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Heu­te ist wie­der mal Towel Day. Bit­te ach­ten Sie auf Ihr Hand­tuch!

(Was das soll, ent­neh­men Sie bit­te dem Hand­buch zum Hand­tuch.)

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Der Saal wird still, die Lichter gehn aus

Sei­en wir ehr­lich: Wir Sind Hel­den sind so ziem­lich die lang­wei­ligs­te Band Deutsch­lands. Zwar wird man hier­zu­lan­de sowie­so kaum eine Band fin­den, die sich mal schlecht benimmt oder wenigs­tens mal ein paar Kol­le­gen disst, aber Wir Sind Hel­den sind immer noch eine Spur net­ter. Jetzt tou­ren sie sogar schon mit Baby! Und so eine Band will uns gera­de fünf Jah­re nach dem Durch­bruch ihre Geschich­te und ihren Tourall­tag erzäh­len? Auf 400 Sei­ten?

Wir Sind Hel­den sind aber natür­lich auch eine der sym­pa­thischs­ten Bands Deutsch­lands. Selbst als „Bri­git­te“ und „Poly­lux“, wo sie zu Hoch­zei­ten gefühlt in jeder Sen­dung por­trä­tiert wur­den, Judith Holo­fer­nes zur Klas­sen­spre­che­rin der Nati­on erklä­ren woll­ten und die Band droh­te, zum Sound­track­lie­fe­ran­ten von Attac-Demons­tra­tio­nen zu wer­den, sorg­te das Quar­tett immer mit genug Selbst­iro­nie dafür, dass man sie immer noch moch­te. Oder sie has­sen muss­te, weil sonst aus­nahms­los alle sie moch­ten. Die­se Wir Sind Hel­den haben jetzt „Infor­ma­tio­nen zu Tou­ren und ande­ren Ein­zel­tei­len“ ver­öf­fent­licht, eine Samm­lung alter Tour- und Stu­dio­ta­ge­bü­cher, ange­rei­chert mit ganz vie­len Zusatz­ge­schich­ten und lie­be­voll kom­pi­liert von den „Musikexpress“-Granden Josef Wink­ler und Albert Koch.

Wir haben die akti­ve Legen­den­bil­dung in einem frü­hen Sta­di­um ver­säumt und müs­sen nun damit leben: Drei Vier­tel der Hel­den haben sich beim, seufz, Som­mer­kurs einer Musik­hoch­schu­le ken­nen­ge­lernt.

Nun gut, wer unre­flek­tiert Dro­gen- und Sex­ge­schich­ten geschil­dert krie­gen will, kann ja „Scar Tis­sue“ von Antho­ny Kie­dis lesen, bei Wir Sind Hel­den gibt es erst mal län­ge­re Schil­de­run­gen des zag­haf­ten Ken­nen­ler­nens, die dafür jeder Mensch nach­voll­zie­hen kann, der sich mal mit ein paar Freun­den und deren Freun­den „so zum rum­zo­cken“ getrof­fen hat. Über­haupt: Das Hel­den-Buch soll­te man zur Pflicht­lek­tü­re von Nach­wuchs­mu­si­kern ernen­nen. Wenn sich die Band eupho­risch an die ers­ten (natür­lich ziem­lich schlech­ten) Auf­trit­te erin­nert, will man sofort auf die Büh­ne in egal wel­chem Jugend­zen­trum stür­men – und viel­leicht sogar in den Pro­be­raum. Wie man neben­her auch noch ohne ech­tes Manage­ment die Ange­bo­te von Plat­ten­fir­men ablehnt, die einen „top­down in GSA“ „brea­k­en“ wol­len, kann man sich bei den Hel­den zumin­dest abschau­en.

Dass das Buch aber trotz aus­führ­li­cher Schil­de­run­gen von Stu­dio­ar­beit und Live­be­trieb auch noch für Nicht-Insi­der inter­es­sant ist (sein dürf­te), ist der eigent­li­che Ver­dienst: Im Gegen­satz zum ver­gleich­ba­ren Tom­te-Tour­ta­ge­buch „Die Schön­heit der Chan­ce“ hat „Infor­ma­tio­nen zu Tou­ren und ande­ren Ein­zel­tei­len“ zwar den sper­ri­ge­ren Titel, erzählt aber sehr viel all­ge­mein­ver­ständ­li­cher und weit weni­ger puber­tär vom Tour-All­tag. Das könn­te natür­lich auch dar­an lie­gen, dass die bei­den Bands so grund­ver­schie­den sind, wie Thees Uhl­mann im Buch noch mal erklä­ren darf. Als Mehr­wert hängt dem Buch noch ein Glos­sar an, in dem von „A&R“ über „Night­li­ner“ bis zum sen­sa­tio­nell däm­li­chen Wort „Venue“ („Auf­tritts­ort“) alle Begrif­fe erklärt wer­den, die im Musik­ge­schäft so wich­tig sind. Dar­über freu­en sich sicher auch Musi­ker, Musik­jour­na­lis­ten und Musik­in­dus­tri­el­le, die zwar täg­lich mit die­sen Begrif­fen han­tie­ren müs­sen, sich aber nie trau­en wür­den, nach deren Bedeu­tung zu fra­gen.

400 Sei­ten sind recht viel, um dar­auf knapp sie­ben Jah­re Band­ge­schich­te zu erzäh­len. Den Groß­teil nimmt dabei der Weg bis zum uner­war­te­ten Erfolg des Debüt­al­bums „Die Rekla­ma­ti­on“ ein, aber das war ja auch eine span­nen­de Zeit und man merkt den klug mon­tier­ten Erzäh­lun­gen der Band­mit­glie­der an, wie unglaub­lich die­se Erfah­run­gen für sie auch heu­te noch sein müs­sen. Man hört das Zweit­werk „Von hier an blind“ mit etwas ande­ren Ohren, wenn man um den Druck weiß, der damals auf den Musi­kern las­te­te, und man glaubt es ihnen ger­ne, wie befrei­end es gewe­sen sein muss, als die Auf­merk­sam­keit im ver­gan­ge­nen Jahr etwas nach­ließ.

Am Ende hat man das Gefühl, die Band und ihre Mit­glie­der wirk­lich ken­nen­ge­lernt zu haben. Bei der Scho­nungs­lo­sig­keit, mit der eige­ne Feh­ler ein­ge­stan­den und eige­ne Lügen in der Ver­gan­gen­heit als sol­che ent­larvt wer­den, muss die­ses Buch ein­fach der Wahr­heit ent­spre­chen. Wenn etwas nervt, dann der wie­der­hol­te Hin­weis auf die eige­ne Unkom­mer­zia­li­tät: Kei­ne Fir­men­ver­an­stal­tun­gen, Wer­be­ban­ner am Kon­zert­ort bit­te abneh­men – aber dann begeis­tert anneh­men, wenn bei „Rock am Ring“, die­sem Mar­ke­ting­fes­ti­val mit inte­grier­tem Kon­zert­be­trieb, der Head­li­ner abspringt! Wenn die Band sich dann aller­dings über die Rezep­ti­on am Nür­burg­ring freut, glaubt man ihnen schon fast wie­der, dass dort tat­säch­lich mal für die Län­ge eines Kon­zerts kei­ne Hun­dert­tau­send Dosen­bier-Asis, son­dern ech­te Musik­fans auf dem Gelän­de her­um­lie­fen.

