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Literatur

Sex, Lügen und Video

In den letzten Tagen habe ich meine halbe peer group zugeballert mit der Frage, ob sie ES denn schon gelesen hätten — um dann jeweils nachzuschieben, dass mit „ES“ nicht der so betitelte Roman von Stephen King gemeint sei, sondern das mit vielen überraschenden Großschreibungen durchzogene neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre (wobei es eigentlich in beiden um extrem gruselige Clowns geht).

„Noch wach?“ ist die Geschichte dreier Männer – ein Ich-Erzähler; ein mächtiger Medienmanager, der immer nur als „mein Freund“ vorgestellt wird; ein Chefredakteur in dessen Konzern, der jede Menge Affären mit ihm untergeordneten jungen Frauen unterhält -, und einigen dieser Frauen, die als einzige Charaktere Namen haben. Mehr oder weniger zufällig gerät der Erzähler in diesen Sumpf aus Machtmissbrauch, Männerkumpelei und politischer Radikalisierung. Eine #MeToo-Geschichte, die traurigerweise überall spielen könnte, im Text aber in einem Berliner Krawall-Fernsehsender, weswegen sich jetzt alle fragen, ob damit nicht eigentlich ein sehr konkretes Verlagshaus gemeint sein müsste.

Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“

Es ist schon amüsant, wenn auch auf Dauer deprimierend, zu sehen, wie das versammelte Feuilleton-Personal das Literaturgrundstudium in den Wind schießt und wie von Sinnen Autor und Erzähler, Fiktion und Realität (oder doch Wirklichkeit?) durcheinanderwirft und die ganze Zeit (und schon vor Veröffentlichung) einen „Schlüsselroman“ herbeisehnt. Da möchte man irgendwann nur noch rufen: Kinder, Schlüssel sind hier echt nicht das Problem, sondern Tassen und Latten. Im Schrank und … naja, lassen wir das.

Der unbedingte Wille zur Dechiffrierung ist sensationslüstern und ungerecht gegenüber dem Autoren, denn das Buch ist eben vor allem wahnsinnig gut geschrieben. Stuckrad-Barre kann, das beweist er jetzt auch schon seit über 25 Jahren, in Situationen das Wesentliche erfassen (was ja selten das ist, worüber alle reden würden) und beschreiben.

Damit macht „Noch wach?“ die ganze Drumherum-Berichterstattung absolut überflüssig. Es ist, gerade weil es sich immer wieder lustig macht über absolute Urteile und definitive Einschätzungen, ein beinahe komplettes Abbild der mittleren 10er bis frühen 20er Jahre. Ein etwas zu früh erschienenes Kompendium für nachgeborene Generationen, in dem die später noch mal nachgucken können, was für einen Quatsch es damals (also: heute, wenn auch nicht mehr zwingend nächstes Jahr) so gab: Twitter, Fox News, Elektroroller, Wirecard und die FDP.

Der leibhaftige Elon Musk hat einen Cameo-Auftritt und wird dabei von Stuckrad-Barre derart gut beschrieben, dass irgendwelche Biographien hernach überflüssig sind (was sie natürlich eh sind, denn Elon Musk ist – wie die allermeisten Männer in diesem Buch – ein absoluter Loser, dessen relative Wichtigkeit sich objektiv nicht erklären lässt, was diese ganzen Männer und ihre jeweiligen Erfolge um so erschütternder macht). Sprachlich legt der Autor eine brutale Präzision an den Tag; lauter finale Rettungsschüsse mit der abgesägten Schrotflinte. Die Silicon-Valley-Hörigkeit alternder deutscher Manager wird genauso abgehakt wie die mit ihr einhergehenden „new work“-Immobilien — und wenn man tatsächlich jemals zu Architektur tanzen konnte, dann in der Form, wie Stuckrad-Barre diese absurden „The Circle“-Konzernzentralen beschreibt. Ihre „Philosophie“: Arbeit soll sich anfühlen wie Freizeit — aber eben auch umgekehrt. Und das passt dann natürlich wieder sehr gut zur Verknüpfung von Dienstlichem und Privatem auf ganz anderer Ebene.

Eigentlich erzählt der Roman auch mindestens zwei Geschichten: Die von diesem ganzen Machtmissbrauch-Elend und die eines Vaterlosen, der viel zu lange an seinem väterlichen Freund festhält, während dieser viel zu lange an seinem leitenden Angestellten festhält. Die eine überlagert die andere zurecht, weil sie die größeren Ungeheuerlichkeiten enthält, aber irgendwann lohnt es sich vielleicht auch noch mal genauer hinzuschauen, wie viele junge Männer, deren Väter früher zu viel gearbeitet haben, im Laufe der Jahrzehnte ihre Karrieren in allen möglichen Branchen älteren Männern verdanken, die zwar zu wenig zuhause waren, aber wenigstens bei der Arbeit als „Mentor“ jemanden „unter ihre Fittiche nehmen“ können.

Und natürlich steht irgendwann breitbeinig die Frage im Raum, ob die Geschichte von Frauen, die sich durch ein Minenfeld von juristischen Drohungen, beruflicher Existenzangst und Retraumatisierung bewegen, denn jetzt unbedingt von einem weiteren Mann erzählt werden muss — aber auch damit setzt sich der Erzähler (aber in Interviews auch sein Autor) immer wieder auseinander. Der Erzähler sagt, dass er sich diese Rolle nicht ausgesucht habe, aber wenn einer der bekanntesten Autoren des Landes auf die ganz große Pauke haut, schlägt das eben höhere Wellen, als wenn jemand anders ein anderes Buch zum gleichen Thema geschrieben hätte. Das kann man unbedingt schlecht finden oder ungerecht, aber es ist – Stand jetzt – der Zustand unserer Aufmerksamkeitsökonomie.

Dabei ist es besonders interessant, wie fast alle Medien übersehen, dass sie und ihre Spekulations-Berichterstattung ja selbst schon im Roman vorkommen. Schwarz auf weiß, auf Seite 349:

Kurzum, ein unwiderstehliches Gossengeschwätzsujet, und das bereitete vielen die allergrößte Freude. Die Zutaten waren ja auch unschlagbar: Sex, Schönheit, lange Nächte — erst dadurch wurde das ganze eine STORY, eine Story, die jeden interessierte. Schwiemelig, doppeldeutigkeitssatt und geifertriefend geriet das Gerede und Geschreibe darüber, und das nahm leider der eigentlichen Geschichte ihre Wucht.

