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Auf der Straße zur Ironie-Hölle

“Irony is over. Bye bye.”
(Pulp – The Day After The Revolution)

In der “Zeit” von letzter Woche beschreibt Nina Pauer zwei postmoderne Phänomene: das der Fremdscham und der Ironie. Anhand von Casting- und Kuppelshows, von “Bad Taste”-Partys und “Bravo Hits” verhandelt sie das Zelebrieren von Dingen, die man eigentlich verabscheut. Die Überschrift “Wenn Ironie zum Zwang wird” verknappt den sehr lesenswerten Artikel leider etwas, denn tatsächlich geht es hier um zwei Phänomene mit ähnlichen Symptomen und einer gewissen Schnittmenge.

Da sind zum einen die Fernsehshows, die ähnlich funktionieren wie der sprichwörtliche Autounfall: Sie ziehen ihre Faszination aus dem “Grauen”, dessen sich der Zuschauer nicht erwehren kann. Castingshows möchte ich mal ausklammern, die sehe ich nicht (mehr). Viele werden offenbar von zutiefst verbitterten Zynikern verantwortet, die im Leben nicht die Eier hätten, sich vor drei Leute (geschweige denn eine Fernsehkamera) zu stellen, um ein Lied zu singen. Ihnen sollen die Fußnägel einwachsen und die Haare ausfallen. ((Außer in den Ohren und den Nasenlöchern, da soll es wuchern wie im Amazonasgebiet.)) Die Partnersuchen bei “Bauer sucht Frau” oder “Schwiegertochter gesucht” mögen ähnlich zynisch produziert sein, lassen meines Erachtens aber auch Raum für mehr.

Wenn sich heute Menschen auf der Couch oder im Internet versammeln, um gemeinsam “Bauer sucht Frau” zu schauen (und vor allem zu besprechen), dann machen sie dabei Dinge, die Menschen seit Jahrtausenden tun: So hoffen sie auf den kathartischen Effekt von “Jammer und Schauder”, den schon Aristoteles in seiner “Poetik” beschrieben hat — nur, dass sich Aristoteles unter “Jammer und Schauder” etwas anderes vorgestellt hat als gelbe Pullover und Zungenwurstbrote. Auch war es in früheren Jahrhunderten ein beliebter Zeitvertreib der Oberschicht, sich die Leute, die in einem damals so genannten “Irrenhaus” einsaßen, anzusehen wie Tiere im Zoo.

Heute sind die Opfer dieser Besichtigungen nicht mehr “irre”, sondern “peinlich”, was ein noch subjektiveres Urteil ist. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde auf die Idee kommen, aufs Land zu fahren um Bauern beim Brautwerben zuzusehen, aber wenn RTL das schon mal gemacht hat, kann man sich das ja mal ansehen. Das Prinzip gleicht dem des “delightful horror”, der sich einstellt, wenn man aus dem Lehnstuhl heraus die Schilderungen von unerklärlichen Phänomenen oder brutalen Verbrechen in den Büchern der Schauerromantik liest — nur, dass wir heute selbst festlegen, wovor es uns schaudert.

* * *

Nina Pauer schreibt:

Pünktlich um 20.15 Uhr formieren sich die Abiturienten, Studenten, Doktoranden oder vielversprechenden Berufseinsteiger zu einem vergnügten Publikum, das bei Chips und Süßigkeiten nichts anderes tut, als sich der lustvollen Konträrfaszination des Schlimmen hinzugeben. “Wie peinlich ist das denn?!”, kreischt der Chor, den Zeigefinger kollektiv auf den Fernseher gerichtet.

Ich bin auch öfters Teil solcher Runden, wenn RTL (wie aktuell) wieder einmal Schwiegertöchter und Bauernfrauen sucht. Alle Teilnehmer würde ich als durchaus aufgeklärte Menschen mit einem reinen Herzen bezeichnen, Zyniker sind keine dabei. Gerade deshalb habe ich mich schon öfter gefragt, ob es moralisch eigentlich verantwortbar ist, diese Sendungen zu gucken und zu kommentieren.

Grundsätzlich könnte man erst einmal sagen, dass es kein Opfer im klassischen Sinne gibt — die Kandidaten kriegen mögliche böse Kommentare ja gar nicht mit. ((Ich glaube auch, dass das, was man zu meiner Schulzeit “Lästern” nannte, nicht grundsätzlich verwerflich ist, solange etwa die Person, über die gelästert wird, davon nichts mitbekommt, und solange man nicht vornerum nett zu jemandem ist, über den man dann hintenrum lästert. Außerdem können andere ja auch über mich lästern, wenn sie wollen. Diese Position hat schon zu langen, unergiebigen Diskussionen geführt.)) Auch das Begucken dieser Menschen erfolgt ja nur aus zweiter Hand — das Kind ist schon in den Brunnen gefallen, also kann man es sich auch ansehen. Letzteres ist natürlich Quatsch: Wenn niemand mehr hinsehen würde, wie RTL Kinder in den Brunnen schmeißt, würde der Sender sicher damit aufhören. Und man muss sich ja auch keine tödlichen Unfälle im Rennsport ansehen, nur weil sie auf Video gebannt sind.

Ich glaube nicht, dass die Geringschätzung anderer die Hauptmotivation ist, solche Sendungen zu sehen — der Reiz entsteht aus dem Gemeinschaftsgefühl heraus, was man als billiges Mittel zur Fraternisierung abtun, aber auch neutral oder positiv werten kann. Kaum jemand möchte oder kann so eine Sendung alleine sehen. Darüber hinaus ist es ja auch so, dass das Stirnrunzeln über Fliesentische, Tiefkühlpizzen und Kosenamen nicht allzu lang eine befriedigende Freizeitbeschäftigung abgibt. Wenn ich eine Sendung nur schlimm fände, würde ich sie nicht gucken. ((Tatsächlich bin ich bei der aktuellen Staffel “Schwiegertochter gesucht” sehr schnell wieder ausgestiegen, weil es außer ausgewalzten Merkwürdigkeiten nicht viel zu sehen gab.)) Bei “Bauer sucht Frau” gibt es aber immer wieder rührende Elemente, in denen das besserwisserische Lachen echtem Mitgefühl weicht. ((Ob die porträtierten Bauern darauf gewartet haben, ist natürlich wieder fraglich.))

