” und “da, wo jetzt die Spielhalle ist”. Und er schreibt über Leute, mit denen ich noch im gleichen Supermarkt eingekauft oder in der gleichen Kirche gesessen haben kann, ohne von ihrer Geschichte zu wissen:

[T]he senior police officer, Freihahn, shouted at us: “Jews do not get protection from us! Vacate the area together with your children as quickly as possible!” Freihahn then chased us back to a side street in the direction of the backyard of the orphanage. As I was unable to hand over the key of the back gate, the policeman drew his bayonet and forced open the door. I then said to Freihahn: “The best thing is to kill me and the children, then our ordeal will be over quickly!” The officer responded to my “suggestion” merely with cynical laughter.

Der frühere Standort der Synagoge in DinslakenIch halte solche Schilderungen aus der eigenen Heimatstadt für aussagekräftiger als jede Tabelle mit abstrakten Zahlen. Man beginnt zu begreifen, was da in der Stadt los war, in der man selber 45 Jahre später lebte.

Aber auch wenn Sie noch nie in Dinslaken waren, sei Ihnen “Description of the Riot at Dinslaken” von Yitzhak Sophoni Herz dringend zur Lektüre empfohlen.

Eine gekürzte deutsche Übersetzung des Textes und weitere Augenzeugenberichte aus jener Nacht in Dinslaken finden Sie auf der Website der Städtepartnerschaft von Dinslaken mit dem israelischen Arad.

Weitere Fakten zur jüdischen Gemeinde in Dinslaken gibt es hier, einen Auszug aus einem Buch des Dinslakener Holocaust-Überlebenden Fred Spiegel können Sie hier lesen.

Das Foto ganz oben zeigt das Mahnmal für die Opfer der Pogromnacht in Dinslaken, geschaffen von Alfred Grimm.