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Musik Literatur Gesellschaft

Tied To The 90’s

„It’s hard to explain the soft differences between life in the 2020s and life in the 1990s to any person who did not experience both of those periods as an adult“, schreibt Chuck Klosterman auf Seite 6 seines Buchs über die Neunziger und auch wenn ich das Jahrzehnt nur als Kind bzw. Teenager miterlebt habe, war ich schon mit dem gleichen Beispiel konfrontiert, das er einen Absatz später bringt: Erklärt mal einem Achtjährigen, warum man früher Musik nicht einfach bei Spotify gehört hat, sondern CDs kaufen musste!

„The Nineties“ von Chuck Klosterman (Foto: Lukas Heinser)

Anders als die albernen „Weißt Du noch?“-Paraden im deutschen Fernsehen, in denen sich irgendwelche Halb-Promis schenkelklopfend daran erinnern, dass es Songs, Trends und Ereignisse tatsächlich gegeben hat, setzt Klosterman alles in Bezug zueinander: Politik, Gesellschaft, Sport und natürlich Popkultur reflektieren bei ihm immer einander und sie reflektieren ihre Zeit, denn, auch das wird im Buch immer wieder deutlich: Man kann die Vergangenheit nicht durch die Brille der Gegenwart erklären.

Erwartbarem stellt er längst Vergessenes gegenüber; er hat sich durch zeitgenössische Medien und Studien gefressen und alles zu einem wahnsinnig guten Buch zusammengemixt, das zwar (wie er selbst sagt) keine wissenschaftliche Publikation ist, aber auch Nachgeborenen helfen dürfte, jenes Jahrzehnt zu verstehen, das zwischen Ende des Kalten Krieges und 9/11 eine Zeit relativer Ruhe darstellte und in dem die Wahrnehmung der Welt noch nicht fragmentiert war. Eine Zeit, in der „das Internet“ zwar schon existierte, aber keine bedeutende Rolle spielte, und in dem Präsidentschaftskandidaten und Nachrichtensender als vollkommen austauschbar galten.

Klosterman ist ohnehin einer meiner absoluten Lieblings-Autoren und total prägend für meine Arbeit und meinen Blick auf die Welt. „The Nineties“ wirkt, als habe jemand, der sehr viel mehr weiß als ich, ein Buch über mich geschrieben: über Nirvana und „The Matrix“, über VHS-Rekorder und die Präsidentschaft von Bill Clinton. Es ist ein Buch, bei dem ich traurig war, als es zu Ende war, und in dem ich wohnen möchte!

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Literatur

Die Feuerwehr Bochum stoppt Robert Frost im Weitmarer Holz

Wenn es geschneit hat, sollte man besser nicht in den Wald gehen — das gilt auch für gefeierte Dichter:

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Digital Literatur

Jan Böhmermanns Twitterwochen

Jan Böhmermann hat seine fernsehfreie Zeit genutzt, um ein Buch zu veröffentlichen, das er über elf Jahre geschrieben hat — nämlich in Form von Beiträgen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Ich versuche eigentlich, Böhmermann und Twitter in meinem Leben möglichst wenig Raum zu geben, aber in den letzten Tagen konnte man kaum einen toten Fisch werfen, ohne irgendeinen Artikel oder ein Interview zum Buch zu treffen.

Vergangenen Donnerstag machte Böhmermann – natürlich auf Twitter – publik, dass die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (für die ich in der Vergangenheit eine Handvoll Texte geschrieben habe) ein mit ihm geführtes und druckfertiges Interview kurzfristig aus dem Blatt genommen habe; laut Böhmermann auf „persönliche Anweisung“ von FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube.

Der Tweet machte die Runde, die Empörung war groß, auch ich habe Böhmermanns „offenen Brief“ an Kaube retweetet — und mich am nächsten Morgen geärgert, dass ich mich da wieder im ersten emotionalen Moment vor einen PR-Karren habe spannen lassen. Böhmermann hatte geschrieben: „Sowas habe ich wirklich noch nie erlebt“, aber nach ein bisschen Nachdenken fiel mir ein, dass ich selbst vor acht Jahren im BILDblog über einen Fall geschrieben hatte, der zumindest ein Stück weit vergleichbar war: Diether Dehm, Bundestagsabgeordneter der Linken und als Musiker unter anderem am Text von Klaus Lages Hit „1000 und 1 Nacht (Zoom!)“ beteiligt, hatte damals ein neues Album herausgebracht, über das sogar Bild.de einen längeren, durchaus wohlwollenden Text veröffentlicht hatte. Der Text blieb nicht lange online.

Möglicherweise hatte Erika Steinbach, damals noch CDU-Bundestagsabgeordnete, etwas damit zu tun, denn sie hatte sich öffentlichkeitswirksam auf Twitter über die „Eloge“ auf Dehm beklagt. Diether Dehm, der in der Zwischenzeit durch eine unangenehme Nähe zu Verschwörungsfreaks wie Ken Jebsen auffällig geworden ist, hatte mir damals am Telefon erzählt, ihm seien Namen „aus den Fraktionsspitzen der drei Parteien“ CDU, SPD und FDP zu Ohren gekommen, die am Wochenende in der „Bild“-Redaktion „vorstellig geworden“ sein sollen, um sich über die positive Berichterstattung über ihn und seine neue CD zu beschweren. „Bild“ wollte damals, wie so oft, nicht auf unsere Fragen antworten.

Doch zurück zu Jan Böhmermann und seinem Twitter-Buch, das ich nicht gelesen habe und auch nicht lesen möchte, weil ich Böhmermanns Auftreten – gerade auf Twitter – wahnsinnig anstrengend finde. Nichts gegen ein bisschen Widersprüchlichkeit bei einer öffentlichen Persona, aber dieses Oszillieren zwischen Oberstufen-Sarkasmus, ernsthafter Empörung über gesellschaftliche Missstände und nur notdürftig ironisch gebrochener Eitelkeit ist mir ein bisschen zu viel.

Eine Freundin hat mir aber einen Ausschnitt aus dem Buch geschickt — aus einigermaßen naheliegenden Gründen:

USFO (Unser Star für Oslo): Ich bin für die Dunkelhaarige (Lena Meyer-Landrut).

Das Ding ist: Das ist Quatsch.

Der „Witz“ an diesem Tweet war ja, dass im Finale von „Unser Star für Oslo“, dem deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest 2010, zwei dunkelhaarige Frauen gegeneinander antraten: Lena Meyer-Landrut, die die Sendung und schließlich auch den ESC in Oslo gewann, und Jennifer Braun, deren Song „I Care For You“ anschließend noch ein bisschen Radio-Airplay abbekam (und bei dem ich mir wirklich nicht sicher bin, ob ich ihn jemals wiedererkannt hätte).