Am Ende weiß man: Wir Sind Hel­den wer­den nie Rock’n’Roll sein, sind aber grund­sym­pa­thisch. Sie machen tol­le Musik und kön­nen sogar Bücher schrei­ben. Das soll ihnen erst mal einer nach­ma­chen.

Wir Sind Hel­den – Infor­ma­tio­nen zu Tou­ren und ande­ren Ein­zel­tei­len
Fischer Ver­lag
12,95 Euro

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Die Dichterschlacht von Dinslaken

Weil’s in den Kom­men­ta­ren ja doch wie­der unter­ge­hen könn­te:

Am mor­gi­gen Mon­tag, 3. März fin­det im Bis­tro „Mit­tel­punkt“ in der Stadt­hal­le der Dins­la­ke­ner Poet­ry Slam statt.

Alles Wis­sens­wer­te dazu fin­det man unter slam-dinslaken.de.vu, dar­un­ter auch die Regeln, von denen mir fol­gen­de beson­ders gut gefällt:

Mobil­te­le­fo­ne müs­sen wäh­rend der Ver­an­stal­tung laut­los bzw. aus­ge­schal­tet wer­den. Beim Klin­geln wäh­rend einer Lesung muss der Besit­zer des Han­dys ein Lied aus der „Mund­or­gel“ vor gesam­tem Publi­kum vor­tra­gen.

Ich selbst bin am Mon­tag lei­der nicht in der Stadt, wer­de mir das Spek­ta­kel aber bestimmt bei einem der nächs­ten Ter­mi­ne (7. April, 5. Mai) mal anse­hen.

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Literatur

Er, Ich, Über-Ich

Es ist natür­lich rei­ner Zufall, dass aus­ge­rech­net in dem Herbst, in dem das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ent­schei­det, dass Maxim Bil­lers Roman „Esra“ ver­bo­ten bleibt, weil er zu nah an der Rea­li­tät sei und die Per­sön­lich­keits­rech­te der „Prot­ago­nis­ten“ ver­let­ze, ein Roman erscheint, der der Wirk­lich­keit so nahe kommt, dass er schon fast die Fra­ge auf­wirft, ob es sich über­haupt noch um einen Roman han­delt: Die Haupt­fi­gur in Tho­mas Gla­vi­nic‘ Roman „Das bin doch ich“ heißt Tho­mas Gla­vi­nic, ist Schrift­stel­ler, hat gera­de einen Roman fer­tig­ge­stellt und war­tet auf des­sen Ver­öf­fent­li­chung. Er kämpft sich durch den All­tag mit Frau, Klein­kind und Neu­ro­sen, trinkt regel­mä­ßig viel zu viel und ist viel im öster­rei­chi­schen Lite­ra­tur- und Kul­tur­be­trieb unter­wegs. Ansons­ten pas­siert wenig.

Es ist weni­ger die Hand­lung, die „Das bin doch ich“ zu einem unge­wöhn­li­chen Buch macht. Sie ist gleich­sam nicht vor­han­den und Gla­vi­nic (der ech­te wie der lite­ra­ri­sche) hat mit „Der Kame­ra­mör­der“ und „Die Arbeit der Nacht“ bedeu­tend hand­lungs­rei­che­re Roma­ne geschrie­ben. „Das bin doch ich“ lebt von der vor­der­grün­dig auf­ge­lös­ten Gren­ze zwi­schen Autor und Haupt­fi­gur, von der stän­di­gen Fra­ge, wel­che Roman-Pas­sa­gen abge­schrie­be­ne Wirk­lich­keit und wel­che Fik­ti­on sein könn­ten.

Gla­vi­nic (der Autor) war aber klug genug zu erken­nen, dass sol­che post­mo­der­nen Expo­si­tio­nen allei­ne einen Roman von 230 Sei­ten nur schwer­lich tra­gen kön­nen, und so lässt er sei­nen Tho­mas Gla­vi­nic im All­tag absur­de, quä­len­de und zum Teil rich­tig pein­li­che Geschich­ten erle­ben, die er mit unprä­ten­tiö­ser Spra­che erzählt. Das liest sich leicht und unter­hält.

Damit offen­ba­ren sich auch schon die zwei Haupt­les­ar­ten von „Das bin doch ich“: Die lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Her­an­ge­hens­wei­se, bei der man sich die gan­ze Zeit mit Erzähl­theo­rien und dem Kon­zept von Fik­ti­on und Rea­li­tät beschäf­ti­gen kann, und die Klatsch­va­ri­an­te, bei der man alles Beschrie­be­ne für bare Mün­ze nimmt und sich an den ver­meint­li­chen (dann aber doch eher unspek­ta­ku­lä­ren) Ein­sich­ten in die öster­rei­chi­sche Kul­tur­sze­ne erfreu­en kann. Angst vor juris­ti­schen Schrit­ten muss Gla­vi­nic dabei kaum haben: Von allen beschrie­be­nen Figu­ren ist der größ­te Säu­fer und Neu­ro­ti­ker sei­ne Haupt­fi­gur, also letzt­lich er selbst.

Dabei bleibt Gla­vi­nic, die Roman­fi­gur, trotz aller Wei­ner­lich­keit und sei­nem offen­sicht­li­chen Unver­mö­gen, mit sei­nem All­tag zurecht­zu­kom­men, immer sym­pa­thisch. Nur wenn er mor­gens ängst­lich vor dem Com­pu­ter hockt und sich fragt, wem er in der vor­he­ri­gen Nacht wie­der betrun­ke­ne E‑Mails geschrie­ben haben könn­te, wird die Situa­ti­on bei allem Amü­se­ment unglaub­wür­dig: „Guck doch ein­fach in Dei­nen ver­damm­ten ‚Gesendet‘-Ordner!“, möch­te man ihm da zuru­fen und wür­de damit aber­mals die Gren­zen der Lite­ra­tur spren­gen, mit denen Gla­vi­nic, der Autor, die gan­ze Zeit han­tiert. Eine drit­te Les­art wäre natür­lich, sich weder auf Theo­rien noch auf Klatsch zu kon­zen­trie­ren, son­dern das Buch als gelun­ge­ne Mischung aus bei­dem und als inter­es­san­te Unter­hal­tung zu betrach­ten.

