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Musik Leben

18 Jahre, 18 Songs

Für Gün­ter und Jür­gen, die ich ohne die­ses Blog nie ken­nen­ge­lernt hät­te.
Und für Dör­te, die immer alles gele­sen hat.

Es war die nahe­lie­gends­te Idee der Welt: Zum 18. Geburts­tag des Blogs wäh­le ich einen Song aus jedem Jahr aus — fer­tig ist die Play­list!

Aber nach wel­chen Kri­te­ri­en? Ein­fach das Lied neh­men, das jeweils mei­ne Lis­te „Song des Jah­res“ ange­führt hat? Das wäre ja ein biss­chen lang­wei­lig — und sol­che Lis­ten gab es auch gar nicht in jedem Jahr.

Die Kaffeetasse aus dem ersten Coffee-And-TV-Logo

Also: 18 ande­re Songs. Wel­che, die ihr jewei­li­ges Jahr, aber auch die­ses Blog gut reprä­sen­tie­ren; die für mich eine per­sön­li­che Bedeu­tung haben; die ich auch heu­te noch höre. Eine halb­wegs aus­ge­wo­ge­ne Mischung aus Gen­res, Geschlech­tern und Spra­chen, also eben dann doch auch: Kon­text.

Und so wur­de aus einem klei­nen Gim­mick zum Jubi­lä­um eine aus­ufern­de Recher­che-Akti­on im eige­nen Leben ’n‘ Werk und einer der längs­ten Tex­te, der hier in den letz­ten 18 Jah­ren erschie­nen ist:

2007: Mika – Grace Kel­ly
Als die­ses Blog an den Start geht, sind Gitar­ren­mu­sik im All­ge­mei­nen und Indie­rock im Spe­zi­el­len noch ein Ding. Bei der damals noch statt­fin­den­den „Leser­wahl“ (ein Kon­strukt, das wir uns rela­tiv offen­sicht­lich von „Plat­ten­tests online“ abge­schaut haben), wird „A Weekend In The City“ von Bloc Par­ty (Wann habt Ihr zuletzt an die­se Band gedacht?) zum „Album des Jah­res“ gewählt und „Ruby“ von Kai­ser Chiefs (Oder an die­se Band?!) zum „Song des Jah­res“.

Auf mei­ner Jah­res­bes­ten­lis­te ganz vor­ne ist „Tonight I Have To Lea­ve It“ von Shout Out Louds, das ich auch ewig nicht mehr gehört habe. Und ganz ver­steckt, auf Platz 22: „Grace Kel­ly“ von Mika, ein etwas exal­tier­ter over-the-top-Pop­song mit Vau­de­ville- und Musi­cal-Anlei­hen von einem jun­gen Mann, den das Adjek­tiv „andro­gyn“ beglei­tet. (Es waren, wie gesagt, ande­re Zei­ten.) Ein Song, den mir „Plan B“, die etwas anspruchs­vol­le­re Musik­sen­dung von 1Live (ich unter­schied damals noch puber­tär zwi­schen „guter“ Indie- und „schlech­ter“ Main­stream-Musik; ande­re Zei­ten inde­ed), in die WG-Küche gebracht hat.

15 Jah­re spä­ter sit­ze ich beim Euro­vi­si­on Song Con­test in Turin in der deut­schen Kom­men­ta­to­ren­ka­bi­ne, zum neun­ten Mal als Assis­tent von Peter Urban, der wegen der aus­klin­gen­den COVID-19-Pan­de­mie von Ham­burg aus kom­men­tiert. Gelan­det war ich bei die­ser Ver­an­stal­tung über­haupt nur, weil Ste­fan Nig­ge­mei­er 2007 mei­ne Kom­men­ta­re in sei­nem Blog gele­sen und mich gefragt hat­te, ob ich mit ihm einen „Grand-Prix-Füh­rer“ schrei­ben wür­de. Der Rest ist Geschich­te, bzw. BILD­blog, Oslog, Dus­log, Baku­b­log, besag­ter Job als Kom­men­ta­to­ren-Assis­tent und mein Buch. Und die­ser Mika mit sei­nem Song über Grace Kel­ly (bzw. dar­über, wie man sich anpasst, um den Men­schen zu gefal­len) mode­riert da jetzt die­se Ver­an­stal­tung gemein­sam mit Lau­ra Pausi­ni und Ales­san­dro Cat­tel­an, er bringt inter­na­tio­na­len Gla­mour in eine (vor allem hin­ter den Kulis­sen) eher chao­ti­sche TV-Sen­dung und er singt ein Med­ley sei­ner Hits.

Es ist ein selt­sa­mer, rüh­ren­der full-cir­cle-Moment, der die größ­te Musik­show der Welt mit mei­ner alten WG-Küche und allem dazwi­schen kurz­schließt, und in einem Anfall von Geis­tes­ge­gen­wart und emo­tio­na­ler Über­for­de­rung schrei­be ich auf jener Social-Media-Platt­form, die damals noch Twit­ter heißt: „Es ist schön, an das Jahr 2007 erin­nert zu wer­den. Es ist noch schö­ner, dass in mei­nem Leben heu­te unge­fähr alles bes­ser ist als damals.“ Oder, mit Mikas Wor­ten: „Ca-ching!
[Songs 2007 von damals]

2008: The Hold Ste­ady – Con­s­truc­ti­ve Sum­mer
Die Leser*innen, die ich damals noch „Leser“ nen­ne, wäh­len „Sex On Fire“ von Kings Of Leon zum Song und „Heu­re­ka“ von Tom­te zum Album des Jah­res. Ich samm­le die wich­tigs­ten Nazi-Ver­glei­che (eine Kate­go­rie, der damals noch ein gewis­ser Unter­hal­tungs­fak­tor anzu­haf­ten scheint) und Barack-Oba­ma-Refe­ren­zen und arbei­te den Rest der Zeit fürs BILD­blog.

Mei­ne wich­tigs­te Quel­le für neue Musik ist „All Songs Con­side­red“, ein Pod­cast von NPR, der auch das Vor­bild für mei­ne eige­ne, kurz­le­bi­ge Musik­sen­dung bei Spo­ti­fy 2023/​24 wird. Hier sto­ße ich erst­mals auf The Hold Ste­ady, eine Band aus Brook­lyn (ursprüng­lich: Minneapolis/​St. Paul), die Geschich­ten von Ver­lie­rern und Under­dogs in hym­ni­schen Rock­songs erzählt wie sonst nur Bruce Springsteen. Ihr Album „Stay Posi­ti­ve“ bringt mich durch ein Jahr, von dem ich heu­te so gut wie nichts mehr weiß, des­halb las­se ich mir das Sym­bol vom Album­co­ver 2011 auf mei­ne Wade täto­wie­ren.

Auch ihre Musik bleibt: 2009 kau­fe ich mir alle Alben und höre sie rauf und run­ter (wie man es in einer Welt ohne Strea­ming eben so mach­te), 2010 rufe ich den „Con­s­truc­ti­ve Sum­mer“ aus: „We’­re gon­na build some­thing this sum­mer.“ Hier ent­ste­hen dann end­lich Erin­ne­run­gen, die für immer blei­ben wer­den, unter­malt von „Boys And Girls In Ame­ri­ca“, „Stay Posi­ti­ve“ und dem damals neu­en Nach­fol­ge-Album „Hea­ven Is When­ever“.
[Songs 2008 von damals]

2009: Kili­ans – Home­town
Nach über fünf Jah­ren im Stu­den­ten­wohn­heim muss ich mir mal lang­sam eine eige­ne Woh­nung suchen und ich über­le­ge: In Bochum blei­ben oder nach Ham­burg zie­hen? Es ist ein Jahr der gro­ßen Gefüh­le zwi­schen Welt erobern wol­len und zuhau­se ein­sper­ren, beglei­tet von der ganz gro­ßen, uner­füll­ten Lie­be.