Natürlich kann es sein, dass Jan Böhmermann, als er den Tweet für sein Buch auswählte und mit Anmerkungen versah, sich einfach nicht mehr daran erinnerte, dass an jenem Abend zwei dunkelhaarige Frauen auf der TV-Bühne gestanden hatten und sein Tweet also durchaus in jenem Moment auch eine Spur von Humor enthalten hatte. Das wäre allerdings ein bemerkenswerter Zufall, wenn man sich das durchaus angespannte Verhältnis zwischen ihm und Lena Meyer-Landrut vor Augen hält.

Und dann war da ja noch meine ganz persönliche Twitter-Begegnung mit Jan Böhmermann:

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Literatur Digital Gesellschaft

Bist Du noch wach? — 2. Kannst Du gut mit Lob umgehen?

In der zweiten Folge sprechen Sue und Lukas unter anderem über Bücher, die ihr Leben nachhaltig verändert haben — was naheliegenderweise zu einer Diskussion über problematische Songs von Adele und Bruce Springsteen führt.

Es geht um Netz-Bekanntschaften, die Frage, warum Lukas nicht existiert, und um Leben und Tod. Dafür sprechen wir nicht über Dinge, bei denen man einfach wortlos gehen darf, wenn sie jemand anders sagt.

Wenn Ihr uns schreiben wollt (zum Beispiel, weil Ihr eigene Fragen habt). könnt Ihr das jetzt unter bistdunochwach@coffeeandtv.de tun!

Shownotes:

Lukas’ Bücher:

  • Douglas Adams: „Per Anhalter durch die Galaxis“
  • Hellmuth Karasek: „Billy Wilder — Eine Nahaufnahme“
  • Johann Wolfgang Goethe: „Die Leiden des jungen Werthers“
  • John Green: „The Fault in our Stars“ („Das Schicksal ist ein mieser Verräter“)
  • Wolfgang Herrndorf: „Tschick“
  • Benjamin von Stuckrad-Barre: „Remix“

Sues Bücher:

  • Nick Hornby: „High Fidelity“
  • Gary Keller: „The One Thing“
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Musik Literatur

And through it all

Früher waren Leute berühmt, weil sie etwas (z.B. malen, singen, schreiben, Kriege gewinnen) besonders gut konnten. Heute sind sie berühmt, weil sie das Eine gut konnten und jetzt etwas ganz anderes machen (z.B. Fernsehköche, Lena Meyer-Landrut, Donald Trump — wobei: was kann der schon?). Benjamin von Stuckrad-Barre war vor fast 20 Jahren der gefeierte Jung- bzw. Popliterat (“Popjungliterat” ging wohl irgendwie nicht), vor zwei Jahren der geläuterte Held seiner Autobiographie und ist jetzt binnen weniger Monate zum König von Instagram geworden. Gut: Über 18.000 Follower lachen echte Influencer natürlich, aber was er da in kurzer Zeit für eine (uh, ah) Community aufgebaut hat, ist schon beeindruckend. Erwachsene Leute, die sich weigern würden, einer Partei oder auch nur einem Sportverein beizutreten, filmen sich dabei, wie sie den (wirklich extrem catchygen) Titel seines neuen Buchs in die Kamera sagen: “Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen — Remix 3”.

Und so ist dieser Abend hier in der Bochumer Zeche ein bisschen wie die “Glow” im Kleinen. Für Leute, die mehr Bücher als Makeup zuhause haben. Erstmal den Backdrop (auf dem dann doch nur Platz für “Remix 3” war) bei Insta posten! In der Reihe hinter mir sagen Männer den Satz, den Männer im Jahr 2018 so sagen, wenn sie das mit der Rockstar-Karriere wirklich aufgegeben haben und die E-Gitarren als Deko im Pinterest-Wohnzimmer verstauben: “Lass mal ‘nen Podcast zusammen machen!”

Um kurz nach Acht geht das Saallicht aus, ein popkulturelles Maximal-Mashup erklingt und dann, als Aufmarschmusik: “The Heavy Entertainment Show” von Robbie Williams. Das lief aber beim letzten Mal vor zwei Jahren auch schon! Der Popliterat ist von Anfang an voll da und muss erstmal umständlich eine Noel-Gallagher-Fahne am Tisch befestigen (“Es ist halt schon einfacher, wenn man Joko und Klaas ist!”). Die hat er beim Konzert in Hamburg gekauft, von dem er ausführlich via Instagram-Story berichtet hatte — und ich lag im Bett, sah das auf meinem iPhone und fühlte mich ein bisschen, als wäre ich selbst dabei gewesen.

Das Wort “Lesung” hat es bei Stuckrad-Barre noch nie so richtig getroffen, fast wichtiger als die Texte ist das Drumherum, das Rumhibbeln und das Abschweifen. Als er dann trotzdem liest, steigt er direkt mit dem stärksten Text des Buches ein, einem Porträt über Jürgen Fliege, das ich schon bei Erstveröffentlichung in der “Welt” gelesen und gefeiert, danach aber für sechseinhalb Jahre vergessen hatte. Es ist ein Text der Sorte “Unsagbar gut, muss ich jetzt täglich drei Mal lesen, um mir zu merken, wie man eigentlich schreibt!”

Überhaupt: “Remix” (das eine wilde Sammlung von zuvor veröffentlichten Texten enthielt und damals gegen den ausdrücklichen Wunsch des Autors nicht “Remix 1” hieß) war im Sommer vor 18 Jahren das Buch, bei dem es bei mir “Klick” gemacht hat, und nach dem ich angefangen habe, eigene, sehr meinungsfreudige Texte zu schreiben und ins Internet zu stellen (wo sie hoffentlich weniger Leser*innen hatten als ich heute Follower auf Instagram). An “Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft: Remix 2” kann ich mich kaum erinnern (und dem Autor geht es da vermutlich genauso), die Brillanz kam dann erst wieder mit “Auch Deutsche unter den Opfern” zum Vorschein.

All diesen Büchern ist gemein, dass es sich um Textsammlungen handelt, die Themen und vor allem die Qualität also etwas schwanken. Nach dem grandiosen Besuch beim TV-Pfarrer folgt also in der Live-Darbietung ein Text darüber, wie sich Stuckrad und seine Freundin Partnertattoos stechen lassen, weil sie so verliebt sind. Das ist im Buch schon einer der schwächsten Texte (die Faustregel, wonach glückliche Künstler keine gute Kunst erschaffen können, hat leider weiterhin Bestand), wird in der Gegenwart aber auch nur bedingt dadurch aufgewertet, dass Beziehung und Tattoos inzwischen schon wieder Geschichte sind.