Als Vera Int-Veen im Februar den “Regalauffüller” Stefan an die Frau zu bringen versuchte, war das nicht mehr im Mindesten witzig: Der Mann hatte so offensichtliche Probleme, sich zu artikulieren und mit den Situationen zurecht zu kommen, in denen ihn das Produktionsteam platziert hatte, dass die Arschlochhaftigkeit der Macher alles andere überstrahlte. In der aktuellen Staffel von “Bauer sucht Frau” geht der bisher größte Fremdschammoment auf das Konto von Moderatorin Inka Bause: Zum ersten Mal sucht ein homosexueller Bauer einen, ja: Mann und Bause war von der Situation so offensichtlich überfordert, dass sie ihn mit den Worten ansprach: “Du bist ja hier der erste Bauer Deiner Art.” Als der “pfleißige Pferdewirt” ganz locker “Der erste schwule Bauer, ja”, antwortete, fragte Bause noch einmal nach, ob sie “das so sagen” dürfe. So schlimm können zehntausend Zungenküsse bei offenem Mund nicht sein.

* * *

Ich glaube übrigens, dass diese Kuppelshows auch mit Kandidaten funktionieren würden, die den Zuschauern deutlich ähnlicher sind: ((Wobei das eigentlich jetzt schon gelten muss: Es kann ja hierzulande keine acht Millionen Elitisten geben, die es sich auf ihrem hohen Ross bequem gemacht haben, also müssen auch zahlreiche Zuschauer mit Fliesentischen, Tiefkühlpizzen und Kosenamen darunter sein.)) Liebe und vor allem ihre Anbahnung ist nie clever. ((So wie Sex nie ästhetisch ist.)) Im Leben geht es fast nie zu wie bei “Ally McBeal” oder bei “Bridget Jones”, wo sich gutaussehende Menschen im leichten Schneefall auf offener Straße küssen, nachdem sie eine geistreiche Bemerkung gemacht haben.

Vor vielen Jahren, in der Daily Soap “Unter uns”, schrieb die Person der Ute, die damals frisch in die Schillerallee zurückgekehrt war, einen Brief an ihren späteren Ehemann Till, in dem sie erklärte, sie sei derart verliebt, dass sie bei jedem Liebeslied im Radio mitsingen müsse, auch bei den Schlagern, die sie früher immer peinlich und doof gefunden habe. ((Der Brief geriet übrigens in die Hände der Sandra, dargestellt von Dorkas Kiefer, die ihn laut vorlas und sich über Ute lustig machte. Welche Aktion ist peinlicher? Discuss!)) Das, meine Damen und Herren, ist Liebe! Sie ist peinlich, aber ohne wären wir nicht hier.

* * *

Doch zurück zur “Fremdscham” und zum “Peinlichen”, das Nina Pauer beschreibt: Andere Leute peinlich finden ist eine Emotion, die meist in der Pubertät erstmalig auftaucht und dann vor allem gegen die eigenen Eltern gerichtet ist. Das ist von der Natur so gewollt: Das Leben beschert einem so ein paar Jahre unbeschwerter Freiheit und sinnloser Freiheitskämpfe, ehe die Erkenntnis einkehrt, dass biologische Veranlagung und Erziehung mächtiger sind als jedes Schamgefühl und man natürlich wie die eigenen Eltern geworden ist. Als ausgleichende Gerechtigkeit finden einen dann zwanzig Jahre später die eigenen Kinder peinlich.

Sich für eine andere Person zu schämen, ist aber auch eine weitgehend irrationale Reaktion, zumal, wenn man in keinerlei persönlicher Verbindung zu dieser Person steht. Die wissenschaftliche Erforschung dieses Phänomens steht allerdings noch ziemlich am Anfang.

Nina Pauer führt aus:

Als gemeinsames Ritual wirkt die Fremdscham wie eine Kompensation der individuellen Angst, die ansonsten überall lauert. Denn wie schwer ist es, diesem allgegenwärtigen Adjektiv “peinlich”, das unsere Zeit bestimmt, zu entrinnen! Nahezu unmöglich und vor allem furchtbar anstrengend ist es geworden, im weit und subtil verästelten analog-virtuellen Netzwerk stets die Balance aus lässigem Understatement, hübscher Ironie und gleichzeitiger Selbstvermarktung zu pflegen. Die Codes sind unendlich: Mit dem neuesten Smartphone prahlen? Peinlich! Immer noch keines haben? Peinlich! Zuckersüße Pärchenfotos auf Facebook veröffentlichen? Peinlich! Das eigene Mittagessen abfotografieren, den Stolz über den neuen Job allzu offensichtlich zeigen? Zu viele Freunde haben? Zu wenige? Peinlich, peinlich! Musik hochladen, die alle schon kennen? Musik hochladen, die nie irgendwer kennt? PEINLICH!

Wenn tatsächlich alles peinlich ist, man also in jeder Situation nur verlieren kann, ist ja alles wieder völlig nivelliert und man kann nur gewinnen.

Frau Pauer nutzt diese Passage aber, um von der Fremdscham zur “inszenierten Fremdscham” und damit zur Ironie zu kommen. Ironie, das lernt man irgendwann als Kind, ist das Gegenteil von dem zu sagen, was man meint — also eigentlich das, was man vorher als “Lügen” kennengelernt hat und was man nicht tun sollte. Das trifft den Sachverhalt zwar nur zum Teil, ist aber das, was sich die allermeisten Menschen unter “Ironie” vorstellen und es entsprechend praktizieren. Das ist natürlich sterbenslangweilig.

Als Travis im Jahr 2000 anfingen, “Baby One More Time” von Britney Spears auf ihren Konzerten zu covern, gingen viele erst einmal von Ironie aus. Aber Fran Healy, der das Lied mit viel Inbrunst vortrug, sagte, sie hätten den Song einfach nachgespielt, weil sie ihn so schön fanden. Und tatsächlich wäre es auch dann noch ein schönes Lied, wenn Komponist und Texter Max Martin sich beim Schreiben über die Naivität und Dummheit seines Lyrischen Ichs kaputt gelacht hätte.