Mei­ne Freun­de von den Kili­ans (Bru­der, Demo-CD, Thees Uhl­mann, Tom­te-Tour — you know the sto­ry!) ver­öf­fent­li­chen im April ihr zwei­tes Album „They Are Cal­ling Your Name“ und spie­len aus die­sem Anlass ein Kon­zert auf dem Hans-Böck­ler-Platz in Dins­la­ken, jener Stadt, in der wir alle – die Kili­ans, ich und die ganz gro­ße, uner­füll­te Lie­be – auf­ge­wach­sen waren. Ihr Song „Home­town“ ist das Ange­bot einer Hym­ne.

Die Band löst sich 2013 auf, da wird der Hans-Böck­ler-Platz gera­de mit einem Ein­kaufs­zen­trum über­baut. Wenn man heu­te „Dins­la­ken“ sagt, reagie­ren nicht mehr vie­le Men­schen mit „Aaaah, die Kili­ans!“ (aber – und das wird die Bür­ger­meis­te­rin freu­en – auch nicht mehr mit „Aaaah, der Wend­ler!“ oder „Aaaah, die Sala­fis­ten!“). Die Stadt hat sogar die Emscher­mün­dung ver­lo­ren. Aber Erin­ne­run­gen und Musik wer­den ja immer blei­ben.

(Ich ent­schei­de mich 2009 übri­gens für Bochum. My home­town.)

2010: Lena – Satel­li­te
„Irgend­wann musst Du Dir das mal vor Ort anschau­en“, hat­te Ste­fan Nig­ge­mei­er 2008 über den Euro­vi­si­on Song Con­test (damals und immer schon: „Euro­vi­si­on Song Con­test“) gesagt, aber weil Mos­kau schon damals kein Ort ist, an dem man ger­ne sein möch­te, ver­schie­ben wir unser Pro­jekt auf das Fol­ge­jahr und nach Oslo. Womit wir nicht rech­nen: dass in Deutsch­land ein regel­rech­ter ESC-Hype um eine 18-jäh­ri­ge Abitu­ri­en­tin aus Han­no­ver aus­bricht und die die­se merk­wür­di­ge Quatsch-Ver­an­stal­tung tat­säch­lich gewinnt. (Also: In der ers­ten Fol­ge des Oslog wet­te ich natür­lich genau das, aller­dings ohne auch nur einen ande­ren Wett­be­werbs­bei­trag zu ken­nen.)

Als altes Thea­ter-Kind zieht mich die jähr­li­che Leis­tungs­schau der Büh­nen­tech­nik-Indus­trie sofort in ihren Bann und auch musi­ka­lisch ist das alles gar nicht mehr so schlimm, wenn man es nur oft genug gehört hat. Aber trotz der ein­schnei­den­den, im Nach­hin­ein lebens­weg­wei­sen­den Erfah­rung in Oslo traue ich mich nicht, „Satel­li­te“ auf mei­ne Jah­res­bes­ten­lis­te zu packen. Da sol­len auch wei­ter nur Indie-kre­di­be­le Sachen zu fin­den zu fin­den sein (und so igno­rie­re ich offen­bar auch das tol­le Take-That-mit-Rob­bie-Album „Pro­gress“ kom­plett). Das passt zu einem Jahr, in dem ich nicht gera­de dadurch auf­fal­le, irgend­wel­che Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, son­dern mich lie­ber vom Großstadt‑, vor allem aber Nacht­le­ben rund um mei­ne neue Woh­nung in der Innen­stadt mit­rei­ßen las­se und als neu­er BILD­blog-Chef in Talk­shows gehe und zu Jour­na­lis­ten­kon­gres­sen ins Aus­land flie­ge. („It’s phy­sics /​ There’s no escape.“)

Hier also spä­te Genug­tu­ung für einen Song und ein Ereig­nis, ohne die ich heu­te nicht da wäre, wo ich bin, und ohne die der ESC in Deutsch­land immer noch als „Schla­ger-Grand-Prix“ fir­mie­ren wür­de, bei dem man ohne­hin nichts rei­ßen kann.
[Songs 2010 von damals]

2011: Thees Uhl­mann – 17 Wor­te
Mein Kum­pel Thees Uhl­mann ist im Jahr 2011 wie so oft wei­ter als ich: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Ich bin vier bis fünf Aben­de die Woche im Frei­beu­ter im Bochu­mer Bermuda3eck und schrei­be neben­her das BILD­blog voll. Des­we­gen igno­rie­re ich Thees‘ selbst­be­ti­tel­tes Solo-Debüt damals auch rüpe­lig bei den „Alben des Jah­res“ (und lobe lie­ber das nächs­te ega­le Cold­play-Album), obwohl ich es wirk­lich oft höre.

Aber die­se Lis­te hier ist auch eine Chan­ce auf Wie­der­gut­ma­chung, denn sechs Jah­re spä­ter ste­he ich beim GHvC-Geburts­tag in Ham­burg im Nie­sel­re­gen: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Also völ­lig ande­re Prio­ri­tä­ten und Prin­zi­pi­en: „Mei­ne Wahr­heit in 17 Wor­ten: /​ Ich hab ein Kind zu erzie­hen /​ Dir einen Brief zu schrei­ben /​ Und ein Fuß­ball-Team zu sup­port­en.“ (Bei Erschei­nen des Albums hat­te ich Thees eine SMS geschrie­ben, dass das nur 16 Wor­te wären, weil man „Fuß­ball­team“ zusam­men­schrei­be. Sei­ne Ant­wort kam natür­lich prompt: „Fuß­ball Team!“)

2021 sehe ich Thees Uhl­mann und Band live im Burg­thea­ter in Dins­la­ken (weil: natür­lich). Es ist mein ers­ter Kon­zert­be­such seit andert­halb Jah­ren, mein Sohn ist an mei­ner Sei­te, mei­ne Eltern irgend­wo in mei­nem Rücken, der VfL Bochum ist auf­ge­stie­gen. Wei­te Tei­le der Öffent­lich­keit sind wäh­rend der immer noch anhal­ten­den Pan­de­mie dem Wahn­sinn anheim­ge­fal­len, aber als Thees „17 Wor­te“ spielt, macht für mich alles Sinn: Wir sin­gen, um uns zu erin­nern.
[Songs 2011 von damals]

2012: Car­ly Rae Jep­sen – Call Me May­be
Die­ser beklopp­te Euro­vi­si­on Song Con­test hat mich nach Aser­bai­dschan ver­schla­gen. Ich sit­ze in Baku im Hotel­zim­mer, gucke rus­si­sches Musik­fern­se­hen und sehe die­ses Video. Als der Song zu Ende ist, zap­pe ich wei­ter und sehe das glei­che Video auf dem nächs­ten Kanal direkt noch mal von vorn. „Komi­sche Rus­sen“, den­ke ich, will den Song bei Face­book pos­ten und stel­le fest, dass ich mit „Call Me May­be“ einen inter­na­tio­na­len Hit ver­passt habe.

Wahr­schein­lich ist es die­ser Moment, in dem ich die­ses eli­tär-puber­tä­re Musik-nur-gut-fin­den-wenn-sie-sonst-kei­ner-hört-Din­gen auf­ge­be und end­lich frei bin, Din­ge gut zu fin­den, nur weil ich sie gut fin­de. Um Din­ge auch öffent­lich gut zu fin­den (jeden­falls meis­tens), star­ten Tom The­len und ich im Blog unse­ren Kino-Pod­cast „Cine­ma And Beer“.