Die außer­ge­wöhn­li­che Aus­gangs­la­ge des Romans sorgt schnell dafür, dass man sich genau­er mit sei­ner Form als mit sei­nem Inhalt aus­ein­an­der­setzt. Lässt man sich auf das Spiel ein und akzep­tiert das Geschrie­be­ne als im gro­ßen und gan­zen real, dann ist „Das bin doch ich“ ein inter­es­san­te Stu­die über einen Autor, der mit sei­ner Tages­frei­zeit nichts anzu­fan­gen weiß, was im Ergeb­nis dazu führt, dass er einen Meta-Roman über sich und sei­ne Situa­ti­on schreibt. Bei die­ser Kon­struk­ti­on muss man dann natür­lich vor­sich­tig sein, dass sie einen nicht bei län­ge­rem Nach­den­ken in den Wahn­sinn treibt, so wie der Roman-Gla­vi­nic mit sei­ner Hypo­chon­drie, sei­ner Flug­angst und sei­ner immer kon­fu­ser wer­den­den Kon­ver­sa­ti­on mit sei­nem Freund, dem Best­sel­ler­au­tor Dani­el Kehl­mann („Die Ver­mes­sung der Welt“), auch immer ein biss­chen wahn­sin­ni­ger zu wer­den scheint.

Unab­hän­gig vom tat­säch­li­chen Rea­li­täts­ge­halt zeich­net „Das bin doch ich“ ein glaub­wür­di­ges Bild aus dem Leben eines Krea­ti­ven mit all sei­nen Macken, Sor­gen und Ängs­ten. Gla­vi­nic pen­delt dabei gekonnt zwi­schen Kli­schees und eher über­ra­schen­den Anek­do­ten aus der Welt der Hoch­kul­tur und bringt den deut­schen Lesern ganz neben­bei sei­ne öster­rei­chi­sche Hei­mat und vor allem Wien näher. Wenigs­tens ein­mal will man auch beim Inder am Nasch­markt essen gehen, wie es der Prot­ago­nist jeden Tag tut. Viel­leicht wür­de man dort tat­säch­lich auf den ech­ten Tho­mas Gla­vi­nic tref­fen. Viel­leicht aber auch nicht.

Eine beson­de­re Iro­nie der Geschich­te (nicht des Romans): Mit „Das bin doch ich“ gelang Gla­vi­nic das, wor­auf sein Roman­held mit dem Vor­gän­ger „Die Arbeit der Nacht“ ver­geb­lich hofft – der Sprung auf die Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses.

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Verschwör dich gegen dich

Kommt ein BILD­blog­ger in die Buch­hand­lung und stol­pert über ein Buch mit dem Unter­ti­tel „Was 2007 nicht in der Zei­tung stand“. Er blät­tert ein wenig dar­in, denkt „Das hört sich ja ganz inter­es­sant an“, fragt sich, woher ihm der Name Ger­hard Wis­new­s­ki bekannt vor­kommt und zahlt den sym­pa­thi­schen Preis von sechs Euro.

Und damit lag „Ver­heim­licht, ver­tuscht, ver­ges­sen“ (von nun an: „VVV“) vor mir. Im Vor­wort erklärt Wis­new­s­ki die Inten­ti­on sei­nes „kri­ti­schen Jahr­buchs“:

Mein Ziel war es, bekann­te The­men noch­mals unter die Lupe zu neh­men und unbe­kann­te The­men auf­zu­de­cken, um das Geschichts­bild die­ses Jah­res ein wenig zu kor­ri­gie­ren.

Ein heh­res Ziel, wenn­gleich er einen Absatz spä­ter immer­hin ein­räumt, nicht im Besitz der abso­lu­ten Wahr­heit zu sein. Gute 300 Sei­ten spä­ter weiß der Leser, wo Wis­new­s­ki Kor­rek­tur­be­darf sieht: Es gibt kei­ne vom Men­schen ver­ur­sach­te glo­ba­le Erwär­mung, kei­ne Vogel­grip­pe und kein Aids; die Anschlä­ge des 11. Sep­tem­bers 2001 wur­den von den Ame­ri­ka­nern selbst geplant (wobei eini­ge Medi­en im Vor­feld infor­miert waren) und mit Hil­fe von Al Gore soll eine „Kli­ma­plan­wirt­schaft“, eine „Dik­ta­tur mit lächeln­dem Gesicht, aber mit eiser­nen Fes­seln“ instal­liert wer­den um die Macht der USA in der Welt wei­ter aus­zu­bau­en.

Uff! Da soll­te man sich viel­leicht erst mal noch mal anschau­en, wer die­ser „bekann­te Erfolgs­au­tor und Ent­hül­lungs­jour­na­list“ (so der Ver­lag) Ger­hard Wis­new­s­ki eigent­lich ist. Er ist Jahr­gang 1959, hat Poli­tik­wis­sen­schaf­ten stu­diert, als Jour­na­list gear­bei­tet und meh­re­re Sach­bü­cher geschrie­ben. Zum Bei­spiel „Lügen im Welt­raum“ (die Mond­lan­dung hat es so nicht gege­ben), „Das RAF-Phan­tom“ (die drit­te Gene­ra­ti­on der RAF hat es so nicht gege­ben), „Mythos 9/​11“ und „Ope­ra­ti­on 9/​11“ (den 11. Sep­tem­ber hat es so nicht gege­ben). Über den 11. Sep­tem­ber hat Wis­new­s­ki sogar einen Doku­men­tar­film für den WDR gedreht: „Akten­zei­chen 11.9. unge­löst“ wur­de vom „Spie­gel“ der­art zer­pflückt, dass der WDR anschlie­ßend eine wei­te­re Zusam­men­ar­beit mit Wis­new­s­ki und sei­nem Co-Autor aus­schloss.

Vor­sich­tig aus­ge­drückt sind Wis­newskis Theo­rien also mit Vor­sicht zu genie­ßen. Und in der Tat sind man­che Beweis­füh­run­gen so kru­de, man­che Quel­len so dubi­os und man­che hand­werk­li­chen Feh­ler so offen­sicht­lich, dass es der Glaub­wür­dig­keit des Buches erheb­lich scha­det. Das ist tra­gisch, denn in „VVV“, das die Ereig­nis­se von Okto­ber 2006 bis Sep­tem­ber 2007 behan­delt, gibt es durch­aus Kapi­tel, die lesens­wert sind. So ist zum Bei­spiel eine kur­ze Rück­schau auf die ver­schie­de­nen Bun­des­mi­nis­ter des Inne­ren in den letz­ten Jahr­zehn­ten hoch­in­ter­es­sant, weil hier ein­drucks­voll auf­ge­lis­tet wird, wie es um die Ver­fas­sungs- und Geset­zes­treue der jewei­li­gen Her­ren so bestellt war. Auch Wis­newskis Kri­tik an Wahl­au­to­ma­ten, ePäs­sen und RFID-Chips ist wei­test­ge­hend fun­diert und sinn­voll, sei­ne sta­tis­ti­schen Ver­glei­che der Gefah­ren von Vogel­grip­pe und inter­na­tio­na­lem Ter­ro­ris­mus mit denen im Stra­ßen­ver­kehr sind ange­nehm Hys­te­rie-brem­send. Eini­ge der Kapi­tel über unge­lös­te Kri­mi­nal­fäl­le laden zumin­dest zu einer nähe­ren Beschäf­ti­gung mit den Quel­len ein, sorg­ten aber auch dafür, dass ich mich nach der Lek­tü­re fühl­te wie als Vier­zehn­jäh­ri­ger nach dem „Akte X“-Gucken, als ich bei ein­ge­schal­te­tem Licht ein­schla­fen muss­te.