“Irony is certainly not something I want to be accused of”, hat Craig Finn, der Sänger meiner Lieblingsband The Hold Steady, mal gesagt und ich finde auch, dass Liedtexte möglichst aufrichtig sein sollten. ((Ironie sollte höchstens von Briten als Stilmittel in Songs eingesetzt werden. Die verstehen darunter etwas anderes als “das Gegenteil von dem sagen, was man meint.)) Dann besteht zwar schnell wieder die Gefahr der Fremdscham, aber damit muss man klar kommen. Man kann das Werk verurteilen, sollte dem Künstler aber Respekt zollen.

Die Zeit der ironisch gemeinten Beiträge beim Eurovision Song Contest, die notwendig war, um das schnarchige Schlagerevent der 1990er Jahre zu entstauben, ist ja inzwischen zum Glück auch wieder vorbei. Als ich im Mai von jetzt.de zum Duslog interviewt wurde, war der Reporter sehr versessen darauf, uns eine ironische Haltung zum Grand Prix zu unterstellen. Natürlich kann man die musikalischen Beiträge nicht alle ernst nehmen, ((Gerade nicht “I Love Belarus”, den man aus politischen Gründen als einzigen ernst hätte nehmen müssen.)) aber wenn ich die Veranstaltung in Oslo scheiße gefunden hätte, wäre ich sicher kein zweites Mal hingefahren.

* * *

Natürlich sollte man sich selbst und die Welt nicht zu ernst nehmen, aber man sollte auch nicht bis zur Selbstverleugnung mit den Augen zwinkern. Ich könnte schlicht keine Musik hören, die ich nicht mag, keine Klamotten (oder gar Frisuren oder Gesichtsbehaarungen) tragen und auch nichts in meine Wohnung stellen oder hängen, was ich nicht irgendwie gut finde. “We Built This City” von Starship ist einer der kanonisch schrecklichsten Songs der Musikgeschichte, aber irgendetwas spricht das Lied in mir an — und das meine ich nicht auf die “So schlecht, dass es schon wieder gut ist”-Art. Andererseits würde ich nie in Skinny Jeans rumlaufen, weil ich die einfach mordsunbequem finde.

Benjamin von Stuckrad-Barre hat schon 1999 einen Text über Ironie verfasst, ((Nachzulesen in “Remix”.)) in dem er von der “Drüberlustigmachmühle” schreibt und dann eine Frage aufwirft, die er sich sogleich selbst beantwortet:

Tennissocken sind fürchterlich, keine Frage, aber ist nicht das zwangsverordnete Drüberlachen noch schlimmer? Und dann tragen also Leute wieder Tennissocken, aus Protest, und das ist vielleicht zu verstehen, aber ja auch so krank, weil sie damit also, nur der Abgrenzung wegen, schlimme Socken tragen. Und dann nicht einfach still diese Socken dünnlaufen, sondern tatsächlich ERKLÄREN, warum sie die tragen, um sich zumindest, oh ja, INHALTLICH zu unterscheiden von jenen, die diese Socken nicht schon wieder, sondern immer noch tragen. Irgendwie muß man die Neuzeit ja rumkriegen.

Im “Zeit”-Artikel steht dieses aktuelle Beispiel:

In engen braunen Männerslips über rosa Trainingsanzügen aus Ballonseide trifft man sich, am besten mit einem allein zum Zweck der Party gewachsenen fiesen Schnauzer im Gesicht, zum Dosenstechen in der Küche.

Noch bevor die Hipster so genannt wurden, gab es den “Irony-Schnäuz”. Irgendwann gab es dann die ironisch gebrochenen Hipster, die echte Hipster eigentlich scheiße fanden, aber genauso rumliefen. Der Schnauzbart war zu diesem Zeitpunkt schon mindestens zwei Mal umgedeutet worden, aber da geht sicher noch mehr. Nur: Warum?

In einem Text aus dem Juli 1999 ((“Ein Ort der Eitelkeit” in “Der Krapfen auf dem Sims”.)) beklagt sich Max Goldt über Menschen, die eine goldene Schallplatte oder eine Urkunde auf der Gästetoilette platzieren:

So wird die Toilette zum Ort der Inszenierung von Selbstironie, einer Eigenschaft, die in der westlichen Zivilisation hoch im Kurs steht. Deshalb ist es erheblich eitler, seine Zertifikate in Bad oder WC unterzubringen, als sie naiv und arglos im Wohnzimmer zur Schau zu stellen.

Goldt erklärt auch ((“Mein Nachbar und der Zynismus”, ebd.)) den Unterschied zwischen Zynismus und Sarkasmus:

Zynismus ist eine destruktive Lebensauffassung, während Sarkasmus das Resultat von trotziger Formulierungskunst ist, die über einen spontanen Zorn auf ein Meinungseinerlei hinweghilft. Zynismus ist ein Resultat von Enttäuschung und innerer Vereinsamung. Er besteht im Negieren aller Werte und Ideale, im Verhöhnen der Hoffnung, im Haß auf jedes Streben nach Besserung.

Sind dann die beschriebenen “Bad Taste”-Partys nicht eher zynisch als ironisch?

Ich verstehe den Reiz nicht, der darin liegen sollte, sich so zu kleiden, wie man nie aussehen wollte, und Musik zu hören, die man nie hören wollte. Erstens grenzt das doch an Schizophrenie und zweitens finde ich das unfair gegenüber den Leuten, denen diese Musik etwas bedeutet. Denn auch wenn ich Schlager oder Volksmusik kitschig und doof finden sollte, so gibt es doch Leute, denen diese Musik etwas bedeutet. ((Dass die Texte dieser Lieder mitunter von Leuten geschrieben werden, denen die Inhalte und Hörer ziemlich egal sind, ist eine Meta-Ebene, die ich hier nicht auch noch bespielen möchte.)) Ich finde es auch langweilig, ein Album nur des Verrisses wegen zu verreißen.