„Befo­re you came into my life /​ I missed you so bad“ ist immer noch eine der bes­ten Zei­len, die je über roman­ti­sche Lie­be geschrie­ben wur­de — und das waren ja nun wirk­lich nicht weni­ge. Car­ly Rae Jep­sen in der Köl­ner Essig­fa­brik ist im Febru­ar 2020 mein letz­tes Kon­zert vor dem Lock­down (ist es nicht Magie, wie hier alles inein­an­der­greift?!) und die fröh­li­che Stim­mung die­ses durch­aus ESC-taug­li­chen Publi­kums trägt mich durch die ers­ten, dunk­len Mona­te der Iso­la­ti­on.
[Songs 2012 von damals]

2013: Daft Punk feat. Phar­rell Wil­liams & Nile Rogers – Get Lucky
Ich sit­ze in einem Auto, das mich vom Hotel zur Mal­mö Are­na bringt, neben mir: ESC-Kom­men­ta­to­ren­le­gen­de Peter Urban. Als wäre das nicht schon absurd genug, wippt die­ser 65-jäh­ri­ge Mann zur Musik aus dem Auto­ra­dio mit: „Get Lucky“ von Daft Punk, Phar­rell Wil­liams und Nile Rogers. Natür­lich kennt er das, denn es ist ja ein inter­na­tio­na­ler Super­hit, dem man nur schwer ent­kom­men kann, und Peter wür­de auch jede Men­ge deut­lich obsku­re­re Songs mit­sin­gen, die in den letz­ten ca. 50 Jah­ren erschie­nen sind, aber irgend­wie über­rascht es mich in die­sem Moment doch, denn Daft Punk, das sind doch die von Viva 2 (wo sie jetzt zuge­ge­be­ner­ma­ßen auch nicht zwin­gend zur Avant­gar­de gezählt hat­ten).

Die Domi­no­stei­ne, von denen die­ses Blog der ers­te war, haben mich hier­her gebracht, ins Epi­zen­trum des Enter­tain­ments. Nur einen Monat spä­ter sol­len sie mich zum Late-Night-Mei­nungs­ma­ga­zin „Tages­schaum“ mit Fried­rich Küp­pers­busch füh­ren und von dort zu unse­rem gemein­sa­men Pod­cast „Lucky & Fred“. Das Leben meint es gut mit mir, beruf­lich wie pri­vat.
[Songs 2013 von damals]

2014: Andrew McMa­hon In The Wil­der­ness – High Dive
Ich hät­te immer gesagt, dass das Jahr 2014 hier im Blog gar nicht statt­ge­fun­den hat, aber es gibt doch eini­ge Ein­trä­ge aus die­ser Zeit — die meis­ten als Teil der kurz­le­bi­gen Serie „Song des Tages“. Ich erin­ne­re mich an nichts, weil ich zu sehr mit ande­ren Sachen beschäf­tigt bin: Umzug, neue Jobs, Hoch­zeit pla­nen und absa­gen, Vater wer­den, irgend­wie ver­su­chen, mei­ne Bezie­hung zu ret­ten. Alles Din­ge, auf die einen Pop­kul­tur nur unzu­rei­chend vor­be­rei­tet; alles Din­ge, die für Pop­kul­tur wenig Zeit las­sen.

Das ers­te neue Album, das ich mit mei­nem Sohn höre, ist das Solo­de­büt von Andrew McMa­hon, der mich mit sei­nen Bands Some­thing Cor­po­ra­te und Jack’s Man­ne­quin jetzt auch schon mehr als zehn Jah­re beglei­tet. Er ist auch gera­de Papa gewor­den, so kann ich die Ver­ar­bei­tung mei­ner Lebens­wirk­lich­keit wie­der mal auf ihn abwäl­zen und ein­fach sei­ne Songs hören. Obwohl wir doch noch jung sind, ist da viel Nost­al­gie in sei­nen Tex­ten wie „High Dive“, aber Face­book ersetzt Knei­pen­aben­de mit Freund*innen ja auch nur bedingt.

2015: Ben Folds feat. yMu­sic – Pho­ne In A Pool
2015 ist dann tat­säch­lich das Jahr, das nicht war, denn ich schrei­be sen­sa­tio­nel­le sie­ben Blog­ein­trä­ge, von denen die meis­ten ursprüng­lich Face­book-Posts waren. Offen­bar schaf­fe ich es immer­hin ein paar Mal ins Kino. (Ach, „The Force Awa­kens“ ist von 2015?!) Ich kann mich an nichts erin­nern und es geht mir wirk­lich nicht gut.

Ein biss­chen Trost kommt von mei­nem ewi­gen Hel­den Ben Folds, der gera­de die vier­te Schei­dung (von inzwi­schen fünf) hin­ter sich hat und mit dem Kam­mer­mu­sik-Ensem­ble yMu­sic ein Album ein­spielt, auf dem auch sein ers­tes Kla­vier­kon­zert zu hören ist. (Wir gehen alle unter­schied­lich mit Lebens­kri­sen um.) In „Pho­ne In A Pool“ berich­tet er: „Found the love of my life again /​ Y’all knows what I means /​ And I’ll be back on the sofa in a pudd­le in a cou­ple of weeks“. Bei all dem Elend ist es schön, dass jemand, der mich mein hal­bes Leben lang beglei­tet, immer noch Songs schrei­ben kann, die so gut zu mei­nem eige­nen Leben pas­sen. Natür­lich gibt es am Ende des Jah­res kei­ne Lis­ten — ich hab ja eh viel zu wenig Musik gehört und wann hät­te ich die denn noch schrei­ben sol­len?

2016: Weezer – Cali­for­nia Kids
Neu­an­fang in einer eige­nen Woh­nung und das Vor­ha­ben, das Blog jetzt aber wirk­lich wie­der zu befeu­ern. Da passt es ganz gut, dass Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re, des­sent­we­gen ich als Teen­ager mit dem Schrei­ben ange­fan­gen hat­te, ein neu­es Buch ver­öf­fent­licht, unge­fähr zeit­gleich mit dem neu­en Album der von uns hoch ver­ehr­ten Pet Shop Boys und dem von Weezer. Alle drei Acts eint, dass ihr Schaf­fen nicht zu jedem Zeit­punkt ihrer Kar­rie­re den Ansprü­chen des eige­nen Publi­kums genüg­te, aber jetzt sind sie wie­der voll da.

Also eigent­lich eine gute Gele­gen­heit, dar­über zu schrei­ben und über ande­re Din­ge, die mir Freu­de berei­ten, aber das Inter­net ist damals im wesent­li­chen Face­book und dort sind wir alle damit beschäf­tigt, mit irgend­wel­chen AfD-Anhän­gern zu dis­ku­tie­ren, die irgend­wo etwas Dum­mes kom­men­tiert haben. Um die­sem gan­zen Irr­sinn zu ent­flie­hen, schrei­be ich nicht etwa wie­der mehr ins Blog, son­dern star­te mei­nen eige­nen News­let­ter. Da macht das Schrei­ben immer­hin auch Spaß.

Weezer, jeden­falls, ken­ne ich seit mehr als 20 Jah­ren, als das Video zu „Bud­dy Hol­ly“ bei „Hit-Clip“ lief und auf der Win­dows-95-CD-Rom ent­hal­ten war. Jetzt ver­öf­fent­li­chen sie schon das vier­te Album namens „Weezer“ (nach dem blau­en, dem grü­nen und dem roten Album jetzt ganz Beat­les-mäßig das wei­ße), das mei­nen Sohn und mich auf vie­len Aus­flü­gen zum Kem­n­ader See beglei­tet und ihr bes­tes seit Jahr­zehn­ten ist. Der ope­ning cut „Cali­for­nia Kids“ han­delt von den glück­li­chen jun­gen Men­schen aus dem Gol­den Sta­te, die einem das Leben ret­ten. Ich nen­ne Kali­for­ni­en ger­ne „my home away from home“, was viel­leicht etwas prä­ten­ti­ös ist, aber ich hab da halt Fami­lie und es ist auch der ein­zi­ge Ort außer­halb des Ruhr­ge­biets, an dem ich je so viel Zeit am Stück ver­bracht habe. Der Staat bleibt auch nach der Wahl von Donald Trump zum US-Prä­si­den­ten das (natür­lich eher theo­re­ti­sche) Ide­al, das ich bewun­de­re, genau­so wie ich Men­schen auch lie­ber aus der Fer­ne toll fin­de — Cali­for­nia Kids halt.

2017: kett­car – Ankunfts­hal­le
Als die­ses Blog an den Start geht, haben kett­car bereits zwei Alben ver­öf­fent­licht: ihr Debüt „Du und wie­viel von Dei­nen Freun­den“, ein instant clas­sic, und – beglei­tet von Fern­seh­auf­trit­ten und ganz­sei­ti­gen Zei­tungs­ar­ti­keln – den Nach­fol­ger „Von Spat­zen und Tau­ben, Dächern und Hän­den“. Trotz­dem schrei­be ich in all den Jah­ren rela­tiv weni­ge Tex­te über die­se Band, die mir so wich­tig ist. Viel­leicht weil ich den­ke, dass das eh klar ist.