Zur Auflockerung sollen danach alle, die auch bei Instagram sind, auf die Bühne, damit er uns fotografieren und hinterher taggen kann. Wir kommen der Aufforderung brav nach, in diesem Moment ist völlig unklar, ob das hier die Gründungsveranstaltung einer neuen Sekte ist und wie viel das noch (wenn überhaupt) mit Ironie zu tun hat. Wir stellen uns also zum ersten Klassenfoto seit 15, 20 Jahren auf und nachdem wir endlich richtig stehen und Stuckrad-Barre sein Foto gemacht hat, bedankt er sich so überschwänglich, dass langsam klar wird: der meint das ernst. Er macht sich ständig über diesen Instagram-Kram und seine Rolle darin lustig, aber er genießt es wirklich, diese Stimmung in die echte Welt zu holen: “Auf Instagram gibt’s keine Nazis, da gibt’s nur Herzen!” Hach.

Die Idee, im Frühjahr 2018 einen Text über die Fußball-WM 2010 zu lesen, ist dann geradezu absurd, aber drumherum kommen wieder so viele Ausschweifungen, dass Jogi Löws babyblauer Babykashmir-Pullovera jetzt wirklich kaum noch was zur Sache tut. Dafür gibt es Geschichten aus dem Chateau Marmont, “in dem ich aus Image-Gründen lebe — zumindest so lange, bis die ganze Kohle aufgebraucht ist und ich wieder auf Lesereise gehen muss”, und eine Diskussion mit einer Zuschauerin über Tocotronic (inkl. Hörprobe und Ausführungen darüber, dass man als Fan die Schuld für das Nicht-mehr-Verstehen eines Idols bei sich selbst suchen sollte). Als Zugabe, für die er aber gar nicht erst von der Bühne geht, dann den wiederum sehr guten Text über ein Madonna-Konzert, bei dem das mit dem ständigen “Remix” jetzt endlich mal Sinn ergibt (oder so ähnlich), weil Stuckrad den Namen “Madonna” (beinahe) konsequent durch “Bettina Böttinger” ersetzt.

Ein Lied habe er noch für uns, sagt er schließlich und aus der augenzwinkernden Popkulturreferenz wird plötzlich Ernst, denn vom Band (sagt man noch “Band”?) läuft jetzt plötzlich eine Live-Version von Robbie Williams’ “Angels” und der Popliterat wird zum Sänger (und das nicht mal schlecht):

Das ist nun plötzlich no surface, all feeling: Anders als niedere Unterhaltungskünstler wie Jan Böhmermann es vielleicht machen würden, ist das hier keine Pose mit Fluchtmöglichkeit auf die Ironie-Ebene. Benjamin von Stuckrad-Barre meint das hier alles völlig ernst: Er singt ein Lied, das er liebt, und ist umgeben von Menschen, die sich freuen, hier zu sein. Um das jetzt doof zu finden, muss man entweder sehr kaltherzig sein oder mit Popkultur so gar nichts anfangen können (was aufs Selbe rauskommt).

Am Bücherstand dürfen wir uns alle selber auf dem Gruppenfoto markieren, der Autor signiert und posiert lange für Fotos, die natürlich alle auf Instagram landen. Falls es so etwas gibt, fühlt es sich an wie die denkbar positivste Version eines Klassentreffens. Auch wenn wir da alle natürlich eigentlich nie hingehen würden.

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Literatur

Hinter dem Horizont geht’s weiter

“lit.COLOGNE zählt nicht: Da ist überall ausverkauft!”

Ist das Koketterie, Understatement oder echter Selbstzweifel? Bei Benjamin von Stuckrad-Barre weiß man ja nie. Vermutlich hätten die Mitarbeiter vom Verlag und vom WDR alleine den Sendesaal (“Ist das eigentlich der große?”) vollgemacht, aber es gibt wohl auch genug zahlende Gäste und auch noch genug zahlungswillige, für die dann aber leider echt kein Platz mehr ist. Quasi-Heimspiel, Comeback, jetzt aber wirklich!

Stuckrad-Barre hat, das war in den letzten Tagen vielleicht gelegentlich mal in den Feuilletons und Kultursendungen angeklungen, ein neues Buch geschrieben, das “Panikherz” heißt, von ihm selbst konsequent als “Memoir” bezeichnet wird und eine Bestandsaufnahme der ersten vierzig Jahre Leben ist, die auch Stoff für achtzig Jahre geboten hätten. Jetzt sind’s eben 564 Seiten geworden.

Im ersten Kapitel, das hier heute Abend live vorgelesen wird, geht es um die Zeit in der Redaktion der kurzlebigen ARD-Sendung “Privatfernsehen” mit Friedrich Küppersbusch. Das ist insofern lustig, weil Friedrich selbst auf der Bühne sitzt und vorliest, was da über ihn, Küppersbusch, in der dritten Person geschrieben steht. Ich habe mehr als 15 Jahre später in der Redaktion seiner (von vornherein als kurzlebig geplanten) WDR-Sendung “Tagesschaum” gearbeitet und neben mir sitzt der Redaktionsleiter beider Sendungen und ich versuche, alle seine Reaktionen zu deuten. Hallo, Hermeneutik!

Es geht dann aber recht schnell auch um das, was “Panikherz” für die etwas boulevardesker eingestellten Journalisten interessant macht: um Drogen, Abstürze und Selbstzweifel. In einer langen, aber grandiosen Passage erklärt Stuckrad-Barre, warum er unter keinen Umständen zu seinem 20-jährigen Abitreffen gehen konnte — dass jeder seinen Aufstieg und Fall, wenn schon nicht live medial miterlebt, in der Wikipedia nachlesen kann, spielt dabei keine Rolle, er findet genug andere Gründe.

In den vorgelesenen Kapiteln sind Selbstzweifel und Maximalabstürze mitunter schon auf Pointe gebürstet, das hilft hier natürlich, denn über zwei Stunden Elendsbeichte wären dann – lit.COLOGNE hin oder her – vielleicht doch ein bisschen zu viel. Kann man ja dann zuhause noch mal nachlesen und feststellen, dass es eigentlich gar nicht lustig ist. Und ohne Stuckrads Udo-Lindenberg-Imitationen (es geht in dem Buch viel um Udo Lindenberg, den Helden seit Kindheitstagen und Retter in den dunkelsten Stunden) fehlt bei der Lektüre im Lehnstuhl dann auch was.