* * *

Auch Chuck Klosterman hat sich dem Thema Ironie gewidmet. ((Im Essay “T Is For True” in “Eating The Dinosaur”.)) Er schreibt:

An ironist is someone who says something untrue with unclear sincerity; the degree to which that statement is funny is based on how many people realize it’s false. If everybody knows the person is lying, nobody cares. If nobody knows the person is lying, the speaker is a lunatic. The ideal ratio is 65-35: If a slight majority of the audience cannot tell that the intention is comedic, the substantial minority who do understand will feel better about themselves. It’s an exclusionary kind of humor.

Wenn jeder Depp alles nur noch “ironisch” meint, ist es kein Witz mehr, dann ist es nicht mal mehr Komödie, sondern Tragödie.

Nina Pauer schreibt dazu in der “Zeit”:

Wo potenziell alles peinlich ist, bleibt nichts als der ewige ironische Reflex. Die Ironie wird zum Standard und die Distanz zum Zwang. Dann regieren die Zwinkersmileys, die alles Gesagte, Geschriebene, Getane sofort relativieren, um bloß immer “safe” zu sein. Von der Freude an der Peinlichkeit ist dann nicht mehr viel übrig. Die Lust wird zu ihrem Gegenteil, zur Langeweile.

Es ist nicht nur langweilig, es ist auch wahnsinnig anstrengend.

Klosterman stellt in seinem Essay den Weezer-Sänger Rivers Cuomo, den Regisseur Werner Herzog und den amerikanischen Politiker Ralph Nader nebeneinander, denen er allesamt nachweist bzw. unterstellt, völlig ironiefrei zu sein. Herzog etwa sagt, er habe einen “Defekt”, der ihn daran hindere, Ironie zu verstehen, und Klosterman fügt an, die meisten von uns hätten das gegenteilige Problem: Wir würden auch dort Ironie verstehen, wo gar keine vorhanden ist.

Rivers Cuomo trug das, was man heute “Nerdbrille” nennt, immerhin schon in den frühen Neunzigern, als es grad nicht cool oder lustig war. ((Diese Brille ist tatsächlich ein Problem. Als ich letztes Jahr auf der Suche nach einer neuen war, wollte ich – pubertäre Abgrenzung – um jeden Fall zu vermeiden, auch so eine zu kaufen. Das Problem: Mir stand wirklich nichts anderes. Also dachte ich: “Was soll’s? Ray-Ban gibt’s seit mehr als 50 Jahren und ich weiß ja, wie’s gemeint ist.” (Nämlich gar nicht.) So wie man sich Musik nicht von ihren Hörern kaputt machen lassen darf, sollte man sich auch Mode-Utensilien nicht von ihren Trägern zerstören lassen. Ich würde auch gerne Hemden von Fred Perry tragen, wenn die nicht so unfassbar teuer wären.)) Heute schreibt er Lieder darüber, dass er in Beverly Hills wohnen wolle, und Klosterman ist sich sicher, dass Cuomo das genau so meint. Die Fans wären allerdings enttäuscht, weil sie es für Ironie hielten und sich verarscht fühlten — und das ist dann natürlich auch schon wieder Ironie, und zwar die des Schicksals.

* * *

Die Postmoderne hat, neben Fremdscham und Über-Ironisierung, noch ein weiteres Phänomen hervorgebracht: Ständig hinterfragt man jetzt alles, vor allem aber sich selbst. Wer sich fragt, ob er irgendetwas gut finden dürfe, hat noch nichts verstanden. Er hat die Freiheit (fast) alles gut zu finden, was er gut finden mag. Allenfalls die Auswahl potentiell gut findbarer Dinge und Personen kann einen etwas überfordern.

Das bedeutet natürlich letztlich auch: Man kann auch “Bauer sucht Frau” gucken, ohne sich dafür zu schämen.

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Kostenfreiheit: 17,98 Euro

Ich halte offene Briefe für weitgehend albern. Aber mein Blutdruck war zu hoch, um die E-Mail-Adresse von Christian Nienhaus zu erraten. Dann eben so:

Sehr geehrter Herr Nienhaus,

ich hätte gern das Interview gelesen, dass Sie der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” in Ihrer Eigenschaft als Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe (“Harz Kurier”, “Die Aktuelle”, “Echo der Frau”, “Der Westen”) gegeben haben. Gerne hätte ich mich weiter über die dünne Argumentationskette der Verleger informiert, die gegen die sogenannte iPhone-App der “Tagesschau” (ein Programm, das die Inhalte von tagesschau.de für moderne Mobiltelefone aufbereitet) klagen. Doch es ging nicht.

Hängen geblieben (bzw. in die Luft gegangen) bin ich schon bei Ihrer ersten Antwort, genauer bei einem kurzen Satz:

Wir halten zudem die Kostenfreiheit der Apps für nicht korrekt.

Herr Nienhaus, ich weiß nicht, wie das bei Ihnen zuhause aussieht, aber ich habe für die Inhalte der “Tagesschau”, ja: für alle Inhalte der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, bereits bezahlt. 17,98 Euro jeden Monat, das ist mehr, als ich in meinem Leben für die langweiligen Lokalzeitungen Ihres Verlags ausgegeben habe. Deswegen finde ich es auch unerträglich, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten die Inhalte, die ich (mit-)bezahlt habe, wieder aus dem Internet entfernen müssen, weil die Zeitungsverleger und Privatsender (was teilweise aufs Selbe rauskommt) das so wollten.

Ich hätte gerne die Empörung in Ihrer Reihen gesehen, wenn die “Tagesschau”-App Geld kosten würde. Dann, da bin ich mir sicher, würden Sie sich nämlich meiner Argumentation anschließen, dass die Inhalte von den Zuschauern bereits bezahlt worden sind.

Ihr Interessenverband eiert seit Jahren ziellos umher und beleidigt jeden denkenden Menschen mit seinem unerträglichen Gejammer. Sie haben den Wandel vom Print- zum Internetzeitalter verpennt, jetzt sind Sie dabei, den Wandel zum App-Zeitalter ebenfalls zu verpennen. Das allein ist tragisch genug. Tun Sie sich einen Gefallen und erwägen Sie weniger durchsichtige Argumente!