2017 liegt das letz­te (eher okaye) kett­car-Album fünf Jah­re zurück, Mar­cus Wie­busch hat in der Zwi­schen­zeit ein (ziem­lich gutes) Solo­al­bum ver­öf­fent­licht, aber plötz­lich ist die Band wie­der ein Macht­block mit­ten in Euro­pa: Ihre stets kla­re poli­ti­sche Hal­tung, die Jah­re vor­her noch ein biss­chen folk­lo­ris­tisch anmu­te­te, ist inzwi­schen not­wen­dig, aber neben Songs wie „Som­mer ’89“, „Wagen­burg“ und „Mann­schafts­auf­stel­lung“ gibt es auch jene, die sich anfüh­len wie Pola­roids (oder Ins­ta-Posts) aus dem All­tag. „Die Stra­ßen unse­res Vier­tels“ ersetzt eine gan­ze Fern­seh­se­rie über das Fami­li­en­le­ben in Hips­ter-Vier­teln, ohne sich für eine Sekun­de Harald-Schmidt-mäßig über Hafer­milch lus­tig zu machen; „Trost­brü­cke Süd“ ist ein Kame­ra­schwenk durch einen Lini­en­bus vol­ler Men­schen, die auf­ste­hen, atmen, sich anzie­hen und hin­ge­hen, und „Ankunfts­hal­le“ der Blog-Ein­trag, News­let­ter oder Song, den ich immer hat­te schrei­ben wol­len: ein Lob­lied auf die hei­len­de Kraft von Flug­ha­fen-Ankunfts­hal­len, wo Men­schen sich nach lan­ger Zeit der Tren­nung wie­der in die Arme fal­len.

Als kett­car und Thees Uhl­mann im August im Ham­bur­ger Nie­sel­re­gen 15 Jah­re Grand Hotel van Cleef fei­ern, ist weni­ge Tage zuvor mei­ne Oma gestor­ben, die hier von Anfang an mit­ge­le­sen hat­te. Ende Dezem­ber liegt mein Opa im Ster­ben und ich fah­re mit mei­nem Sohn zum Düs­sel­dor­fer Flug­ha­fen, Men­schen in der Ankunfts­hal­le gucken.
[Songs des Jah­res 2017 damals]

2018: Rae Mor­ris – Do It
Hat­te ich oben – also vor ca. 18.000 Zei­chen – nicht noch geschrie­ben, dass in die­ser Lis­te expli­zit nicht die jewei­li­gen Songs des Jah­res auf­tau­chen sol­len? Well: We make up the rules as we go along!

Rae Mor­ris hat sich ihre Son­der­rol­le hier im Blog ver­dient: Weil ich mich 2012 instant­ly in ihren Song „Don’t Go“ aus dem (eigent­li­chen) Seri­en­fi­na­le von „Skins“ (der ein­zi­gen Fern­seh­se­rie neben „Die Brü­cke“, von der ich alle Fol­gen gese­hen habe) ver­liebt habe; weil sie der ers­te (und bis heu­te ein­zi­ge) Act in der Geschich­te die­ses Blogs ist, der in einem Jahr (2018) mei­nen per­sön­li­chen „Song des Jah­res“ und mein „Album des Jah­res“ ver­öf­fent­licht hat (das haben Tom­te 2006 zwar auch geschafft, aber halt sechs Wochen, bevor die­ses Blog an den Start ging, also zählt das nur an unge­ra­den Wochen­ta­gen ohne Neu­mond); weil sie der ers­te (und bis heu­te ein­zi­ge) Act ist, der zwei Mal mei­nen per­sön­li­chen Song des Jah­res (2012 und 2018) geschrie­ben hat.

Irgend­wie alles tro­cke­ner Sta­tis­tik-Kram ange­sichts eines Songs, der davon han­delt, auf die Zwei­fel zu pfei­fen und sich kopf­über in die Lie­be zu stür­zen. Rae Mor­ris singt das über ihren musi­ka­li­schen Part­ner und heu­ti­gen Ehe­mann Fryars und sie macht das so toll, dass ich mit ihr an die gro­ße Lie­be glau­ben will, die sich anfühlt wie Feu­er­werk aus­sieht. Doch mei­ne Ver­su­che, „Do It“ in „Joko Win­ter­scheidts Druckerzeug­nis“ zum Som­mer­hit des Jah­res zu pushen, schei­tern und Men­schen wie ich blei­ben bes­ser allein.

Aber, so den­ke ich heu­te, eigent­lich ist die­ses Blog hier ja auch nichts ande­res als die Umset­zung des Gedan­kens „We could just do it“: Gestar­tet als „die Online-Zei­tung, die wir ger­ne lesen wür­den“ (puh!), konn­te ich mich hier an der Tas­ta­tur und vor der Kame­ra aus­to­ben, aus­pro­bie­ren und dar­an wach­sen, um dann für Zei­tun­gen und Fern­seh­sen­dun­gen zu arbei­ten, die ich frü­her nur rezi­piert hat­te. Wenn man aus 18 Jah­ren Cof­fee And TV unbe­dingt irgend­et­was ler­nen will, dann, dass Selbst­er­mäch­ti­gung manch­mal (es gehört ja auch bei mir sicher­lich eini­ges an Glück dazu) wirk­lich funk­tio­nie­ren kann.
[Songs des Jah­res 2018 damals]

2019: LOKI – The Girl With No Eyes
Für die, die hier ernst­haft Buch füh­ren (also: für mich), mag es etwas über­ra­schend sein, dass ein Song, der auf Platz 59 einer Jah­res­bes­ten­lis­te stand, ein Jahr reprä­sen­tie­ren soll. Nun: Ers­tens kön­nen wir uns glaub ich dar­auf eini­gen, dass es eh schon ein ganz klei­nes biss­chen wahn­sin­nig ist, einen „Platz 59“ auf einer per­sön­li­chen Bes­ten­lis­te zu haben; zwei­tens habe ich erst bei der Durch­sicht mei­ner diver­sen Lis­ten, Ein­trä­ge und Play­lists fest­ge­stellt, dass ich tat­säch­lich schon mal Musik von LOKI gehört haben muss, bevor ich sie letz­tes Jahr beim Fes­ti­val Sounds Like Sugar in Her­ne gese­hen habe und so begeis­tert war, dass ich sie beim Bochum Total direkt wie­der sehen muss­te.

Damit steht „The Girl With No Eyes“, des­sen Bon-Iver-Haf­tig­keit mich schon 2019 über­zeugt haben muss, näm­lich für etwas ande­res: Für das wil­de Über­an­ge­bot an Wer­ken (oder: „Con­tent“, wie die Arsch­lö­cher sagen, die in ihrem Leben nicht einen ein­zel­nen genui­nen Gedan­ken hat­ten), aus dem wir theo­re­tisch wäh­len kön­nen, das aber auch das Risi­ko birgt, alles belie­big und egal zu machen. Dass es etwas ande­res ist, tage­lang in phy­si­schen Läden nach einer CD zu fahn­den und sie dann end­lich zu fin­den, als ein­fach alles immer sofort (terms and con­di­ti­ons app­ly) zur Ver­fü­gung zu haben, hab ich schon 2016 auf­ge­schrie­ben. Es ist seit­dem nicht weni­ger gewor­den. Wenn ich mich nicht mehr an irgend­wel­che Acts erin­nern kann (natür­lich auch, weil ihre Namen nur noch über Bild­schir­me flim­mern und nicht aus­ge­druckt vor mir lie­gen, was mei­nem Gehirn immer­hin ein biss­chen hel­fen wür­de), ist es alles ein biss­chen viel.