Zwischendurch denke ich: Da sitzen jetzt echt der Mann, dessentwegen ich schon als Kind zum Fernsehen wollte, und mit dem ich heute ab und zu Podcasts produziere, und der Mann, dessentwegen ich als Teenager mit dem Schreiben angefangen habe, auf einer Bühne und lesen aus einem Buch, das zwar eigentlich eine Autobiographie – Verzeihung: ein Memoir! – ist, das aber auch super als Atlas der Popkultur der letzten 20 Jahre taugt. Tell me more, tell me more!

Zwischen dem Auftritt mit Rockstargeste zu “Suburbia” von – natürlich! – den Pet Shop Boys und der Verabschiedung mit völlig aufrichtig wirkender Dankbarkeit liegen viele Seiten des Buches und einiges an Geplänkel zwischen den beiden Vortragenden. Wer alles deuten und interpretieren will, sieht das gealterte ADHS-Kind während dieser Zeit sicherer – und damit weniger albern – werden. Wer bei der langen Umarmung, bevor Friedrich Benjamin die Bühne zur Zugabe überlässt, nicht schlucken muss, hat ein frittiertes Herz.

Benjamin von Stuckrad-Barre ist wieder da und es sieht aus, als plane er zu bleiben. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte: ich hab noch über 400 Seiten vor mir.

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Literatur Digital

Geliefert, (fast) wie bestellt

Vor rund zwei Monaten hatte ich mir hier im Blog gewünscht, Amazon würde – analog zum neuen “Auto Rip”-Angebot, bei dem man die Musik frisch bestellter CDs direkt als MP3s herunterladen kann – auch die Texte gedruckter Bücher zusätzlich noch als Datei ausliefern.

Heute hat Amazon reagiert und “Kindle Matchbook” vorgestellt, mit dem man die digitale Fassung von Büchern herunterladen kann, die man seit 1995 bei Amazon gekauft hat.

Zunächst in den USA.
Für einen Preis zwischen 0 und 2,99 Dollar.
Falls der jeweilige Verlag mitmacht.

Aber ich finde, das ist schon mal ein ganz guter Anfang.

[via @Atmos_CH bei Twitter]

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Digital Literatur

cmd+F “Nachtigall”

Vergangene Woche hat der Internetversandhändler Amazon (bekannt für den Versand von Interneten) in Deutschland sein Angebot “AutoRip” gestartet. Die Idee dahinter: Wer bei Amazon eine CD bestellt, kann sofort die MP3-Version des Albums herunterladen, schon bevor der eigentliche Tonträger per Post zugestellt wurde.

Keine ganz neue Idee, aber auch keine schlechte: Gerade der ehemalige Computerhersteller Apple ist ja inzwischen dazu übergegangen, seine Geräte ohne CD/DVD-Laufwerke auszuliefern, so dass man die Musik gar nicht mehr ohne weiteres auf den Rechner, den MP3-Player oder das Mobiltelefon bekommt.

Ich habe noch einen richtigen Computer (also einen mit Laufwerk), weswegen “AutoRip” für mich eher einen theoretischen Nutzen hat. Mir greift das Konzept aber auch noch nicht weit genug — ich will das Gleiche für Bücher!

Ich gehe davon aus, dass ich mich niemals mit sogenannten E-Book-Readern und Tablets anfreunden werde. Dafür mag ich Bücher einfach zu sehr. Aber Bücher sind leider nicht volltextdurchsuchbar.

Zwar ist mein Gehirn ganz gut darin, sich grob zu merken, was ich wo gelesen habe — aber die Suche nach der exakten Textstelle ist häufig anstrengend und nicht selten gar erfolglos. Wie praktisch wäre es da, alle Bücher, die ich im Regal habe, auch noch mal als PDF auf der Festplatte zu haben: Ich müsste nur noch wissen, nach welchen Wörtern ich suchen muss, und könnte die entsprechende Textstelle sekundenschnell finden und die entsprechende Passage sogar direkt per Copy & Paste weiterverarbeiten! Und wenn ich nicht mehr wüsste, in welchem der vielen Bücher von Douglas Adams oder Max Goldt diese oder jene Stelle jetzt vorkam, könnte ich buchübergreifend danach suchen! Das wäre mir bei Büchern ein bis zwei zusätzliche Euro wert!

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Literatur

Bruce Banner kauft sich eine neue Hose, geht aber nicht mit mir essen

Es ist Samstagvormittag, eine halbe Autostunde außerhalb Manhattans, an einem der ersten Tage, die sich mehr nach Frühling als nach Winter anfühlen. Bruce Banner stellt sein Auto etwas zu schwungvoll auf dem Parkplatz einer Shopping Mall ab. Der renommierte Nuklearphysiker fliegt morgen zu einer Konferenz nach Kapstadt und muss vorher noch ein paar Bersorgungen machen. Vor allem braucht er eine neue Smoking-Hose: Die letzte sei ihm bei einem bedauerlichen Zwischenfall gerissen, erklärt der groß gewachsene Wissenschaftler mit einem entschuldigenden Schulterzucken.

Banner betritt das Einkaufszentrum durch einen Seiteneingang. Eigentlich möge er solche Orte nicht, sagt er, während er sich ein wenig hilflos umsieht: “Zu viele Menschen, zu viel Hektik!” In der Innenstadt sei es aber noch anstrengender, einzukaufen: “Zu viele Touristen!”

Nach einem skeptischen Blick auf einen Lageplan weiß Banner zumindest, wo er hin muss: Das Geschäft von Brooks Brothers befindet sich im ersten Stock der Mall, etwa 400 Meter nach Süden. “Das sollte zu schaffen sein”, murmelt er und zieht sein Schritttempo etwas an. Wir schaffen es etwa 30 Meter weit, dann erreichen wir die Rolltreppen. Oder genauer: Wir erreichen sie erst mal nicht. Vor uns steht ein junges Pärchen in Multifunktionsjacken, das offenkundig unentschlossen ist, ob es die Rolltreppe nehmen soll oder nicht. Die Frau sagt mit leicht patzigem Unterton, sie wolle jetzt aber “da ho-hoch”, der Mann erweckt den Eindruck, als ob er das Einkaufszentrum am Liebsten fluchtartig verlassen wolle, die möglichen Auswirkungen auf die weitere Wochenendplanung ihn aber noch davon abhalten. Sekunden verstreichen, die sich wie Stunden anfühlen, dann treten die beiden erst einmal zur Seite. Ein Rentnerehepaar drängelt sich an uns vorbei, wir besteigen nach ihnen die Rolltreppe.