Mit freundlichen Grüßen,
Lukas Heinser

Stefan Niggemeier hat seinen Blutdruck schneller unter Kontrolle gekriegt und zerlegt Nienhaus’ weitere “Argumente” bei sich im Blog.

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Auswärtsspiel: TVLab

Auf ZDF_neo startet demnächst das “TVLab”, wo völlig neuartige TV-Konzepte vorgestellt und erprobt werden sollen.

Begleitet wird das Projekt von einem Blog und ich hatte die Ehre, den ersten Eintrag zu verfassen. Die Ausgangsfrage lautete “Worüber sollen wir reden, wenn nicht über das Fernsehen?” und – ohne zu viel zu verraten – ich komme zu dem Schluss: über nichts, bitte!

Der Beitrag bei blog.zdf.de

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Man wird sprachlos

In der ARD läuft heute um 23.30 Uhr eine Dokumentation über die letztjährige Loveparade in Duisburg, bei der bei einer Massenpanik 21 Menschen gestorben sind und mehr als 500 verletzt wurden. Der WDR bewirbt diese Doku, indem er seit Tagen via Pressemitteilung einzelne O-Töne von Verantwortlichen in die Verwertungskette gibt.

Vergangene Woche warf er Zitate des Duisburger Oberbürgermeisters Adolf Sauerland unters Volk:

“Ich habe mir immer gesagt: Du musst so lange durchhalten, bist du allen zeigen kannst, dass diese Katastrophe nicht durch dein Verhalten entstanden ist”, erklärt Adolf Sauerland. Er habe am Anfang das Gefühl gehabt, wenn er sich entschuldige, werde er automatisch für das Unglück verantwortlich gemacht. “Und das hat dazu geführt, dass man sprachlos wird.”

Gestern kam Rainer Schaller, Veranstalter der Loveparade, zu Wort:

Zum ersten Mal äußert sich Schaller im Film auch zur Problematik des Tunnels als einzigem Ein- und Ausgang zum Veranstaltungsgelände: “Man hat Monate geplant, und für mich ist es natürlich ein Rätsel, wie man das über Monate gemeinsam nicht hat sehen können. Das ist etwas, was ich mich bis heute frage: Wie konnte man das nicht sehen?”

Ist Ihnen an der Wortwahl der beiden Herren etwas aufgefallen?

Um mal Benjamin von Stuckrad-Barre zu zitieren:

Das erste, was einem ein Psychotherapeut beibringt: Sagen Sie nicht “man”, sagen Sie “ich”. Das erste, was man als Profipolitiker wahrscheinlich lernt: öfter mal “man” sagen, dann kann nichts groß passieren.

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Blöd On Blöd

Ich habe all das, was zu Bob Dylans siebzigstem Geburtstag gesendet, gesungen und geschrieben wurde, nicht sehen, hören, lesen wollen — und bin doch einigermaßen zuversichtlich, den schlechtesten Beitrag zum Thema gefunden zu haben: Er lief im Rock’n’Roll-Magazin “Brisant” im ARD-Vorabend und wenn Dylan davon Wind bekäme, würde er die Verantwortlichen schärfer angreifen als die Adressaten in “Masters Of War”.

Der Moderator erklärt zunächst mal, dass sich dieser Bob Dylan “im Laufe der Jahre zu einem eigenwilligen, aber genialen Rock-Poeten entwickelt” habe. Logischer wird’s anschließend nicht mehr.

Schon der erste Satz des Beitrags lässt sich nicht von Raum und Zeit beirren:

“Like A Rolling Stone” ist zum besten Rocksong aller Zeiten gekürt worden und Sänger Bob Dylan ist Mitte der Sechziger Jahre ein Halbgott.

Doch weg von den Göttern, hinab in die Hölle: Musikmanager Thomas M. Stein habe Dylans Werk “analysiert”, erklärt die Sprecherin, doch bevor wir erfahren, wie es klingt, wenn Thomas M. Stein etwas analysiert, erfahren wir erst mal, wie es aussieht, wenn Thomas M. Stein etwas signiert — zum Beispiel sein eigenes Hörbuch, das bei ihm dekorativ und in mehrfacher Ausfertigung auf dem Schreibtisch liegt:

Dylan sei deswegen ein Mythos, erklärt Stein (nachdem er zunächst “war” gesagt hatte, aber vielleicht hat er auch nur darauf spekuliert, dass sein O-Ton dereinst in den Nachrufen noch mal wiederverwendet wird), weil er “wunderbare Lieder, wunderbare Texte” geschrieben habe. Denn eine schöne Stimme habe der Mann ja nun wahrlich nicht.

Nur: Er hat eine ganze Generation bewegt. Vergessen Sie nicht Woodstock, das sind legendäre Auftritte, die Bob Dylan gemacht hat. Damals nur mit der Klampfe und mit der Gitarre, ohne großen Background, währenddessen andere schon rockmäßig weiter – Rolling Stones und Santana, wie sie alle hießen – schon mit großem Orchester gereist sind, hat er sich sehr stark zurückgehalten.

Was Thomas M. Stein bei seiner Analyse des Leben ‘n’ Werk Bob Dylans offenbar entgangen ist: Dylan ist beim Woodstock Festival gar nicht aufgetreten (die Rolling Stones übrigens auch nicht und Carlos Santana nicht mit Orchester).

Weiter Thomas M. Stein:

Er hat später einen Knick bekommen in der Karriere, lustigerweise, weil er von der normalen Akustikgitarre zur elektrischen Gitarre übergegangen ist. Das haben ihm die alten Fans übel genommen.

Ja, übel genommen haben sie’s ihm, aber nicht “später”, sondern beim Newport Folk Festival 1965 — mehr als vier Jahre vor Woodstock.

Aber gehen wir doch noch ein paar Schritte zurück in die Geschichte:

Hier in Minnesota, USA kommt Robert Allen Zimmerman 1941 zur Welt.