Ich selbst tra­ge fröh­lich zum Über­an­ge­bot bei: Mit Fried­rich Küp­pers­busch ste­he ich jetzt regel­mä­ßig auf Büh­nen in Dort­mund und Ber­lin, um „Lucky & Fred“ vor Publi­kum auf­zu­zeich­nen. Da kommt das Thea­ter-Kind von frü­her wie­der zum Vor­schein, Applaus ist immer noch die stärks­te Wäh­rung. Weil Likes dage­gen abstin­ken und dort eh nichts mehr los ist, lösche ich am Sil­ves­ter­abend mei­nen Face­book-Account. Im Nach­hin­ein möch­te ich sagen: Ich habe schon düm­me­re Din­ge zu einem schlech­te­ren Zeit­punkt gemacht.
[Songs des Jah­res 2019 damals]

2020: Tay­lor Swift – Epi­pha­ny
Alles beginnt so schön mit wei­te­ren Live-Auf­trit­ten und Kon­zert­be­su­chen bei kett­car, Ider und Car­ly Rae Jep­sen. Und dann endet alles: Kon­zer­te, Kin­der­gar­ten, Bun­des­li­ga, sogar der Euro­vi­si­on Song Con­test wird erst­mals abge­sagt. „Wegen Coro­na“ wird ein soge­nann­tes geflü­gel­tes Wort, was auch irgend­wie zu den ver­damm­ten Flug­hun­den auf dem Nass­markt von Wuhan passt, die uns die gan­ze Schei­ße (mut­maß­lich) ein­ge­brockt haben.

Popkultur-Freund*innen ver­glei­chen die Stra­ßen mit jenen aus dem Zom­bie­film „28 Days Later“ und wir ler­nen die Wohn­zim­mer von Kolleg*innen und Rock­stars ken­nen, die von dort aus Mini-Kon­zer­te in die Welt strea­men (die Rock­stars, nicht die Kolleg*innen). Die Leu­te erschei­nen all das mit erstaun­li­chem Gleich­mut zu ertra­gen, aber die­ses Bild bekommt – um eine wei­te­re Phra­se zu ver­mei­den – schnell Ris­se: Als sich im April eine Frau, die vor einem Café war­ten muss, um Kuchen zum Mit­neh­men zu kau­fen, über die „Gesund­heits­dik­ta­tur“ beschwert, bin ich viel zu über­rascht und scho­ckiert, ihr vor­zu­schla­gen, dass wir ger­ne gemein­sam einen Bekann­ten von mir, der Arzt in Padua ist, anru­fen könn­ten und sie ja mal mit dem spre­chen kön­ne, wenn er nicht gera­de dabei ist, um Leben zu kämp­fen.

Es ist ein Vor­ge­schmack auf das, was kommt: Weil man sich jetzt nir­gend­wo mehr in die Augen gucken kann, ver­ges­sen nahe­zu alle, dass sie online mit ande­ren Men­schen dis­ku­tie­ren. Man­che von uns nut­zen die vie­le freie Zeit, um sich über Ras­sis­mus fort­zu­bil­den, ande­re, um sich zu radi­ka­li­sie­ren. Ich schrei­be viel in mei­nen News­let­ter und wenig ins Blog, star­te aber zusam­men mit Sue Reind­ke immer­hin einen neu­en Pod­cast namens „Bist Du noch wach?“

In all das hin­ein ver­öf­fent­licht Tay­lor Swift, die nach einer abge­sag­ten Welt-Tour­nee auch zu viel Frei­zeit hat, ein Album, das sie in den ers­ten Mona­ten des Lock­downs mit Aaron Dess­ner von The Natio­nal auf­ge­nom­men hat, remo­te. „Folk­lo­re“ wird zum Sound­track des ers­ten Coro­na-Som­mers und über­zeugt selbst jene, die ihrer Musik bis­her kri­tisch gegen­über­ge­stan­den hat­ten. Mit „Ever­mo­re“ erscheint ein paar Mona­te spä­ter noch so ein gro­ßer Wurf. Nach dem groß­ar­ti­gen „1989“ von 2014 hab ich end­lich die nächs­te era, in der ich mich ein­rich­ten kann. Es ist der Sound­track zu sehr aus­gie­bi­gen Spa­zier­gän­gen durch die ver­schie­de­nen Nach­bar­schaf­ten hier in Bochum. Und mit­ten­drin ein Song über Sol­da­ten und Men­schen im Gesund­heits­we­sen, über das Ster­ben in Ein­sam­keit und über das Wei­ter­ma­chen der Über­le­ben­den: „Epi­pha­ny“. „Someone’s daugh­ter, someone’s mother /​ Holds your hand through pla­s­tic now“ sind Zei­len, die mir auf ewig die Trä­nen in die Augen trei­ben und einen Klos in den Hals drü­cken wer­den. Die gute Nach­richt: Mei­ne Omi, die mit 94 noch allein in ihrem viel zu gro­ßen Haus wohnt, über­lebt all das ohne Anste­ckung. Das ist nicht ihr Song.
[Songs des Jah­res 2020 damals]

2021: Meet Me @ The Altar – Never Gon­na Chan­ge
2021 ist die etwas öde Fort­set­zung des Seu­chen­jah­res, aber als Far­ce: Hash­tag Oster­ru­he. Die Amts­zeit von Donald Trump endet, die von Ange­la Mer­kel auch. In Rot­ter­dam, wo der ESC unter Pan­de­mie-Bedin­gun­gen statt­fin­det, lau­tet der schon 2019 erson­ne­ne Slo­gan pas­sen­der­wei­se „Open Up“. Den Som­mer ver­brin­ge ich damit, mein Buch über den Song Con­test zu schrei­ben, an Omis Geburts­tag und an Weih­nach­ten sind wir wie­der alle ver­eint.

In Aachen tref­fe ich einen mei­ner aller­größ­ten Hel­den: Micha­el Sti­pe von R.E.M. Er ist so bezau­bernd, wie ich erhofft hat­te, und gibt mir das Gefühl, als sei ich der aller­ers­te Mensch, der „You’­ve chan­ged my life“ zu ihm sagt. Der VfL Bochum steigt nach elf Jah­ren wie­der in die Bun­des­li­ga auf. Natu­re is heal­ing.

Mei­ne aktu­el­le Lieb­lings­band heißt Meet Me @ The Altar, que­er Women of Color aus den USA, die Pop-Punk zwi­schen Avril Lavi­gne, Para­mo­re und Blink-182 machen. Zum ers­ten Mal hören tue ich von ihnen bei – natür­lich – „All Songs Con­side­red“ auf – natür­lich – einem mei­ner lan­gen Spa­zier­gän­ge, in Erin­ne­rung blei­ben mir ihre EP „Model Citi­zen“ und der Song „Never Gon­na Chan­ge“ aber vor allem als Sound­track zu den ers­ten Besu­chen im Fit­ness­stu­dio, die jetzt wie­der mög­lich sind.
[Songs des Jah­res 2021 von damals]

2022: Maro – Sau­da­de, Sau­da­de
Am Ende wird es das Jahr gewe­sen sein, das ich so lang gefürch­tet hat­te: das, in dem mei­ne Omi stirbt. Es wer­den lan­ge vier Mona­te des Abschieds, die ihren Kin­dern alles abver­lan­gen, aber es ist eine Zeit des bewuss­ten, lie­be­vol­len Abschieds und der Lie­be in ihrer reins­ten Form.

All das ahne ich noch nicht, als ich beim ESC in Turin sit­ze und völ­lig gebannt (das eng­li­sche Wort mes­me­ri­zed ken­nen wir im Deut­schen lei­der nicht, obwohl es doch auf einen deut­schen Arzt zurück­geht) dem Auf­tritt der por­tu­gie­si­schen Künst­le­rin fol­ge, die das spe­zi­fisch por­tu­gie­si­sche Gefühl sau­da­de besingt, das mit „ver­mis­sen“ nur unzu­rei­chend über­setzt wer­den kann und das sie nach dem Tod ihres gelieb­ten Groß­va­ters emp­fin­det. „Sau­da­de, Sau­da­de“ erreicht am Ende einen tol­len 9. Platz, Deutsch­land hat auch teil­ge­nom­men. Aller­spä­tes­tens hier in Turin ist der ESC nicht mehr die leicht tra­shi­ge Quatsch-Ver­an­stal­tung, als die er noch galt, als Ste­fan und ich 2007 erst­ma­lig dar­über gebloggt haben. Er ist ein ech­tes Musik­fes­ti­val, bei dem man Gen­res und Acts vor­ge­stellt bekommt, auf die man sonst viel­leicht nie gesto­ßen wäre. Wer hier noch alles doof fin­det, mag wahr­schein­lich ein­fach kei­ne Musik.