“Menschen sind die einzigen Lebewesen, die sich künstliche Umgebungen geschaffen haben, in denen sie sich so unwohl fühlen können wie Tiere, die von ihren Fressfeinden in die Enge getrieben werden”, beginnt Banner zu dozieren, muss dann aber abbrechen, weil die Rentner am Ende der Rolltreppe unvermittelt stehengeblieben sind und wir auf sie auffahren wie Fertigungsgüter in einer Fabrik, deren Produktionsablauf empfindlich gestört wurde. Banner flucht leise und drängelt sich zwischen Rentnerweibchen und -männchen hindurch.

Die nächsten Meter legt der aus Talkshows bekannte Forscher strammen Schrittes zurück, wobei er gelegentlich stehenden oder entgegenkommenden Konsumenten ausweichen muss. Er erledigt dies mit leicht tänzelnden Bewegungen, die bei einem Mann seiner Statur ein wenig fehl am Platze wirken, aber auf eine große Erfahrung schließen lassen. Fast drohe ich, den Anschluss zu verlieren.

Wortlos erreichen wir die Brooks-Brothers-Filiale. Hier ist es bedeutend ruhiger als in den großen Wandelgängen der Mall, das Licht ist gedämpft und auch die Temperatur liegt ein paar grad unter der im Einkaufszentrum. Außer uns ist nur ein einziger weiterer Kunde da, der aber die Aufmerksamkeit beider Verkäufer (ein Gentleman mit grauen, zurück gegelten Locken und eine hübsche Frau Anfang dreißig im Kostüm) zu binden scheint: “Auf dem Weg hierhin hab ich ‘nen Klassenkameraden getroffen”, berichtet der Mann, der bestimmt schon achtzig ist, im Zungenschlag des nördlichen New Jersey. “Also: ehemaligen Klassenkameraden. William Fairbanks. Draußen auf dem Parkplatz. Bestimmt vierzig Jahre nicht gesehen, aber gleich wiedererkannt.” Beide Verkäufer nicken höflich und ich merke, wie Bruce Banner neben mir laut durchschnauft.

“Entschuldigung”, sagt er und hebt zaghaft den rechten Zeigefinger. “Ich brauche eine Smoking-Hose!” Die Verkäuferin blickt ihn an, macht eine entschuldigende Geste gegenüber dem alten Mann und kommt zu uns herüber geschwebt. “Verzeihung”, sagt sie, wiegt ihren Kopf leicht zur Seite und blickt uns mit einem erwartungsfrohen Lächeln an. “Eine Smoking-Hose”, wiederholt Banner, eine Spur zu barsch für die hier vorherrschende Atmosphäre. Ob er wisse, aus welcher Kollektion diese seien soll, fragt ihn die junge Frau ohne ein Anzeichen von Kränkung und führt Dr. Banner mit einer fließenden Bewegung in den hinteren Bereich des Ladenlokals. Ich bleibe vorne zurück, studiere die Inneneinrichtung und lausche noch ein wenig den Ausführungen des alten Mannes.

Nach zehn Minuten kommt Banner zurück, die neue Hose bereits bezahlt und in einer papierenen Tasche verstaut. “Eine Bundgröße mehr als beim letzten Mal”, brummelt er etwas ungehalten. “Schon wieder zugenommen!” Wir verlassen das Geschäft und sind kurz von der Atmosphäre im Inneren der Shopping Mall überwältigt: Der Strom der Menschen scheint noch dichter geworden zu sein, das Gekreische der Kinder (und vereinzelter Ehefrauen) noch eine Spur schriller. Dem frisch neu eingekleideten Wissenschaftler entfährt ein leises Schnauben. “Lassen Sie uns zusehen, dass wir hier schnell rauskommen”, raunzt er mir zu, dann läuft ein kleines Mädchen gegen sein Bein und fällt auf ihren Hintern. Sie blickt sich kurz um, dann fängt sie an zu weinen. Banner seufzt, als eine leicht hysterisch wirkende Blondine, Sorte Trailer-Park-Schönheit, auf uns zustürzt.

“Was haben Sie meiner Tochter getan”, herrscht sie Banner in einer raspelnden Tonlage an. “Nichts”, murmelt Banner und lässt die Schultern hängen. “Wenn’s nichts wäre, würde sie ja wohl kaum heulen”, argumentiert die Frau und bückt sich, um ihre Tochter auf den Arm zu nehmen. “Was hat der böse Onkel gemacht, Janatha-Fay”, fragt sie das vielleicht dreijährige Kind, in dessen Ohrläppchen ich kleine Erdbeerohrstecker entdecke.

Das Wortgefecht geht noch ein wenig weiter, wobei Dr. Banner seine zunächst etwas defensive Haltung schnell aufgibt und die Frau schließlich anschreit, sie solle sich “mit ihrem verdammten Mistblag” gefälligst “verpissen”. Das entspannt die Situation nicht wirklich, sorgt aber dafür, dass die ohnehin schon sehr langsam laufenden Kunden um uns herum nun schlicht stehen bleiben. Wir müssen uns durch eine Traube von Menschen kämpfen, von denen einige Banner kopfschüttelnd hinterherschauen.

“Kommen Sie hier lang”, sagt Banner zu mir und öffnet eine Tür, auf der “Notausgang” steht. “Ich muss dringend eine rauchen!” Während drinnen eine Alarmsirene losheult, stehen wir auf einem Gittergang und sehen uns um. Der Weg führt an der Außenwand des Einkaufszentrums entlang, in 50 Metern führt eine Metalltreppe nach unten. Am Horizont zeichnet sich die Skyline Manhattans ab. Dr. Banner klopft seine Jackentaschen ab, dann entfährt ihm ein Fluch: “Scheiße! Die Kippen sind im Auto!” Er macht Geräusche wie ein Vulkan kurz vor der Eruption, dann stapft er langsam in Richtung der Treppe.

Wir erreichen Banners Auto im Laufschritt, wobei wir auf dem Weg dorthin fast noch von einem SUV überfahren worden wären — ein Zwischenfall, den der renommierte Forscher mit Worten und Gesten kommentierte, die an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden sollen. Der Schweiß steht uns beiden auf der Stirn, auf Banners Kopf sind aber auch die Adern deutlich hervorgetreten. Er öffnet die Beifahrertür, schleudert die Tasche mit der Smoking-Hose (250 Dollar) auf die Rückbank und holt eine Packung Zigaretten aus dem Handschuhfach. Dann schlägt er die Tür wieder zu.