Nun ist “hier in Minnesota” eigentlich ein bisschen unpräzise, weil der Staat mit 225.000 Quadratkilometern fast so groß ist wie die Bundesrepublik ohne DDR, aber zum Glück kann man das ja bildlich etwas präzisieren:

Irgendwo entlang dieser Straße, also.

Doch es kommt noch schlimmer. Viel schlimmer, als sich die kranken Köpfe hinter “Saw”, “Hostel” und “Final Destination” es sich jemals hätten ausdenken können.

Auftritt Bernhard Brink.

Den Schlagersänger, der “in einem anderen Genre zuhause ist”, hat das ARD-Team offenbar in seinem Lieblingsweinlokal angetroffen, wo er von der “großen Zeit der APO, Ende der Achtensechziger, in der großen Protestzeit” schwärmen darf. Er habe sich selbst “auch ‘n Playback besorgt von dem Klassiker, hier”, dessen Titel Brink offenbar nicht mehr einfallen will, was er aber charmant mit einer eigenen Interpretation von “Blowin’ In The Wind” übergeht.

So schlimm ist dann wiederum Bernhard Brinks Gesangseinlage nicht — zumindest, wenn man sie mit den zusammenhanglosen Sätzen vergleicht, die jetzt wieder aus dem Off blubbern:

Doch Bob Dylan will sich vor keinen Karren spannen lassen; nicht für die Friedensbewegung, nicht für die Musikindustrie. Daran ändert auch seine Liebe zu Sängerin Joan Baez nichts. Interviews gibt er selten — und wenn, dann kurz und schmerzhaft.

Man könnte annehmen, die “Brisant”-Leute hätten sich Joan Baez hier als eine Art Karren gedacht, wenn es nicht keinen Grund gebe, anzunehmen, dass sie sich irgendetwas gedacht haben.

Es folgt ein kurzer Ausschnitt, in dem sich ein sehr junger Bob Dylan über eine sehr dumme Interview-Frage echauffiert, dann geht der überraschende Einsatz von Konnektivpartikeln weiter:

Dennoch: Von den zehn besten Schallplatten der Popgeschichte stammen zwei von Bob Dylan.

Bis hierhin ist es ein peinlicher, ahnungsloser Beitrag. Doch jetzt wird der Jubilar nicht mehr nur von Schlagerbarden besungen, jetzt werden ihm haltlose Vorwürfe gemacht:

Ohne ihn hätte es die deutsche Rockband BAP womöglich nie gegeben.

Natürlich! Wenn in Deutschland alle Dylanologen abgesagt haben mit dem Hinweis, für solche Quatschformate würden sie nicht den Hampelmann machen, dann gibt es immer noch Wolfgang Niedecken, den “Dylan der Südstadt”, von dem man einen kurzen O-Ton kriegt.

Dann spricht wieder die Boulevard-Fernseh-Tante:

Der Mensch Dylan aber bleibt praktisch unsichtbar: Niemand weiß genaues über seine vier Kinder, das Scheitern seiner ersten Ehe, wenig über seine Drogensucht.

Das “aber” hat natürlich wieder keine logische Funktion und tatsächlich gibt es über zwei der vier Dylan-Kinder nicht mal Wikipedia-Einträge, aber als Regisseur von “American Pie 3” bzw. als Sänger der Wallflowers sind Jesse und Jakob Dylan dann doch irgendwie mal so ein bisschen in Erscheinung getreten.

Doch zurück zu Bob und dessen Schaffen, das Thomas M. Stein wie folgt zusammenfasst:

Er hat gezeigt, dass man neben “Lala” auch noch was anderes singen kann.

Das hätte nicht mal der Graf von Unheilig verdient.

[via Ralf]

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Wer wohnt schon in Düsseldorf?

Bochum/Berlin, 18. Februar 2011. Lukas Heinser und Stefan Niggemeier haben heute in einer Pressemitteilung bekanntgegeben, dass sie sich auch vom Austragungsort Düsseldorf nicht davon abhalten werden, den Eurovision Song Contest erneut mit einem Videoblog zu begleiten. Im vergangenen Jahr hatten sie sich ohne Stativ und Windschutz nach Norwegen durchgeschlagen und mit ihrem OSLOG nach Meinung vieler Experten einen maßgeblichen Beitrag zum Erfolg von Lena Meyer-Landrut geleistet.

Heinser und Niggemeier selbst errangen in einem etwas weniger beachteten Wettbewerb den dritten Platz: in der Kategorie Unterhaltung bei der Wahl zu den “Journalisten des Jahres 2010”. Die Jury des “Medium Magazins” fand, dass OSLOG “selbstironisch mit dem Medienhype um Lena spielte” und “vorführte, welches Potential in einem solchen Blog stecken kann”. Heinser, dessen Ehrgeiz von Kennern mit dem von Stefan Raab verglichen wird, kommentierte das mit den Worten: “Beim nächsten Mal werden wir dieses verdammte Potential ausschöpfen!'”

Während die Personalfrage nach der Absage von Thomas Gottschalk und Günther Jauch ähnlich schnell entschieden war wie bei der deutschen Interpretin, war der Name der OSLOG-Neuauflage lange offen. Entwürfe wie dueslog.tv, dussellog.tv, und dorflog.tv wurden schließlich verworfen zugunsten von DUSLOG.tv. Das bewährte Konzept aus vergeigten Anmoderationen, exklusiven Interviews und vergessenen Interpretennamen soll beibehalten werden. Geplant ist allerdings eine weitere Qualitätssteigerung. “Wir erwägen die Investition in einen Windschutz für das Mikrofon”, sagt Heinser. Niggemeier ergänzt: “Und ich werde diesmal weniger Namen verwechseln als letztes Jahr in Dänemark.”

Die heiße Phase mit täglichen Videoberichten beginnt Anfang Mai. Bereits heute werden die neuen Seiten eingeweiht, die von Markus “Herm” Hermann frisch tapeziert und mit einem noch moderneren Fernsehgerät ausgestattet wurden: Das Finale des deutschen Vorentscheides wird ab ca. 20 Uhr in einem Liveblog auf duslog.tv begleitet.