Mein Buch über die­se Ver­an­stal­tung erscheint qua­si zeit­gleich mit Beginn des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne, was mir eine ordent­lich Por­ti­on der Freu­de raubt. Als ich den Release trotz­dem mit Freund*innen in mei­ner Stamm­knei­pe feie­re, ste­cke ich mich (end­lich) mit COVID-19 an und bin immer noch reich­lich außer Atem, als ich das Buch in einer klei­nen gro­ßen Live­show in der Zeche Carl in Essen vor­stel­le. Irgend­wie schaf­fe ich es sogar, in die­sem Jahr noch einen Pod­cast zu pro­du­zie­ren: die Talk­sen­dung „Woher ken­nen wir uns?“
[Songs des Jah­res 2022 damals]

2023: Foo Figh­ters – Res­cued
Omi und Tay­lor Haw­kins sind im sel­ben Jahr gestor­ben, was inso­fern beson­ders tra­gisch ist, als der Schlag­zeu­ger der Foo Figh­ters 46 Jah­re jün­ger gewe­sen war. Dave Grohl hat­te zum drit­ten Mal einen sei­ner bes­ten Freun­de ver­lo­ren, Mona­te spä­ter sei­ne Mut­ter. Ob das der Beginn einer etwas ver­spä­te­ten mid­life-cri­sis war, in deren Ver­lauf jene Toch­ter ent­stand, die „außer­halb mei­ner Ehe“ gebo­ren wur­de, wie er auf Insta­gram schrieb, ver­mag ich nicht zu beur­tei­len — es war zumin­dest der Aus­lö­ser, „But Here We Are“ auf­zu­neh­men, das bes­te Foo-Figh­ters-Album seit fast 25 Jah­ren, auf dem er wie­der ein­mal Trau­er in Wut ver­wan­delt und umge­kehrt.

„Res­cued“ ist einer der ers­ten Songs, den ich in mei­ner klei­nen Musik­sen­dung spie­le, die ich in einem Anfall beson­de­rer Geis­tes­ge­gen­wart auch „Cof­fee And TV“ genannt habe. Sie ist das, wor­auf ich Jahr­zehn­te lang gewar­tet hat­te: die Mög­lich­keit, Songs in einem Pod­cast zu spie­len, ohne in einem kost­spie­li­gen Büro­kra­tie­ge­wit­ter namens „GEMA“ unter­zu­ge­hen. Das Ergeb­nis kann man zwar nur beim fins­te­ren Tech-Kon­zern Spo­ti­fy hören, aber ent­schei­den­der ist für mich eh, sowas über­haupt machen zu kön­nen. Aber wie so oft mit den schö­nen Din­gen im Inter­net: Nur ein Jahr spä­ter zieht Spo­ti­fy den Ste­cker und schafft die Mög­lich­keit, sol­che Musik­sen­dun­gen zu bau­en, direkt wie­der ab.

„But Here We Are“ wird auch 2024 wie­der für mich da sein: Als mei­ne gelieb­te Tan­te Dör­te stirbt, eine groß­ar­ti­ge Grund­schul­leh­re­rin, höre ich den Song, den Dave Grohl für sei­ne ver­stor­be­ne Mut­ter Vir­gi­nia geschrie­ben hat, die eben­falls Leh­re­rin gewe­sen war: „The Tea­cher“.

2024: Ezra Coll­ec­ti­ve feat. Yaz­min Lacey – God Gave Me Feet For Dancing
Das ist mir in all den Jah­ren auch noch nicht pas­siert, dass ich – trotz aller Play­lis­ten, Noti­zen-Apps und Zet­tel – beim Zusam­men­stel­len der „Alben“ oder „Acts des Jah­res“ ein Album bzw. einen Act kom­plett ver­ges­se. Ob’s am Alter liegt oder dem schon erwähn­ten Über­an­ge­bot?

Immer­hin habe ich hier die Gele­gen­heit, den Feh­ler schnell halb­wegs wett­zu­ma­chen: „God Gave Me Feet For Dancing“ von Ezra Coll­ec­ti­ve und Yaz­min Lacey. Ezra Coll­ec­ti­ve sind eine Jazz-Fusi­on-Band aus Lon­don, die Ele­men­te aus Afro­beat, Calyp­so, Reg­gae, Hip-Hop, Soul und Jazz ver­bin­den und deren Songs bei BBC Radio 6 Music, mei­ner aktu­el­len Haupt­quel­le für neue Musik, rauf und run­ter läuft. Es ist die­se Musik, die ich mit dem leicht­fü­ßi­gen Som­mer 2024 ver­bin­de, als wir alle den­ken, dass Kama­la Har­ris US-Prä­si­den­tin wer­den wird, und die Olym­pi­schen Spie­le in Paris ein Gefühl von Hoff­nung, Zuver­sicht und Gemein­schaft ver­mit­teln, das wir so lan­ge ver­misst hat­ten. Sich ein paar Mona­te spä­ter über die eige­ne ver­meint­li­che Nai­vi­tät lus­tig zu machen, wäre aber auch zynisch.
[Songs des Jah­res 2024 von „damals“]

Epi­log
„Am Ende wird alles okay sein — und wenn es nicht okay ist, ist es nicht das Ende“, hat der bra­si­lia­ni­sche Autor Fer­nan­do Sabi­no geschrie­ben und Weezer nann­ten ihr 2015er Album „Ever­y­thing Will Be Alright In The End“. „Schwimm für die Songs, die noch geschrie­ben wer­den“, hat Mar­cus Wie­busch von kett­car auf sei­nem Solo­al­bum gesun­gen — und dabei Andrew McMa­hon refe­ren­ziert. Alles hängt immer mit allem zusam­men.

Social Media ist, spä­tes­tens seit sich die Tech-Olig­ar­chen um Donald Trump scha­ren, ein dumps­ter fire, das unse­re See­len und Gehir­ne ver­zehrt. Doch das hier sind nur die ers­ten 18 Jah­re und die ers­ten 18 Songs. Cof­fee And TV ist mein Zuhau­se und ich pla­ne zu blei­ben, mein Freund.

Denn wie sang einst Gra­ham Coxon in jenem Blur-Song, des­sen Titel wir uns damals ein­fach gemopst haben?

Take me away from this big bad world
And agree to mar­ry me
So we can start over again

(Auf das mit dem Hei­ra­ten wür­de ich nach den oben erwähn­ten Erfah­run­gen aller­dings ger­ne ver­zich­ten.)

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Musik Leben

25 Jahre „There Is Nothing Left To Lose“

Die­ser Ein­trag ist Teil 10 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Foo Fighters - There Is Nothing Left To Lose (abfotografiert von Lukas Heinser)

Natür­lich hat­te ich Dave Grohl als den „Schlag­zeu­ger von Nir­va­na“ ken­nen­ge­lernt. Natür­lich kann­te ich die sen­sa­tio­nell lus­ti­gen Vide­os zu „Big Me“ und „Learn To Fly“ sei­ner neu­en Band Foo Figh­ters, auf die mich mein bes­ter Freund auf­merk­sam gemacht hat­te. Natür­lich waren – neben The Wall­flowers, Jami­ro­quai, Rage Against The Machi­ne, Micha­el Penn, Green Day und Ben Folds Five – auch Foo Figh­ters 1998 auf dem Sound­track zu Roland Emme­richs „God­zil­la“ gewe­sen und zwei Jah­re spä­ter – neben Ben Folds Five, Hoo­tie & The Blow­fi­sh, Smash Mouth, Third Eye Blind und The Off­spring – auf dem Sound­track zum heu­te fast ver­ges­se­nen Jim-Carrey-Film „Me, Mys­elf & Ire­ne“, der mich mit Wil­co, Pete Yorn, Ellis Paul und Mar­ve­lous 3, vor allem aber mit den Songs von Stee­ly Dan bekannt mach­te. Das Video zu „Brea­kout“, das im Som­mer­ur­laub 2000 stän­dig auf MTV Euro­pe lief, war ja sogar auf den Film abge­stimmt.