Wis­new­s­ki ist davon über­zeugt, dass sich die Welt­wirt­schaft unter ame­ri­ka­ni­scher Füh­rung gera­de im Zusam­men­bruch befin­det (was ich als Wirt­schafts­laie nach den Ereig­nis­sen vom Mon­tag nicht mal aus­schlie­ßen kann), ver­mu­tet hin­ter den Vogel­grip­pe-Fäl­len in Deutsch­land eine Ver­schwö­rung von Phar­ma-Indus­trie, Geflü­gel­groß­be­trie­ben und dem Fried­rich-Loeff­ler-Insti­tut und wärmt die alte Ver­schwö­rungs­theo­rie um die BBC am 11. Sep­tem­ber 2001 wie­der auf. Ihn zu wider­le­gen erscheint in den meis­ten Fäl­len unmög­lich, da es ja zum Wesen jeder bes­se­ren Ver­schwö­rungs­theo­rie gehört, dass ihre Ver­brei­ter dem Rest der Welt unter­stel­len, selbst Ver­schwö­rer oder deren Opfer zu sein. Offi­zi­el­le Quel­len gel­ten eh nicht, unab­hän­gi­ge Sach­ver­stän­di­ge sind Teil der Ver­schwö­rung und wer die „Gegen­be­wei­se“ kri­ti­siert gehört zu denen. Unter die­ser Prä­mis­se kann natür­lich kei­ne Sei­te irgend­was bewei­sen – oder es haben ein­fach bei­de Recht.

Ich tue mich schwer damit, „VVV“ pau­schal als sub­stanz­lo­se Ver­schwö­rungs­theo­rie und alber­nes Gewäsch abzu­tun, weil in dem Buch eini­ge inter­es­san­te Denk­an­sät­ze auf­tau­chen. Auf der ande­ren Sei­te steht dar­in aber auch viel Quark, der bei mir teils für Geläch­ter, teils für Wut­an­fäl­le gesorgt hat:

  • Die alber­ne RTL-Come­dy „Frei­tag­nacht­news“ lobt Wis­new­s­ki gleich an zwei Stel­len als „Sati­re­sen­dung“ bzw. die „zusam­men mit Sie­ben Tage, sie­ben Köp­fe […] ein­zi­ge Sen­dung, die man sich im Deut­schen Fern­se­hen über­haupt anse­hen konn­te“.
  • Das Kapi­tel über den unter mys­te­riö­sen Umstän­den ver­stor­be­nen Felix von Quis­torp beginnt Wis­new­s­ki mit dem Hin­weis, dass in Deutsch­land jähr­lich etwa 50.000 Kin­der als ver­misst gemel­det wer­den – um ein paar Zei­len spä­ter auf Fäl­le von ver­wahr­los­ten und miss­han­del­ten Kin­dern zu spre­chen zu kom­men und zwi­schen­durch noch Made­lei­ne McCann zu erwäh­nen, die nun kaum zu den in Deutsch­land ver­miss­ten Kin­dern zäh­len dürf­te.
  • Wis­new­s­ki will Murat Kur­naz des­sen Fol­ter­be­schrei­bun­gen nicht glau­ben, weil die­sem „selbst die Beschrei­bung schlimms­ter Fol­ter­prak­ti­ken“ „kei­ne Gefühls­re­gun­gen“ ent­lo­cke. Eine etwas dün­ne Logik, wenn man sich vor­stellt, wel­che psy­chi­schen Fol­gen sol­che Fol­ter aus­lö­sen muss.
  • Im Fall des Amok­laufs von Blacksburg zwei­felt er die offi­zi­el­le Ver­si­on mit der Begrün­dung an, es habe ja gar kei­ne Ver­bin­dung zwi­schen dem ver­meint­li­chen Täter und sei­nen Opfern gege­ben. Dabei dach­te ich immer, die­se Will­kür gehö­re zum Kon­zept des Amok.
  • Das Kapi­tel über Mark Med­lock (bzw. die Prak­ti­ken von RTL bei der tele­fo­ni­schen Abstim­mung) beginnt er mit dem Kli­schee­satz jedes Kul­tur­pes­si­mis­ten

    Das deut­sche Show­ge­schäft erreicht einen neu­en künst­le­ri­schen und ästhe­ti­schen Tief­punkt.

    um hin­zu­zu­fü­gen, Med­lock sehe „schlecht“ aus, sin­ge „schlecht“ und spre­che „schlecht“:

    Dem Wah­ren, Schö­nen, Guten setzt DSDS das Unwah­re, Häss­li­che und Schlech­te ent­ge­gen.

  • Völ­lig unre­flek­tiert zitiert Wis­new­s­ki einen Wis­sen­schaft­ler, der das „befürch­te­te Über­grei­fen der Seu­che [Aids, Anm. des Blog­gers] auf die hete­ro­se­xu­el­le Bevöl­ke­rung“ in Abre­de stellt.
  • Den Sta­tus der „Bild“-Zeitung als Hof­be­richt­erstat­te­rin im „Arbei­ter- und Mer­kel­staat“ will Wis­new­s­ki allen Erns­tes mit einer Mel­dung über die Qua­li­tät von Bil­lig-Son­nen­cremes bele­gen.
  • Zu Eva Her­man fällt ihm ein, sie sei Opfer eines bös­wil­li­gen Kom­plotts gewor­den. Ihr viel geschol­te­nes Zitat sei doch „ein­deu­tig“ gewe­sen. Dabei hat­te ich gehofft, man könn­te sich inzwi­schen wenigs­tens dar­auf eini­gen, dass das gan­ze Elen­de die­ser unse­li­gen Debat­te nur ent­stan­den ist, weil sich Frau Her­man im frei­en Vor­trag in ihren Neben­sät­zen ver­hed­dert hat­te und sich hin­ter­her zu fein war, die­se Mög­lich­keit auch nur in Betracht zu zie­hen. Wir haben gese­hen, dass man Her­mans berühm­ten Satz in zwei­er­lei Rich­tun­gen aus­le­gen kann und genau das soll­te doch wohl ein Kri­te­ri­um für Unein­deu­tig­keit sein.
  • Wis­new­s­ki macht aber zwi­schen­durch auch noch mal selbst die Her­man, wenn er die „erheb­li­chen“ Unter­schie­de im Ver­hal­ten von Jun­gen und Mäd­chen am fol­gen­den Bei­spiel bewei­sen will:

    Wäh­rend Mäd­chen im Hand­ar­beits­un­ter­richt brav sti­cken, schwei­fen Jun­gen gedank­lich ab und gucken aus dem Fens­ter.