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Leser fragen, Heinser antworten (1)

Leserin Katharina S. aus K. fragt: “Unheilig. Was ist das für Musik, wer hört das?”

Lukas Heinser antwortet: Viele Menschen, die sich sonst nicht für Musik interessieren

Und: Elmar Theveßen, Stellvertretender Chefredakteur und Terrorismusexperte des ZDF:

Was hat ihn am meisten beschäftigt, beeindruckt, betroffen gemacht?

“Zwischen all dem Leid in diesem Jahr haben die Bilder von der Rettung der Bergleute in Chile so unendlich gut getan. Dazu noch der Song ‘Geboren, um zu leben’. Genau darum geht es doch eigentlich bei allem, auch wenn wir das manchmal vergessen”, so Theveßen.

[Quelle: Pressenewsletter des ZDF.]

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Programmhinweis: Tacheles

Die früheren Kollegen von CT das radio haben neue Redaktionsräume (inkl. hochmodernem Newsroom) bezogen und haben trotz kleiner technischer Schwierigkeiten sehr ernsthaft vor, heute Nachmittag wieder live auf Sendung zu gehen.

Aus irgendwelchen Gründen hielten sie es für eine gute Idee, mich an diesem Tage einzuladen und so werde ich heute ab 20 Uhr in der Sendung “Tacheles” zu Gast sein und über BILDblog, Medien und Bochum (oder so ähnlich) reden. Mit etwas Glück wird man uns außerhalb des Studios auch hören können — zum Beispiel per Webstream.

Tacheles
am Mittwoch, den 1. Dezember 2010
um 20 Uhr
auf CT das radio

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Tief im Western mit der “Aktuellen Stunde”

Es gibt im deutschen Fernsehen vermutlich kaum eine Nachrichtensendung, die so perfekt ist wie die “Aktuelle Stunde” im WDR Fernsehen. Die Doppelmoderationen, deren Nachahmung sich als Partyspiel empfiehlt, sind akurat vorbereitet und werden routiniert abgespult. Keine Hebung der Augenbraue, kein Schulterzucken ist Zufall, alles ist geplant. Selbst im Angesicht von Katastrophen wie bei der Love Parade stehen diese Moderationsroboter Seit an Seit und improvisieren scheinbar von einem internen Teleprompter ab.

Doch die Sendung, die ich als Kind mit Begeisterung schaute und die zu moderieren damals mein größter Traum war, hat – ebenso wie das andere einstige Informationsflaggschiff des Westdeutschen Rundfunks, das “Mittagsmagazin” auf WDR 2 – die Jahrzehnte nicht unbeschadet überstanden: Die Beiträge könnten auch aus jedem x-beliebigen Boulevard-Magazin (privat wie öffentlich-rechtlich) stammen. Wenn man sich einmal klar geworden ist, wie albern es ist, einen Text im Wechsel von zwei Personen sprechen zu lassen, sind die Doppelmoderationen nicht mehr ernst zu nehmen — doch bei genauer Betrachtung reden die Moderatoren sowieso häufig groben Unfug.

Aus verschiedenen Gründen, von denen mir einige selbst schleierhaft sind, habe ich am Montag mal wieder die “Aktuelle Stunde” gesehen. Die Sendung wird irritierenderweise seit zweieinhalb Jahren von Thomas Bug moderiert, der sich vorher viele Jahre Mühe gegeben hatte, auf keinen Fall seriös zu wirken, und nun das Gegenteil versucht.

Nachdem diverse Flüsse über diverse Ufer getreten sind und diverse Keller und Gärten überflutet haben, ist es Zeit für die große weite Welt der Formel 1 und deren neuen Weltmeister Sebastian Vettel, der “leider nicht aus Kerpen” kommt. Und das ist natürlich ein Alptraum für so einen Sender, der sich auf Nordrhein-Westfalen konzentriert: Ein Star, der aus Hessen stammt.

“Die Deutschen freuen sich im Allgemeinen”, erklärt Susanne Wieseler, um die entscheidende Frage hinzuzufügen: “Aber was macht das mit den Kerpenern im Besonderen?”

Es passiert, was zu befürchten war: Das Team der “Aktuellen Stunde” war vor Ort und hat es sich angeguckt:

Stacheldraht in Kerpen.

Todesstreifen! Über eine melancholische Slide Guitar schwadroniert der Off-Sprecher: “Was wurde hier gejubelt? Jetzt läuft die Feier anderswo.” Aber statt eines Steppenläufers, der passend zur Musik durchs Bild geweht wird, folgt ein harter Schnitt auf jubelnde Heppenheimer (nicht zu Verwechseln mit Pappenheimern, die gibt’s bei Schiller), dann wieder das nicht gerade blühende Leben in Kerpen:

Das blühende Leben in Kerpen.

(Dass der Reporter ausgerechnet bei diesem zarten Pflänzlein erklärt, Kerpen sei mal “die Formel-1-Stadt” gewesen, ist angesichts dieses wenig umweltfreundlichen Sports eine schöne Wort-Bild-Schere, aber im Kontext des Beitrags noch völlig harmlos.)

Während abermals die Slide Guitar losslidet, wechselt das Kamerateam in die Gaststätte “Altkerpen” und befragt zwei Frauen mit pfiffigen Brillengestellen:

Keck bebrillte Kerpenerinnen sprechen in WDR-Mikrofone.

“Wie Fastelovend” sei es gewesen, als Michael Schumacher damals gewonnen habe — und im Rheinland ist das wohl positiv besetzt. Doch jetzt ist alles anders, sollen uns die Bilder des Gläser spülenden Wirts (es ist Montagnachmittag, draußen ist es noch hell) und die schon wieder heranslidende Slide Guitar sagen.

Und der Off-Sprecher natürlich: “Und jetzt: Wieder ist ein Deutscher Weltmeister. Aber kein Kerpener. Und? Neidisch?”

“Nein!”, rufen da die Frauen, “im Gegenteil!”, und das wäre ungefähr der Punkt gewesen, an dem ich als Redaktionsleiter gesagt hätte: “Nee, tut mir leid, Jungs. Mit dem Aufhänger funktioniert die Geschichte überhaupt nicht. Könnt Ihr es nicht noch mal irgendwie anders versuchen?”