Ich weiß wirk­lich nicht, war­um es bis in den April 2002 gedau­ert hat, bis ich wuss­te, dass ich Foo-Figh­ters-Fan bin. Ich weiß aber noch sehr genau, wie ich zu die­ser Zeit das Video zu „Next Year“ im Musik­fern­se­hen gese­hen habe (und das auch nicht zum ers­ten Mal) und plötz­lich so ange­fixt war, dass ich den Song sofort als ille­ga­le MP3 her­un­ter­la­den und tage­lang auf Repeat hören muss­te. Ich habe sogar die Geburts­tags­kaf­fee­ta­fel mei­ner Schwes­ter ver­las­sen, um zu R&K zu fah­ren und end­lich das dazu­ge­hö­ri­ge Album zu kau­fen.

Zwei Tage spä­ter war unser letz­ter Schul­tag, in der Woche dar­auf die schrift­li­chen Abitur­prü­fun­gen und danach kam eine Zeit der gro­ßen Lee­re. Was sich anfangs noch wie Som­mer­fe­ri­en und ver­dien­te Frei­zeit nach so vie­len Jah­ren Schu­le (and don’t get me star­ted about Theo­dor-Heuss-Gym­na­si­um Dins­la­ken again!) anfühl­te und einer durch­gän­gi­gen Par­ty glich, füll­te sich ganz schlei­chend mit der zunächst geleug­ne­ten Gewiss­heit, dass sich bald alles ändern wür­de: Die Mäd­chen wür­den zum Stu­di­um in ande­re Städ­te zie­hen, die Jungs ihren Zivil­dienst begin­nen und danach ver­mut­lich auch die Stadt ver­las­sen. Kin­der­zim­mer wür­den ver­stau­ben und umge­räumt wer­den, Groß­el­tern und Eltern ster­ben, Leben jetzt erst rich­tig begin­nen. So jung kom­men wir nicht mehr zusam­men.

„The­re Is Not­hing Left To Lose“ (der Titel schon!) war der per­fek­te Sound­track zu die­ser Zeit. Dave Grohl wuss­te, wie sich Abschie­de und Umbrü­che im Leben anfüh­len, er konn­te Melan­cho­lie in Wut ver­wan­deln und umge­kehrt. Es schien, als habe sich das Album extra zwei­ein­halb Jah­re in mei­nem Blick­feld ver­steckt, um jetzt ganz und gar für mich da zu sein. Es war das drit­te Album unter dem bescheu­er­ten Pro­jekt­na­men Foo Figh­ters, aber eigent­lich das ers­te die­ser Band als Band: Auf dem Debüt hat­te Dave Grohl noch alle Instru­men­te selbst gespielt, die von ihm für das zwei­te Album zusam­men­ge­stell­te Band war schnell wie­der zer­bro­chen (es hat­te womög­lich nicht gehol­fen, dass Grohl nahe­zu alle Spu­ren von Schlag­zeu­ger Wil­liam Golds­mith neu ein­ge­spielt hat­te) und jetzt hat­te er den Kel­ler sei­nes Hau­ses in Alex­an­dria, Vir­gi­nia zum Stu­dio aus­ge­baut und mit sei­nem ver­blie­be­nen Bas­sis­ten Nate Men­del und Tay­lor Haw­kins, dem Schlag­zeu­ger aus der Band von Ala­nis Moris­set­te, noch ein­mal ganz neu ange­fan­gen.

Wenn Du Schlag­zeug ler­nen willst, hör Dir an, was Tay­lor Haw­kins bei „Gene­ra­tor“, „Auro­ra“ oder „Next Year“ macht; wie sei­ne Hän­de wir­beln und gleich­zei­tig über­all zu sein schei­nen; wie er Songs vor­an peitscht, ihnen, den ande­ren Instru­men­ten und vor allem Dave Groh­ls Stim­me aber auch immer genug Raum zum Atmen lässt; wie er, nach­dem er zwölf Tak­te ein­fach nur gera­de einen tigh­ten Beat geklopft hat, plötz­lich für einen Sekun­den­bruch­teil eine drum roll ein­flicht, die klingt wie ein auf der Stel­le tän­zeln­der Boxer — und wie der nächs­te Schlag dann tat­säch­lich wie ein upper cut kommt, der Dich Ster­ne sehen lässt.

In Inter­views und in sei­nem phan­tas­ti­schen Memoir „The Sto­rytel­ler“ erzählt Dave Grohl immer wie­der, dass „The­re Is Not­hing Left To Lose“ sein per­sön­li­ches Lieb­lings­al­bum der Band ist; das, auf das er am stol­zes­ten ist. Es ist eines der weni­gen Alben, die ich mir zum Hun­derts­ten Mal anhö­ren kann und die ers­ten Tak­te sind immer noch so auf­re­gend wie beim aller­ers­ten Hören: Der Ope­ner „Sta­cked Actors“, der mit tro­cken knar­zen­den Gitar­ren und einem trei­ben­den Schlag­zeug beginnt, in den Stro­phen aber eher wie ein ele­gan­ter Stee­ly-Dan-Song vor sich hin wippt. Das schwel­gen­de „Auro­ra“, nach Ansicht der Band einer der bes­ten Songs, den sie je auf­ge­nom­men haben. Das trau­rig schun­keln­de „Ain’t It The Life“, der sich lang­sam auf­rich­ten­de Abschluss­song „M.I.A.“ und natür­lich „Learn To Fly“, „Break Out“ und immer wie­der „Next Year“.

Der Song ist so unty­pisch für die Foo Figh­ters, dass er auf dem ers­ten „Best Of“ nicht ent­hal­ten ist, obwohl er als Sin­gle ver­öf­fent­licht wur­de. Musik­jour­na­lis­ten haben ihn mal als den einen Brit­pop-Song im Gesamt­werk der Band beschrie­ben und tat­säch­lich hat er eine gewis­se Ähn­lich­keit mit „Wha­te­ver“ von Oasis. Noch heu­te hüpft mein Herz jedes Mal, wenn der Song auf dem Album bei 3:48 Minu­ten eigent­lich schon zu Ende ist, aber mit dem zweit­größ­ten Drum-Break nach „In The Air Tonight“ zur Ehren­run­de ansetzt.

Als in den Mor­gen­stun­den des 26. März 2022 die Nach­richt kam, dass Tay­lor Haw­kins im Alter von nur 50 Jah­ren gestor­ben war, fühl­te es sich an, als wäre jemand aus mei­nem Umfeld gestor­ben – nicht unbe­dingt ein Freund, aber jemand, den ich vom Sehen kann­te, den ich von Anfang an moch­te und mit dem ich immer mal ein Bier hät­te trin­ken wol­len. Natür­lich ging ich als ers­tes ins Wohn­zim­mer und dreh­te die Anla­ge laut auf. Und natür­lich war das Album, das ich hör­te, „The­re Is Not­hing Left To Lose“.

Foo Figh­ters – The­re Is Not­hing Left To Lose
(Ros­well Records/​RCA, 2. Novem­ber 1999)
Apple Music
Spo­ti­fy
Ama­zon Music
Tidal

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Leben Musik

25 Jahre „Hallo Endorphin“

Die­ser Ein­trag ist Teil 9 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

...But Alive - Hallo Endorphin (abfotografiert von Lukas Heinser)

Dafür, dass ich in den 1990er Jah­ren in einer Klein­stadt in Nord­rhein-West­fa­len auf­ge­wach­sen bin, fehlt ein wich­ti­ges, eigent­lich natür­li­ches, Puz­zle­teil in mei­ner Pop­kul­tur-Sozia­li­sa­ti­on: Deutsch­punk. Zwi­schen der ZDF-Hit­pa­ra­den-Welt mei­ner Groß­el­tern und dem WDR-2-Pop-Inter­na­tio­na­lis­mus mei­ner Eltern (plus BAP und Grö­ne­mey­er) war kein Platz vor­ge­se­hen für Fehl­far­ben, EA 80 oder Wohl­stands­kin­der und auch nicht für WIZO, Dackel­blut oder Die Gol­de­nen Zitro­nen. Natür­lich fan­den Die Toten Hosen und Die Ärz­te im Musik­fern­se­hen und im Radio statt, aber bei­de Bands haben mich bis heu­te nie inter­es­sie­ren kön­nen (um das mal diplo­ma­tisch aus­zu­drü­cken). Ich mei­ne: Ich lebe seit 20 Jah­ren in Bochum und hab die­sen Som­mer zum ers­ten Mal Die Kas­sie­rer live gese­hen!