Banner steckt sich eine Zigarette (“Marlboro Red”) in den Mundwinkel und hält mir die offene Schachtel hin, doch ich lehne dankend ab. Er wühlt in seinen Hosentaschen und holt ein Sturmfeuerzeug hervor, das er mit einer lässigen Bewegung aufklappen lässt. Er betätigt das Reibrad mit dem rechten Daumen, aber nichts passiert. “Scheißdinger”, brüllt Banner, “immer ist der verfickte Tank leer!” Er schleudert das Feuerzeug mit einer ausladenden Bewegung von oberhalb seines Kopfes auf den Asphalt und tritt es mit dem Fuß weg. Das Feuerzeug fliegt ein paar Meter durch die Luft und zersplittert die Scheibe eines parkenden Mercedes, dessen Alarmanlage los kreischt.

“Zahlt die Versicherung”, bellt Banner, dessen Gesichtsfarbe auf mich inzwischen einen ungesunden Eindruck macht. Womöglich ist die Forscherlegende unterzuckert. Doch bevor ich ihm anbieten kann, eine Kleinigkeit zum Mittag zu essen, hat Banner schon wieder die Beifahrertür auf- und in diesem Fall auch: aus den Angeln gerissen. Er schwingt sich auf den Beifahrersitz und fuchtelt an der Mittelkonsole herum. Vorsichtig nähere ich mich seinem Auto und beobachte, wie er den Zigarettenanzünder fast aus der Innenausstattung herausreißt. Doch sein Griff scheint nicht fest genug: Für einen Moment wirkt es, als wolle Banner mit dem Zigarettenanzünder jonglieren, dann fällt ihm das Teil mit der glühenden Spirale voran auf den Schoß. Ich höre einen lauten Schrei — und das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ein paar Autos durch die Luft fliegen.

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Woanders is’ auch scheiße

Wenn ich Menschen aus dem Ausland erklären soll, wo ich herkomme, höre ich mich immer noch viel zu oft mit “near Cologne” antworten. Bei den meisten Amerikanern kann man ja froh sein, wenn sie davon mal gehört haben. Briten hingegen kennen, so sie denn minimal fußballinteressiert sind, natürlich Dortmund und Schalke, manchmal sogar Bochum. Die “Ruhr Area” allerdings ist eher was für Leute, die im Erdkundeunterricht gut aufgepasst haben, aber so würden eh nur die Wenigsten über ihre Heimat sprechen.

Bergbaumuseum Bochum

Das Verhältnis der “Ruhris” zum Ruhrgebiet ist ein zutiefst ambivalentes: Eine unheilvolle Mischung aus Lokalpatriotismus und Selbstverachtung, aus Stolz und Skepsis, Traditionsbewusstsein und Wurzellosigkeit führt dazu, dass sich im fünftgrößten Ballungsraum Europas niemand zuhause fühlt. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht erst ganz langsam, Jahrzehnte nach der Blütezeit der Ruhrindustrie und auch recht widerwillig.

Konrad Lischka und Frank Patalong stammen auch aus dem Ruhrgebiet. Lischka ist 32 und in Essen aufgewachsen, Ptalaong 48 und aus Duisburg-Walsum. Heute arbeiten beide bei “Spiegel Online” in Hamburg, aber sie haben ein Buch geschrieben über die “wunderbare Welt des Ruhrpotts”: “Dat Schönste am Wein is dat Pilsken danach”.

Der Altersunterschied der beiden und ihre unterschiedliche Herkunft (Lischka kam mit seinen Eltern aus Polen ins Ruhrgebiet, Patalong ist Kind einer Arbeiterfamilie) machen den besonderen Reiz des Buches aus, denn ihre Hintergründe sind gerade unterschiedlich genug, um fast das ganze Ruhrgebiet an sich zu charakterisieren. Lischka ist (wie ich auch) ohne nennenswerte Schwerindustrie vor Augen aufgewachsen, bei Patalong konnte man die Wäsche traditionell nicht draußen trocknen lassen, weil sie dann schwarz geworden wäre. Sie beschreiben eine Region, die binnen kürzester Zeit von Menschen aus halb Europa besiedelt wurde, die jetzt alle in ihren eilig hochgezogenen Siedlungen hocken und feststellen, dass die Goldgräberzeit lange vorbei ist. Für die meisten endet die Welt immer noch an der Stadtteilgrenze, wofür Lischka das wunderschöne Wort “Lokalstpatriotismus” ersonnen hat. Entschuldigung, ich komm aus Eppinghoven, was soll ich da mit jemandem aus Hiesfeld? ((Beides sind Stadtteile von Dinslaken, was schon in Köln keiner mehr kennt.))

Das Buch ist geprägt von der so typischen Hassliebe der Ruhrgebietseinwohner zu ihrer … nun ja: Heimat, zusammengefasst im Ausspruch “Woanders is’ auch scheiße”. Menschen, die sich gottweißwas darauf einbilden, aus einer bestimmten Stadt zu stammen oder dort wenigstens “angekommen” zu sein, findet man vielleicht in Düsseldorf, München oder Hamburg, aber nicht im Ruhrgebiet. Wir sind nur froh, wenn man uns nicht mit Dingen wie einem “Kulturhauptstadtjahr” behelligt, und packen alle Möchtegern-Hipster mit Röhrenjeans, asymetrischem Haarschnitt und Jutebeutel in den nächsten ICE nach Berlin. Hier bitte keine Szene, hier bitte überhaupt nichts, Danke! ((Verzeihung, ich bin da etwas vom Thema abgekommen. Aber ich wohne in einem sogenannten “Szeneviertel” und werde da schnell emotional.))

Emschermündung bei Dinslaken

Ich fürchte, dass das Buch für Menschen, die keinerlei Verbindung zum Ruhrgebiet haben, deshalb in etwa so interessant ist wie eines über das Paarungsverhalten peruanischer Waldameisen. Es muss von einer völlig fremden Welt erzählen, in der Kinder auf qualmende Abraumhalden klettern, die Leute eine Art Blutpudding essen, der Panhas heißt, und in der eine Sprache gesprochen wird, die im Rest der Republik einfach als “falsches Deutsch” durchgeht.

Aber wer von hier “wech kommt”, der wird an vielen Stellen “ja, genau!” rufen — oder sich wundern, dass er die Gegend, in der er aufgewachsen ist, so ganz anders wahrgenommen hat, denn auch das ist typisch Ruhrgebiet. Frank Patalong erklärt an einer Stelle, welcher Ort im Ruhrgebiet bei ihm immer ein Gefühl von Nachhausekommen auslöst, und obwohl ich da noch nie drüber nachgedacht habe, bin ich in diesem Moment voll bei ihm: Auf der Berliner Brücke, der “Nord-Süd-Achse”, auf der die A 59 die Ruhr, den Rhein-Herne-Kanal und den Duisburger Hafen überspannt. Wenn wir früher aus dem Holland-Urlaub kamen, war dies der Ort, an dem wir wussten, dass wir bald wieder zuhause sind, und auch heute ist das auf dem Weg von Bochum nach Dinslaken der Punkt, wo ich meine Erwachsenenwelt des Ruhrgebiets verlasse und in die Kindheitswelt des Niederrheins zurückkehre.

