Vor zwei Wochen haben wir den 18. Geburtstag dieses Blogs gefeiert, jetzt können wir schon das nächste Jubiläum begehen. Heute vor zehn Jahren habe ich das abgesetzt, was mein erfolgreichster Tweet (eine Kategorie, bedeutend trauriger als „Viertbester Torschütze der Rückrunde in der Kreisliga C“) werden sollte:
Ich bin mir relativ sicher, mich erinnern zu können (und wir wissen alle, was das bedeutet), wie ich diesen Tweet zwischen „Warten am Bochumer Hauptbahnhof“ und „Einsteigen in den Regionalexpress nach Köln“ geschrieben und abgeschickt habe (deswegen auch die etwas merkwürdige Positionierung des Adjektivs „eigentlich“ vor dem Akkusativ-Objekt, die mich seit dem ersten Moment stört), aber ich bin etwas ratlos, welche damals aktuellen Debatten ich damit kommentieren wollte. Die „Tagesschau“ vom Vorabend ist schon mal keine Hilfe.
Die Themen „Religion“ und „Meinungsfreiheit“ mögen mit den Anschlägen auf die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ sieben Wochen zuvor zusammenhängen, auch wenn es aus heutiger Sicht einigermaßen unvorstellbar erscheint, dass ein Ereignis derart lange medial ventiliert wird. „Impfen“ hat, wie ich jetzt ergoogeln konnte, wahrscheinlich etwas mit einem Masernausbruch zu tun, zu dem sich der Bundesgesundheitsminister, offenkundig ein Mann mit dem Namen Hermann Gröhe, am gleichen Tag äußerte.
Wie es so oft ist: Man kann nicht vorhersagen oder kontrollieren, was „viral geht“. So erreichte meine etwas nebulöse Gesellschaftskritik schon in den ersten Stunden Hunderte „Retweets“ und „Likes“ und ich bekam meine weitere gerechte Strafe in Form eines eigenen Artikels bei „Focus Online“. Ich entnehme meinen Aufzeichnungen, dass ich offenbar einigen unerwünschten Zuspruch von Rassisten auf Facebook bekommen habe, und der „Focus Online“-Text deutet an, wie diese Leute auf die falsche Fährte kommen konnten:
In der Tat liegt Heinser nicht falsch: Der Islam und wie der Westen mit ihm umgehen soll, ist nicht erst seit der Pegida-Bewegung ein heiß diskutiertes Thema in Deutschland.
Meine flapsig wegformulierte Äußerung lässt natürlich auch verschiedene Deutungen zu — das ist ja eines der vielen Elende von maximal verknappten Online-Debatten. Meine Blog-Einträge und Newsletter sprengen nicht selten die 10.000-Zeichen-Marke, Twitter erlaubte damals offenbar nicht mehr als 140. Wie hätte ich da gleichzeitig Besorgnis ausdrücken sollen über Personen, die ihre Religion so ernst nehmen, dass sie dafür Menschen ermorden, und gleichzeitig einer fremdenfeindlichen Pauschalkritik eine Absage erteilen? Ich weiß ja nicht mal mehr, worum es mir genau ging, außer, dass ich von Evolutionsbremsen genervt war.
Dennoch wirkt mein Tweet heute wie eine Flaschenpost aus einfacheren, fast sorglosen Zeiten: Vor dem Spätsommer 2015, in dem sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen eine Schließung der deutschen Außengrenzen entschied und ihren anständigen Minimal-Humanismus mit dem Erstarken von offen fremdenfeindlichen Positionen auf Social Media und in der deutschen und europäischen Politik bezahlen musste; vor der US-Präsidentschaftskandidatur eines abgehalfterten Reality-TV-Stars; vor dem „Brexit“; vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine (aber nach der Annexion der Krim und dem Einmarsch im Donbass); vor dem Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023, der bis heute anhält, und dem ganz großen Das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen-Backlash. Friedrich Merz war ein weitgehend in Vergessenheit geratener Rechtsanwalt aus Düsseldorf und die AfD stand in Wahlumfragen bei ca. 6%.