Sol­che Bücher machen mich ganz gaga, weil ich die meis­te Zeit damit beschäf­tigt bin, mich selbst zu fra­gen, ob ich dem Autor bei die­sem oder jenem The­ma über­haupt noch zustim­men kann, wenn ich an ande­ren Stel­len nicht nur nicht sei­ner Mei­nung bin, son­dern sein Vor­ge­hen mal für falsch, mal für gefähr­lich hal­te. Natür­lich kann ich das, denn letzt­lich muss ja sowie­so jeder für sich selbst ent­schei­den, was er glaubt und was nicht. Die Quint­essenz der Lek­tü­re kann also nur lau­ten, allen Quel­len mit einer gewis­sen Grund­skep­sis zu begeg­nen. Für die­se Erkennt­nis brau­che ich aber kei­ne 300 Sei­ten Text.

Der BILD­blog­ger fand dann übri­gens zumin­dest doch noch was: Im Kapi­tel über die Haft­ent­las­sung Bri­git­te Mon­haupts zitiert Wis­new­s­ki die „sehr emp­feh­lens­wer­te, Bild-kri­ti­sche Web­site www.bildblog.de“.

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Literatur

Ist das Lesen nicht schön?

In einem Anfall nur gerin­ger Selbst­über­schät­zung dach­te ich ein­mal „Was Elke Hei­den­reich kann, kann ich schon lan­ge“, schnapp­te mir die Video­ka­me­ra und erzähl­te die­ser, wel­che Bücher man denn mei­ne Mei­nung nach zu Weih­nach­ten ver­schen­ken sol­le.

Her­aus­ge­kom­men ist unun­ter­bro­che­nes Gesab­bel, das man auch gut als bil­der­lo­sen Pod­cast hät­te fabri­zie­ren kön­nen, aber ich woll­te ja unbe­dingt ein Video draus machen.

Bit­te sehr, hier ist es:


Link: sevenload.com

Anders als Elke Hei­den­reich brau­che ich aber nur 16 Minu­ten. Das heißt, ich rede dop­pelt so schnell.

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Weder Lennon noch Heino: Interview mit Volker Strübing

Auf mei­ner Dienst­rei­se nach Ber­lin habe ich mich auch zu einem Inter­view mit Vol­ker Strü­bing getrof­fen. Es war ein sehr net­tes Gespräch mit dem Schrift­stel­ler und Schöp­fer von „Kloß & Spin­ne“ und dar­aus wäre sicher auch ein hüb­sches, klei­nes Video gewor­den, wenn …

Volker Strübing und Lukas Heinser sitzen auf einem Sofa (v.r.n.l.)

Ja, wenn die Video­ka­me­ra nicht zu weit von uns und zu nah an der The­ke vom RAW-Tem­pel gestan­den hät­te, an der gera­de das gesam­te Fla­schen­la­ger durch­ge­schüt­telt wur­de. Ohne Vor­kennt­nis­se hät­te man also kein Wort ver­stan­den, wes­we­gen ich gezwun­gen war, das gan­ze Gespräch abzu­tip­pen. Auch wenn jetzt der schö­ne Ber­li­ner Ton­fall in Vol­kers Stim­me fehlt, den­ke ich, dass es sich gelohnt hat:

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Politik Literatur

Licht aus, Spott an

Wie kann man heut­zu­ta­ge in Deutsch­land eigent­lich noch wirk­lich pro­vo­zie­ren? In Zei­ten, in denen schon jeder und alles mit irgend­wel­chen Nazi-Sachen ver­gli­chen wur­de, muss man sich was neu­es ein­fal­len las­sen: den Kohl-Ver­gleich.

Erfun­den hat ihn Bun­des­tags­vi­ze­prä­si­dent Wolf­gang Thier­se in der „Leip­zi­ger Volks­zei­tung“. Zumin­dest zitiert die­se ihn wie folgt:

Mün­te­fe­ring geht, weil ihm Pri­va­tes in einer ent­schei­den­den Lebens­pha­se wich­ti­ger als alles ande­re ist. Ein Ein­schnitt?

Es ist eine unpo­li­ti­sche Ent­schei­dung, dass Franz Mün­te­fe­ring sei­ne Frau in der letz­ten Pha­se ihres Lebens direkt beglei­ten will. Sei­ne Frau im Dun­keln in Lud­wigs­ha­fen sit­zen zu las­sen, wie es Hel­mut Kohl gemacht hat, ist kein Ide­al. Ohne dass das ver­gleich­bar wäre. Die Poli­tik ist nicht das Aller­wich­tigs­te. Man soll­te sich in sol­chen Pha­sen das Recht neh­men, auch ein­mal still zu hal­ten. Es ist nicht so, dass man ein Schwäch­ling ist, wenn man nicht immer sofort in die­sen unmensch­li­chen Ent­schei­dungs­druck ver­fällt.

Zitat: lvz-online.de

Zur Erin­ne­rung: Han­ne­lo­re Kohl, die Frau von Ex-Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl, litt schon wäh­rend des­sen Amts­zeit an einer schwe­ren Licht­all­er­gie, die sie zuletzt dazu zwang, in einem völ­lig abge­dun­kel­ten Haus zu leben, und nahm sich im Juli 2001 das Leben (vgl. dazu auch die­ses geschmack­vol­le „Spiegel“-Titelbild).

So, wie Thier­se von der „Leip­zi­ger Volks­zei­tung“ zitiert wird, wäre das natür­lich eine etwas unglück­li­che, viel­leicht auch schlicht­weg geschmack­lo­se Äuße­rung. Thier­se sah sei­ne Aus­füh­run­gen zunächst ein­mal als „falsch und ver­kürzt“ wie­der­ge­ge­ben und schrieb dem Alt­kanz­ler einen per­sön­li­chen Brief, in dem er bedau­er­te, dass „ein fal­scher Ein­druck ent­stan­den sei“. (Man beach­te dabei den alten PR-Trick und bedaue­re nicht sei­ne Äuße­run­gen, son­dern den Ein­druck, der durch sie ent­stan­den sein könn­te.)