Lischka und Patalong verklären nichts, sie sind mitunter für meinen Geschmack ein bisschen zu kritisch mit ihrer alten Heimat, aber dabei sprechen sie Punkte an, die mir als immer noch hier Lebendem in der Form wohl nie aufgefallen wären. Zum Beispiel das ständige Schimpfen auf “die da oben”, das bei den hiesigen Lokalpolitikern leider zu mindestens 80% berechtigt ist, das aber auch zu einer gewissen Kultur- und Intellektuellenfeindlichkeit geführt hat. Die Zeiten, in denen man sich als Arbeiterkind in seiner alten Umgebung rechtfertigen musste, weil man zur Uni ging, dürften vorbei sein, aber ein Blick in die Kommentare unter einem beliebigen Artikel beim Lokalrumpelportal “Der Westen” zeigt, dass Museen, Bibliotheken oder Theater zumindest für einige Einwohner des Ruhrgebiets immer noch “überflüssiger Schnickschnack” sind.

Graffito an der S-Bahn-Station Bochum-Ehrenfeld

Und während ich darüber nachdenke, dass die Arbeiter in Liverpool, Detroit oder New Jersey irgendwie sehr viel mehr für ihren Stolz berühmt sind und dann teilweise auch noch Bruce Springsteen haben, fällt mir auf, dass ich zumindest selbst natürlich wahnsinnig stolz bin auf diese Gegend. Ja, das, was an unseren Städten mal schön war, ist seit Weltkrieg und Wiederaufbau überwiegend weg, aber wir haben wahnsinnig viel Grün in den Städten ((Im Buch verweist Lischka auf das sogenannte “Pantoffelgrün”, ein Wort, das außer ihm und dem Pressesprecher der Stadt Dinslaken glaube ich nie jemand verwendet hat.)), ein schönes Umland und das beste Bier. Genau genommen isses hier gar nicht scheiße, sondern eigentlich nur woanders.

Und selbst wenn wir Ruhris innerlich ziemlich zerrissene Charaktere sind, die in ihren hässlichen Kleinstädten unterschiedlicher Größe stehen und gucken, wie aus den Ruinen unserer goldenen Vergangenheit irgendetwas neues entsteht: Es tut gut zu sehen, dass wir dabei nicht alleine sind. Willkommen im Pott!

Konrad Lischka & Frank Patalong – Dat Schönste am Wein is dat Pilsken danach
Bastei Lübbe, 271 Seiten
16,99 Euro.

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Literatur

Chased By A Stranger

Ich mag keine Krimis, nicht als Buch und nicht im Fernsehen. Dieses Whodunit interessiert mich null und ich kann mir ungefähr hunderttausend Dinge vorstellen, die ich an einem Sonntagabend lieber täte, als mich anderthalb klischee- und problemüberfrachteten Stunden deutschen Fernsehens auszusetzen, nur um zu erfahren, mit welch abenteuerlichen Konstruktionen die Drehbuchautoren bestätigen, dass ich tatsächlich von der ersten Minute an wusste, wer der Täter war.

Doch Romane von Thomas Glavinic versprechen immer die etwas andere Lektüre, wie etwa “Das bin doch ich”, das von einem Schriftsteller namens Thomas Glavinic handelte. “Lisa” handelt jetzt von einem Mann, der sich Tom nennt und allabendliche Webcasts abhält.

Mit seinem Sohn Alex hat sich Tom in ein Ferienhaus in einer entlegenen Bergregion zurückgezogen, weil er sich verfolgt wähnt. Verfolgt von einer Frau, die er Lisa nennt und die bestialische Morde in der halben Welt verübt hat: Menschen gehäutet, Menschen gekocht, Menschen gepfählt. Tom berichtet von diesen Morden und redet noch über sehr viel mehr, während er sich jeden Abend mit Whiskey und Koks den Schädel zuknallt — wodurch seine Schilderungen nicht gerade rationaler, glaubwürdiger oder einfach auch nur zusammenhängender wirken.

Diese Grundidee ist ja gar nicht schlecht, aber vom ganzen Setting her taugt die Geschichte besser zum Hörspiel oder zum Ein-Mann-Theaterstück als zum Roman — weswegen das von Christian Brückner eingelesene Hörbuch wahrscheinlich die empfehlenswertere Dareichungsform ist. Andererseits muss man bei einem Postmodernisten wie Glavinic natürlich auch gleich wieder vermuten, dass es volle Absicht gewesen sein könnte, das ganze Konzept medial zu brechen und absichtlich an der Umwandlung zu scheitern.

Entsprechend schwierig ist es auch, sich ein ernsthaftes Urteil über das Werk zu bilden: Unter Krimi-Geischtspunkten sind die Plot Points und Auflösungen (bzw. deren Fehlen) offensichtlich haarsträubend und enttäuschend. Aber “Lisa” ist ja kein Krimi im eigentlichen Sinne, sondern ein zugedröhnter Stream of Consciousness, der mit realen Fällen und Personen (Peter Handke und Jörg Haider kommen jeweils in einem Nebensatz schlecht weg) ebenso hantiert, wie mit der Frage, was jetzt real ist und was nicht.

Doch in diesem Spagat hat sich Glavinic verheddert, so dass “Lisa” letztlich weder auf der einen, noch auf der anderen Seite funktioniert: Krimi-Fans werden, wenn sie aus den völlig geisteskranken Morden nicht noch irgendeinen wohligen Schauer mitnehmen, von dem Buch und vor allem von seinem Ende enttäuscht sein, und Literatur-Liebhaber werden vor einem instabilen Storygerüst stehen, das nur notdürftig mit Meta-Ebenen und stilistischen Verzierungen verkleidet ist.

Und woher kommt überhaupt diese Obsession der jüngeren deutschsprachigen Schriftsteller, moderne Kommunikation gewaltsam in Romanform abbilden zu wollen? Das hat doch auch bei Daniel Kehlmann in “Ruhm” nur so mittel-gut geklappt und es zwingt sie ja (mutmaßlich) niemand dazu, wo andere Medien doch viel naheliegender erscheinen.

Thomas Glavinic – Lisa
Hanser Verlag
17,90 Euro
(Rezensionsexemplar)