Zaun an der Kerpener Kartbahn (Ruhetag).

Sebastian Vettel, nein: “Der Sebastian Vettel” sei ja “immerhin” schon mal in Kerpen gewesen, erzählt der Sprecher: “Ein paar Runden” habe er auf der Kartbahn gedreht — da sei was los gewesen. Aber heute? “Aber heute? Ist Ruhetag auf der Kartbahn”, heißt es in dieser völlig widernatürlichen Kommentarsprache aus dem Off und für einen Moment könnte man glauben, der Ruhetag habe irgendwas mit Sebastian Vettel und dem immensen Imageverlust zu tun, den Kerpen am Sonntag erlitten hat.

Jetzt aber schnell zurück in die Innenstadt und zu der verdammten Slide Guitar:

Straße in Kerpen (fast menschenleer).

“Heute war irgendwie Ruhetag in ganz Kerpen”, sagt der Mann und man begreift langsam, welche Leistung Autoren und Schauspieler bei “Switch Reloaded” vollbringen müssen, um diesen ganzen Irrsinn, der da im deutschen Fernsehen völlig ernst gemeint wird, überhaupt noch satirisch zu überhöhen.

Allein die nächsten Sätze sind derart inkohärent, dass ein “Brat fettlos mit Salamo Ohne” zwischendrin auch nicht mehr groß auffallen würde: “Weltmeisterstadt, das ist sechs Jahre her. Und irgendwie ist das auch völlig okay so. Zumindest für manche Kerpener.”

“Warum soll ich denn neidisch sein?”, fragt ein milde fassungsloser Kioskbesitzer, um dann mit einem unglücklich gewählten Vergleich dem Reporter neue Munition zu liefern: Ob Hamburg denn neidisch sei, wenn Bayern Meister …

“Oooooh!”, wehrt der Reporter da ab und wir wollen mal ganz vergessen, dass Vettel gerade nicht deutscher Meister geworden ist, sondern Weltmeister. Ein Passant darf sagen, dass er “Hypes um Autofahrer” nicht so gut findet, und es erscheint inzwischen beinahe logisch, wenn der Off-Sprecher daran anschließt: “Keine Sorge: Dass der Schumi-Hype zurückkehrt ins ‘Altkerpen’, das ist unwahrscheinlich. Obwohl: Die Damen sind sich da noch nicht so ganz einig.”

Eines bleibe den Kerpenern aber, erklärt der Mann mit der Märchenonkel-Stimme: “Sie wurden sieben Mal Weltmeister, Heppenheim durfte erst einmal jubeln.”

An dieser Stelle endet der Beitrag. Immerhin ohne einen weiteren Einsatz der verfickten Slide Guitar.

Im Mitschnitt der Sendung in der WDR-Mediathek fehlt der Beitrag.

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Musik Rundfunk

In Assoziationsketten gelegt

Die ZDF-Pressestelle verkündet soeben folgende Nachricht:

Claus Theo Gärtner alias Detektiv Josef Matula hat Grund zum Feiern: Wenn am heutigen Mittwoch, 4. August 2010, die erste Klappe zur neuen Folge der ZDF-Krimiserie “Ein Fall für zwei” fällt, hat er den Krimiklassiker “Derrick” überrundet. Mit 282 Folgen in der Rolle des Privatdetektivs bricht Gärtner den Rekord von Horst Tappert, der insgesamt 281 Mal in der Rolle des Oberinspektors “Derrick” die Zuschauer begeisterte.

Ich nehme das als Vorwand, Ihnen die folgenden Videos zu zeigen:

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Und wenn Sie jetzt sagen: “Das ist doch alles alt!”, dann sage ich: “Stimmt! Allen voran Claus Theo Gärtner.”

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Rundfunk Kultur

Die Pottheads vom WDR

Am Sonntag ist es endlich soweit: Die A 40 wird zwischen Duisburg und Dortmund gesperrt, um darauf einen riesigen Tisch zu errichten und ein Volksfest zu feiern. Die Idee kann man charmant finden oder bekloppt, aber es wird hoffentlich tolle Bilder geben, die mithelfen, das Image des Ruhrgebiets zu verbessern.

Der Westdeutsche Rundfunk bringt deshalb mehrere Sondersendungen, die er in mehreren Pressemitteilungen vollmundig ankündigt:

Kein Stau, kein Stress, keine Autos – am 18. Juli geht auf der Autobahn A40 alles. Die RUHR 2010 sperrt den so genannten Pott-Highway.

Den was?!

den so genannten Pott-Highway.

Ach was. Und wer nennt den so?

Der Westdeutsche Rundfunk — und zwar offensichtlich nur der Westdeutsche Rundfunk.

Aua.

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Musik Rundfunk

Die Definition von Pop

Erinnern Sie sich noch an den schrecklichen dänischen Beitrag beim Eurovision Song Contest in Oslo?

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Herr Niggemeier und ich haben – während wir versuchten, uns diesen Ohrwurm gegenseitig aus dem Kopf zu prügeln – lange darüber nachgedacht, woran uns dieser Song alles erinnert. “Every Breath You Take” (oder, für die Jüngeren: “I’ll Be Missing You”) war natürlich dabei, mit ein bisschen fremder Hilfe kamen wir auch auf “The Best” von Tina Turner und einen Hauch von “Dancing Queen” kann man im Refrain auch erkennen.

Das alles ist aber harmlos gegen Lady Gaga, die das Prinzip Pop ausfüllt wie niemand sonst dieser Tage. Ihre aktuelle Single “Alejandro” verfügt nicht nur über ein beeindruckend irres Video, sie klingt auch wie hundert bereits bekannte Songs gleichzeitig:

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Lady Gaga — Alejandro – MyVideo

Maura Johnston und Jay Smooth haben sich bei NPR ausgiebig Gedanken darüber gemacht und erklären in dreieinhalb Minuten mal eben, wie Popmusik funktioniert.

Lady Gaga Vs. Ace Of Base bei npr.org