Unter­des­sen schrien Poli­ti­ker aller Par­tei­en schon Zeter und Mor­dio und ver­such­ten, die Num­mer zu einem Rie­sen­skan­dal hoch­zu­ju­beln, in des­sen Wind­schat­ten die heu­ti­ge Diä­ten­er­hö­hung medi­al unter­ge­hen könn­te.

Wer ver­ste­hen will, wie Poli­tik und Medi­en heut­zu­ta­ge funk­tio­nie­ren, muss nur die­sen Arti­kel bei n‑tv.de lesen:

„Die Äuße­run­gen von Herrn Thier­se sind für mich mensch­lich zutiefst unver­ständ­lich. Sie gren­zen für mich an Nie­der­tracht“, sag­te Mer­kel der „Bild“.

[…]

Uni­ons-Frak­ti­ons­chef Vol­ker Kau­der (CDU) sprach von einem „Tief­punkt im Umgang“ unter Kol­le­gen. CSU-Lan­des­grup­pen­chef Peter Ram­sau­er sag­te, ein Bedau­ern rei­che „hin­ten und vor­ne nicht“. „Das ist des Deut­schen Bun­des­tags nicht wür­dig. FDP-Chef Gui­do Wes­ter­wel­le hat recht, wenn er sagt, er kann sich durch einen sol­chen Vize­prä­si­den­ten nicht reprä­sen­tiert füh­len.“ Wes­ter­wel­le sprach im „Köl­ner Stadt-Anzei­ger“ von „unter­ir­di­schen“ Äuße­run­gen.

Sie sehen schon: Die reden alle über­ein­an­der und mit der Pres­se, aber in kei­nem Fall mit­ein­an­der – und das Volk sitzt dane­ben wie das Kind geschie­de­ner Eltern, die nur noch über ihre Anwäl­te mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren.

Im „Bild“-Artikel kom­men noch ein paar wei­te­re Hoch­ka­rä­ter zu Wort:

Hes­sens Minis­ter­prä­si­dent Roland Koch (CDU) empört: „Schä­big und geschmack­los!“ Jun­ge-Uni­on-Chef Phil­ipp Miß­fel­der: „Par­tei­chef Kurt Beck muss Thier­se sofort zur Ord­nung rufen.“

Und weil die Luft lang­sam dünn wur­de, schal­te­te Thier­se einen Gang höher und ent­schul­dig­te sich heu­te mor­gen per Brief „in aller Form“ bei Hel­mut Kohl. Rich­ti­ger noch: Er bat um Ent­schul­di­gung, was ja heut­zu­ta­ge auch eine sprach­li­che Sel­ten­heit ist.

Wie reagiert eigent­lich Kohl auf den Brief sei­nes alten Freun­des und das gan­ze Thea­ter drum her­um? Mit der ihm übli­chen staats­män­ni­schen Grö­ße und Gelas­sen­heit:

„Ich neh­me die­se Ent­schul­di­gung an. Zum Vor­gang selbst will ich sonst nichts sagen.“

Ich weiß schon, war­um der Mann auf ewig „mein“ Kanz­ler blei­ben wird.

Nach­trag 17. Novem­ber: Gera­de erst fest­ge­stellt, dass die­se ers­te öffent­li­che Erwäh­nung des Namens Hel­mut Kohl seit Mona­ten zufäl­li­ger­wei­se mit der Prä­sen­ta­ti­on des drit­ten Bands von Kohls Auto­bio­gra­fie zusam­men­fiel …

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Literatur

Aus den Papierkörben der Weltliteratur (2)

Auf mei­ner Fest­plat­te habe ich wei­te­re Tex­te gefun­den, die vor mehr als einem hal­ben Jahr­zehnt ent­stan­den sind, bei denen ich aber der Mei­nung bin, dass man sie zumin­dest noch mal zur Blog­ver­fül­lung nut­zen kann.

So zum Bei­spiel der nun fol­gen­de Text, der im Deutsch­un­ter­richt bei eben jener Leh­re­rin ent­stand. Die Auf­ga­be war es, einen Text zu einem Bild zu schrei­ben, auf dem sich ein Mann mit bei­den Hän­den an einer Art Zaun abstützt, der sich in der Mit­te zu öff­nen scheint. (Ich hät­te die­ses Bild ger­ne ein­ge­scannt, habe es aber nicht mehr gefun­den.)

Des­halb steht über dem Text auch „Am Zaun“. Der Text und die Fuß­no­ten sind auf dem Stand vom 7. Juni 2001 und wur­den nur behut­sam an die gän­gi­gen Recht­schreib­re­geln ange­passt.

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Don’t party like it’s 1999

Kürz­lich blät­ter­te ich mal wie­der in „Tris­tesse Roya­le“, dem Rea­der der deutsch­spra­chi­gen Pop­li­te­ra­tur der 1990er Jah­re, dem Zeit­do­ku­ment der ers­ten Tage der Ber­li­ner Repu­blik. Und mir wur­de klar: Wer ver­ste­hen will, wie sehr sich unse­re Gesell­schaft und unse­re Welt im letz­ten Jahr­zehnt ver­än­dert haben, der muss nur die­se Pro­to­kol­le der Gesprä­che lesen, die Joa­chim Bes­sing, Chris­ti­an Kracht, Eck­hart Nickel, Alex­an­der von Schön­burg und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re im spä­ten April des Jah­res 1999 im frisch wie­der­eröff­ne­ten Ber­li­ner Hotel „Adlon“ geführt haben.

Neh­men wir nur einen kur­zen Aus­schnitt, der eigent­lich alles sagt:

JOACHIM BESSING Gibt es denn eigent­lich über­haupt noch soge­nann­te gesell­schaft­li­che Tabus?
ALEXANDER V. SCHÖNBURG Die katho­li­sche Kir­che zu ver­tei­di­gen ist zum Bei­spiel ein moder­nes Tabu. Es ist ein All­ge­mein­platz, für die Anti­ba­by­pil­le und gegen die Fami­li­en­po­li­tik des Paps­tes zu sein. Wer heu­te, wie ich, sagt: Ich bin für den Papst und gegen die „Pil­le danach“, bricht ein gesell­schaft­lich ver­ein­bar­tes Tabu. Viel­leicht ist es auch ein ähn­li­cher Tabu­bruch, wenn eine Frau sagt: Ich gehö­re hin­ter den Herd und möch­te ger­ne mei­ne Kin­der erzie­hen. Ich möch­te gar nicht in die Drei-Wet­ter-Taft-Welt ein­tre­ten.