Es liegt eine besonders grobschlächtige Ironie darin, dass der Ort, an dem ich meine Gedanken damals windschief notiert habe, einer der Hauptfaktoren der Entwicklungen der nächsten Jahre war: mit Fehlinformationen zu Brexit und Hillary Clinton, zu COVID-19 und Impfungen, zu Geflüchteten — und dann kam auch noch Elon Musk, der den ganzen Bums aufgekauft und zu einem Schmelztigel für Verschwörungserzählungen, Hass und alle Arten von Menschenverachtung optimiert hat (woraufhin Mark Zuckerberg für seine Plattformen nachzog).
Zwei weitere Ironien liegen darin, dass mein Tweet ausgerechnet heute Jubiläum feiert, am dritten Jahrestag des offenen russischen Kriegs gegen die Ukraine, und am Morgen nach einer Bundestagswahl, bei der die AfD auf 20,8% kam und eine Union, die die Merkel-Ära abgeschüttelt hat wie eine ungeliebte Jacke, in der Bundesregierung den Ton angeben wird.
Wahlerfolge mit rechter Rhetorik verändern das gesellschaftliche Klima: Leute, die über Jahre (zu recht) zu feige waren, rassistische, queerfeindliche oder sonstwie xenophobe Kommentare abzugeben, fühlen sich plötzlich wieder in der Mehrheit, weil die Medien, richtige wie Soziale, voll sind mit den ganzen Ungeheuerlichkeiten (und ja auch linke, aufgeklärte Menschen sie gerne noch einmal teilen, um noch mal klar zu machen, wie ungeheuerlich sie sind).
An einem Tag wie heute fällt es schwer, hoffnungsvoll oder auch nur optimistisch zu sein: AfD-Wähler*innen werfen Nicht-AfD-Wähler*innen auf Social Media vor, dass ihnen der Tod von Opfern mutmaßlich islamistisch motivierter Terroranschläge und Morde egal sei — als ob progressive Menschen nicht gegen Totalitarismus, Patriarchat und Gewalt wären, als ob der gefährlichste Ort für Frauen nicht ihr eigenes Zuhause oder Umfeld wäre und als ob eine sofortige Schließung der Außengrenzen irgendwelche Auswirkungen hätte auf Menschen, die hier unter menschenunwürdigen Bedingungen leben, unbehandelte psychische Probleme haben (womöglich als Folge von Traumatisierung in ihrer Heimat oder auf der Flucht hierher) und empfänglich sind für menschenverachtende Wir-gegen-die-Narrative, die denen der AfD gar nicht so unähnlich sind.
Jede „Migrationsdebatte“ ist immer auch der sumpfige, braune Nährboden für blanken Rassismus, für ein Überlegenheitsgefühl irgendwelcher Arschlöcher, deren arglos rausgehauenen Social-Media-Parolen die Lebenswirklichkeit meiner Freund*innen und der Freund*innen meines Sohnes bestimmen. Gleichzeitig glaube ich, dass jede Social-Media-Empörung immer auch eine endotherme Reaktion ist, dass also die ganze Zeit von außen Energie zugeführt werden muss, damit sie am Kochen bleibt. Dieses „außen“ sind natürlich in erster Linie Kräfte wie Russland, Elon Musk und der Axel-Springer-Verlag, bei denen ich aktuell keine Idee habe, wie man sie wieder los wird oder wenigstens ihren Einfluss einschränkt (also: außer „Social Media abschalten“), aber ich werde weder die Hoffnung, noch mein Engagement gegen diesen Wahnsinn der einfachen Lösungen aufgeben.
Ich bin jetzt 41 Jahre alt und ich bin seit 41 Jahren auf Demos gegen Umweltzerstörung und Nazis dabei. Ich bin es den Frauen in meiner Familie schuldig, die sich seit Generationen für die Menschen engagiert haben, die von unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt und übersehen wurden; die in Parteien und Organisationen aktiv waren und 1938 antisemitische Mitschülerinnen verdroschen haben. Das sind die Vorfahren, die ich mit meinem Tweet meinte.