„Tris­tesse Roya­le“, S. 118

Lesen Sie die­se Aus­füh­run­gen ruhig mehr­mals. Und ver­su­chen Sie dann, sich vor­zu­stel­len, dass es eine Welt gab, in der „wir“ noch nicht Papst waren und in der Eva Her­man nur die Nach­rich­ten vor­ge­le­sen hat. Es war eine Welt, in der alles noch so war, wie es war, bevor nichts mehr so war, wie es zuvor gewe­sen war. Eine Welt in einem ande­ren Jahr­tau­send – aber wer heu­te aufs Gym­na­si­um kommt, war damals schon gebo­ren.

Natür­lich ist „Tris­tesse Roya­le“ kein Pro­to­koll einer tat­säch­li­chen Gesell­schaft. Die welt­män­ni­schen Posen der fünf jun­gen, kon­ser­va­ti­ven Her­ren lie­ßen sich auch damals nur schwer­lich mit der Welt­sicht der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung auf eine Line brin­gen. Aber sie pass­ten sti­lis­tisch in die Eupho­rie des Auf­bruchs. Das Buch ist des­halb eine gute Erin­ne­rung an die­se ers­ten Tage der soge­nann­ten Ber­li­ner Repu­blik, als es so aus­sah, als wür­den Ger­hard Schrö­der und die rot-grü­ne Koali­ti­on Deutsch­land allei­ne aus der Kri­se füh­ren. In gewis­ser Wei­se haben sie das getan, aber das Volk hat es ihnen nicht gedankt, weil die als gro­ße „Reform“ anmo­de­rier­te Agen­da 2010 weh tat und sie zu einem nicht uner­heb­li­chen Teil auch unso­zi­al war. Nie­mand fragt, war­um es Deutsch­land unter einer Kanz­le­rin Mer­kel, die bis­her kei­ne ein­zi­ge innen­po­li­ti­sche Ent­schei­dung grö­ße­rer Trag­wei­te getrof­fen hat, plötz­lich so gut gehen soll, wie lan­ge nicht mehr. Nie­mand ist erstaunt, wenn die SPD unter dem Pfäl­zer Ted­dy Kurt Beck plötz­lich wie­der Sozi­al­de­mo­kra­tie der 1960er Jah­re betrei­ben will. Aber alle jam­mern über die­se wahn­sin­ni­gen Teue­rungs­ra­ten und über die Gefahr, schon mor­gen auf dem Koblen­zer Markt­platz Opfer einer isla­mis­ti­schen Atom­bom­be zu wer­den.

Zwi­schen April ’99 und Okto­ber ’07 lag der 11. Sep­tem­ber 2001, der natür­lich viel ver­än­dert hat und der für zwei neue gro­ße Krie­ge auf die­sem Pla­ne­ten ver­ant­wort­lich ist. Aber ich glau­be nicht, dass die­se Ter­ror­an­schlä­ge, so schlimm sie auch waren und so vie­le danach auch noch kamen, der Haupt­grund für die­se Ver­schie­bung gesell­schaft­li­cher Vor­stel­lun­gen ist.

Zwi­schen 1999 und 2007 lag näm­lich auch und vor allem ein Jahr­tau­send­wech­sel, egal ob man den am 1. Janu­ar 2000 oder erst ein Jahr spä­ter begos­sen hat. Wenn wir uns anse­hen, wel­che Aus­wir­kun­gen schon eine schlich­te Jahr­hun­dert­wen­de gehabt hat, dann müs­sen wir erstaunt sein, dass die­ser Über­gang vom zwei­ten zum drit­ten Mill­en­ni­um häu­fig so ein­fach über­gan­gen wird: Das spä­te 19. Jahr­hun­dert hat­te das Fin de siè­cle, das Zeit­al­ter des Deka­den­tis­mus, und genau das fin­den wir auch in „Tris­tesse Roya­le“ und der Gesell­schaft die­ser spä­ten 1990er Tage wie­der. Nicht weni­ge erwar­te­ten für die Sil­ves­ter­nacht 1999/​2000 den sofor­ti­gen Welt­un­ter­gang und ent­spre­chend wur­de auch gefei­ert und gelebt. Die­ser Über­schwung hielt dies­mal aber kei­ne 14 Jah­re, bis ein Ereig­nis die Welt erschüt­ter­te, son­dern die paar Mona­te bis zum Sep­tem­ber 2001.

Als Peter Scholl-Latour am Abend des 12. Sep­tem­ber 2001 in der Talk­show von Michel Fried­man das Ende der Spaß­ge­sell­schaft pos­tu­lier­te, hin­ter­ließ das zwar kei­nen all­zu blei­ben­den Ein­druck bei der Welt­be­völ­ke­rung, aber nach so einer Ansa­ge fie­len die Cham­pa­gner­bä­der in Ber­lin-Mit­te viel­leicht doch zunächst ein biss­chen klei­ner aus. Und ehe man sich’s ver­sah, war auch auf höhe­rer Ebe­ne aus einer apo­li­ti­schen Deka­denz­ge­sell­schaft eine apo­li­ti­sche Bie­der­mei­er­ge­sell­schaft gewor­den, in der man sei­nen dun­kel­haa­ri­gen Nach­barn sofort für einen poten­ti­el­len Mas­sen­mör­der hält, weil der sich drei­mal am Tag die Hän­de wäscht und betet. Ande­rer­seits wird ein alter Kir­chen­mann von Jugend­li­chen wie ein Pop­star ver­ehrt und Fern­seh­mo­de­ra­to­rin­nen erhe­ben das Gegen­teil ihres eige­nen Lebens­we­ges zum Heils­ver­spre­chen für alle Frau­en.

Damit sind wir, auf Umwe­gen, wie­der beim Aus­gangs­zi­tat ange­kom­men. Was machen eigent­lich die­se gro­ßen Män­ner der deutsch­spra­chi­gen Deka­denz heu­te? Nun: Alex­an­der von Schön­burg war kurz­zei­tig Chef­re­dak­teur des Edel­ma­ga­zins „Park Ave­nue“ und kollum­ni­ert für „Bild“; Joa­chim Bes­sing schreibt Bücher, die auf dem „Lebenshilfe“-Tisch der Buch­hand­lun­gen neben denen von Eva Her­man lie­gen; Eck­hart Nickel und Chris­ti­an Kracht grün­de­ten die sehr inter­es­san­te, lei­der aber nicht sehr erfolg­rei­che Lite­ra­tur­zeit­schrift „Der Freund“; Kracht selbst ent­schwebt in sei­nen Repor­ta­gen in immer unzu­gäng­li­che­re Sphä­ren und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re war zuletzt als Rosen­ver­käu­fer im neu­en Horst-Schläm­mer-Video zu sehen.

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Aus den Papierkörben der Weltliteratur

War­um soll­te es auf mei­ner Fest­plat­te anders aus­se­hen als in mei­nem Zim­mer? Ich war grad auf der Suche nach etwas völ­lig ande­rem, als ich über eine Text­da­tei stol­per­te, die mei­ne Auf­merk­sam­keit erreg­te. Sie ist ziem­lich exakt sechs Jah­re alt und mit „drama.txt“ beti­telt.

Da ich „drama.txt“ für ein äußerst inter­es­san­tes zeit­his­to­ri­sches Doku­ment hal­te, möch­te ich den Inhalt hier ger­ne in vol­lem Umfang und unver­än­dert wie­der­ge­ben:

Der Marsch der Insti­tu­tio­nen – ein Dra­ma in einem Akt.
Alle Namen sind frei erfun­den.
Per­so­nen: Frau Hän­del, Leh­re­rin; Karl, Schü­ler; Herr Lin­gen, Schul­lei­ter; etwa zwei dut­zend Schü­ler
Büh­ne: Ein schlich­ter Klas­sen­raum. Wich­tig sind das Pult, eine Tür und ein sti­li­sier­ter Kreml-Turm auf einem Schü­ler­tisch.

Die Schü­ler sit­zen umher und reden. Offen­bar sol­len sie gleich eine Klau­sur schrei­ben. Die Leh­re­rin fehlt noch.
Man­fred: Wenn die wirk­lich die glei­che Klau­sur nimmt, dann wer­de ich wahn­sin­nig.
Lud­wig: So doof wird die kaum sein!
Tor­ben: Gib mir noch mal den Text von Fried­rich!

Die Tür geht auf, Frau Hän­del tritt ein. Sie trägt eine über­trie­be­ne Perü­cke und eine gro­ße Tasche.

Frau Hän­del: Hal­lo Kin­der! Hier ist eure Klau­sur!

Frau Hän­del teilt ein Papier aus. Die Schü­ler bli­cken ungläu­big dar­auf und begin­nen dann, laut zu lachen.

Tor­ben: Toll! Und jetzt hab ich das nicht gele­sen!
Frau Hän­del: Was haben Sie nicht gele­sen?
Tor­ben: Äh, die Zusam­men­fas­sung der sti­lis­ti­schen Mit­tel, genau!

Frau Hän­del geht nach vor­ne. Karl mel­det sich.

Frau Hän­del: Ja, Karl?
Karl: Ihnen ist klar, dass sie die­se Klau­sur letz­tes Jahr im Grund­kurs schon ein­mal geschrie­ben haben?!?
Frau Hän­del: (strahlt) Ja!
Karl: Ihnen ist klar, dass wir Kon­takt zu den Schü­lern die­ses Grund­kur­ses haben?!?
Frau Hän­del: (strahlt) Ja!
Karl: Ihnen ist klar, dass eini­ge von uns Zugang zu die­ser Klau­sur hat­ten?
Frau Hän­del: (strahlt) Ja, aber schrei­ben Sie erst­mal so gut, wie die im letz­ten Jahr!

Die Schü­ler gucken ungläu­big, eini­ge lachen. Karl steht auf und ver­lässt den Klas­sen­raum.

Tor­ben: Das mein­te ich näm­lich! Ich habe die Klau­sur nicht gele­sen und jetzt haben die ande­ren einen Vor­teil.
Frau Hän­del: (mur­melt etwas in einer frem­den Spra­che)

Die Schü­ler machen sich an die Arbeit und lesen den Text.

Frau Hän­del: Nicht, dass ihr das Bild inter­pre­tiert! Den hab ich nur auf das Blatt kopiert, damit ihr weißt, wie das damals aus­sah!

Lud­wig lässt sei­nen Kopf neben dem Kreml­turm aufs Pult kra­chen, ehe er das Blatt in zwei Hälf­ten (die eine mit dem Text, die ande­re mit dem Bild) reißt. Die Tür geht auf, Karl und Herr Lin­gen betre­ten die Sze­ne.

Herr Lin­gen: Frau Hän­del, kom­men Sie mal bit­te eben raus?
Frau Hän­del: (steht auf) Ja, was ist denn?
Herr Lin­gen: (zu den Schü­lern) Kann ich mich dar­auf ver­las­sen, dass Sie hier still wei­ter­ar­bei­ten?

Die Schü­ler mur­meln ein „Ja“, Herr Lin­gen und Frau Hän­del tre­ten vor die Tür. Die Schü­ler mur­meln los.

Bert: Ist das ein fünf­he­bi­ger Jam­bus? Ist das ein fünf­he­bi­ger Jam­bus?!?
Lud­wig: Ja, halt die Klap­pe!

[Anmer­kung: hier­bei muss deut­lich wer­den, dass es sich natür­lich um kei­nen fünf­he­bi­gen Jam­bus han­delt, evtl. trägt Bert ein Affen­kos­tüm o.ä.]

Die Tür wird kurz geöff­net, die Schü­ler ver­stum­men, die Tür wird wie­der geschlos­sen. Lud­wig dreht sich begeis­tert zu Karl um und streckt ihm bei­de Dau­men ent­ge­gen. Karl sitz an sei­nem blan­ken Pult. Die Tür öff­net sich erneut, Frau Hän­del kehrt etwas wack­lig zu ihrem Pult zurück, Herr Lin­gen wen­det sich an die Klas­se.

Herr Lin­gen: Also, Sie müs­sen jetzt über das The­ma schrei­ben, Sie kön­nen dann nach­her Ein­spruch ein­le­gen! (ab)

Karl, Lud­wig und eini­ge ande­re Schü­ler schüt­teln den Kopf. Frau Hän­del sagt kein Wort.

Lesen Sie nächs­te Woche: Mei­nen Dra­men­zy­klus „Sturm­frei“ (bestehend aus „Türen“, „Sitz­grup­pe“ und „Türen 2“), sowie mei­ne „Ämter“-Trilogie (bestehend aus dem Sing­spiel „Kreis­wehr­ersatz­amt“, dem klas­si­schen Dra­ma „Finanz­amt“ und dem absur­den Frag­ment „Arbeits­amt“).

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Das blinde Redaktionshuhn der „Süddeutschen Zeitung“

Dass ich das noch erle­ben darf: Die „Süd­deut­sche Zei­tung“ (oder wenigs­tens deren Maga­zin) haut eine Bil­der­ga­le­rie raus, die sogar mal sinn­voll und unter­halt­sam ist. Recht­zei­tig zur Frank­fur­ter Buch­mes­se wird dem lite­ra­tur­in­ter­es­sier­ten Zei­tungs­le­ser eine Hil­fe an die Hand gege­ben, um ver­schie­de­ne, viel zu oft ver­wech­sel­te Autoren aus­ein­an­der­hal­ten zu kön­nen: z.B. Ben­ja­min Lebert und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re; Jona­than Fran­zen, Jona­than Safran Foer und Jona­than Lethem; Mar­tin Wal­ser und Robert Wal­ser.

[via mei­ne Mut­ter, mal wie­der]