Inso­fern waren mir auch …But Ali­ve kein Begriff, als im Spätsommer/​Herbst 2002 plötz­lich alle über kett­car spra­chen. Deren Sän­ger, so lern­te ich, hieß Mar­cus Wie­busch und hat­te zuvor bei eben jenen …But Ali­ve und bei Ran­t­an­plan gesun­gen. Und weil kett­car für mich mit „Du und wie­viel von Dei­nen Freun­den“ ein Tor in eine neue Welt auf­ge­sto­ßen hat­ten (die zu einer jahr­zehn­te­lan­gen Freund­schaft zu ihnen, Thees Uhl­mann und ihrem Label Grand Hotel van Cleef füh­ren soll­te), es aber noch nicht mehr als die­ses Debüt­al­bum gab, brauch­te ich ein Jahr spä­ter Metha­don.

„Hal­lo Endor­phin“ war das vier­te und letz­te Album von …But Ali­ve gewe­sen und in gewis­ser Wei­se das Bin­de­glied zu kett­car: Musi­ka­lisch und text­lich schon recht weit von dem eher klas­si­schen Punk­rock ent­fernt, mit dem die Band ange­fan­gen hat­te. Zwar ging es in man­chen Tex­ten immer noch gegen alles, vor allem gegen gleich­alt­ri­ge Spie­ßer, Pop-Aka­de­mi­ker und Life­style-Lin­ke, aber ande­res war weni­ger kon­kret aus­for­mu­liert. The­men wie Selbst­er­mäch­ti­gung schau­ten genau­so vor­bei wie Tren­nun­gen. Über „Ent­las­sen (Vor der Win­ter­pau­se)“ und „Erin­nert sich jemand an Kal­le ‚del Haye“, in denen Mar­cus Fuß­ball als Bild­spen­der für eine geschei­ter­te Bezie­hung und ent­frem­de­te Freund­schaf­ten habe ich ein paar Jah­re spä­ter in mei­nem Ger­ma­nis­tik-Stu­di­um eine gan­ze Haus­ar­beit geschrie­ben.

Hat­te das kett­car-Debüt mei­nen Steh­satz für Lied­zi­ta­te, die ich im All­tag und in eige­nen Tex­ten unter­brin­gen konn­te, eigent­lich schon bis unter das Dach gefüllt, erwies sich „Hal­lo Endor­phin“ (allein der Album­ti­tel!) als wei­te­rer Stein­bruch für Refe­ren­zen. Schon der Song „Bes­te Waf­fe“ hat mich auf Jah­re mit For­mu­lie­run­gen für Inter­net­fo­ren und ähn­li­che Orte ver­sorgt: „Und da steht Tho­mas Hel­mer – oh nee, doch nicht, sah nur so aus“, „Klar kannst Du Dich mal mel­den, halt nur nicht bei mir“, „Musik­ge­schmack wird über­be­wer­tet“.

Weil ich mir die …But Ali­ve-Dis­ko­gra­fie umge­kehrt chro­no­lo­gisch erschlos­sen habe, blieb „Hal­lo Endor­phin“ immer das Album dazwi­schen: Der Drum­com­pu­ter-Anfang von „Ver­giss den Quatsch“ nimmt „Dei­che“ vor­weg, ein kur­zes Gitar­ren­so­lo in „Fried­lich“ und eine Key­board-Melo­die in „Ent­las­sen (Vor der Win­ter­pau­se)“ täu­schen schon mal die spä­te­re „Lan­dungs­brü­cken raus“-Hook an. Den Sprech­ge­sang wür­de Mar­cus erst auf den spä­te­ren kett­car-Alben wie­der aus­pa­cken, dafür bekommt man bei „Selbst­mit­leid sells“ noch mal Upt­em­po-Punk­rock und bei „Weni­ger als 5 Sekun­den“ etwas, was man eigent­lich nur als Nu-Metal-Ener­gie beschrei­ben kann – was ja 1999 noch nicht so lach­haft war wie zwei, drei Jah­re spä­ter.

Wenn ich recht über­le­ge, knall­ten kett­car und Tom­te in ein sehr kur­zes Zeit­fens­ter, in dem ich mich über­haupt für deutsch­spra­chi­ge Musik inter­es­sie­ren und erwär­men konn­te: Was mit Tom Liwas „St. Amour“ und ein biss­chen Nach­hol-Pro­gramm von Toco­tro­nic und Die Ster­ne im Jahr 2000 begann, ende­te eigent­lich schon wie­der 2005 mit dem zwei­ten Wir-Sind-Hel­den-Album. Dass es Mar­cus Wie­busch mit kett­car geschafft hat, auch 2024 mit „Gute Lau­ne unge­recht ver­teilt“ ein Album zu ver­öf­fent­li­chen, das zu mei­nen High­lights des Jah­res zählt, und sich die Band seit 2017 eigent­lich per­ma­nent selbst über­trifft, kann ich ihnen also gar nicht hoch genug anrech­nen. Neun und zehn und raus!

…But Ali­ve – Hal­lo Endor­phin
(B.A. Records/​Indigo, 20. Sep­tem­ber 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „Reload“

Die­ser Ein­trag ist Teil 8 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Tom Jones - Reload (abfotografiert von Lukas Heinser)

Zum ers­ten Mal von Tom Jones gehört habe ich, wie ver­mut­lich die meis­ten Men­schen mei­ner Gene­ra­ti­on, in „Mars Attacks!“, dem über­se­he­nen Meis­ter­werk von Tim Bur­ton. In dem Film grei­fen Mar­sia­ner die Erde an und sie tun das unter ande­rem in Las Vegas, wäh­rend Tom Jones auf der Büh­ne eines Casi­no-Hotels steht und – natür­lich – „It’s Not Unu­su­al“ singt. Jones spielt sich selbst, er wird im wei­te­ren Ver­lauf des Films mit Annet­te Bening und Janice Rive­ra zu den Tahoe-Höh­len flie­hen und, nach­dem die Mar­sia­ner besiegt sind und ein Fal­ke auf sei­nem Arm gelan­det ist, erneut „It’s Not Unu­su­al“ anstim­men. Eines der Top-10-Enden der Film­ge­schich­te. (Falls Ihr „Mars Attacks!“ noch nie gese­hen habt: Es ist, seit ich mit 13 im Kino war, einer mei­ner abso­lu­ten Lieb­lings­fil­me. Auch mehr als 25 Jah­re spä­ter muss ich immer noch sagen: 10/​10, ein Meis­ter­werk für alle Zei­ten. Guckt ihn Euch an!)

Für mei­ne Eltern und ihre Gene­ra­ti­on war Tom Jones damals im Wesent­li­chen eine etwas abge­half­ter­te Witz­fi­gur, nicht unähn­lich den ehe­ma­li­gen Schla­ger­stars, die bei Baum­artk­er­öff­nun­gen san­gen. Es waren die zyni­schen 1990er und die Qua­li­tä­ten, die es braucht, um Las Vegas resi­den­ci­es und Baum­artk­er­öff­nun­gen zu bestehen, wur­den allen­falls von Götz Als­mann gewür­digt. Da konn­te auch sein Mini-Come­back von 1994 nichts dran ändern, als er gemein­sam mit The Art Of Noi­se „Kiss“ von Prin­ce cover­te und mit sei­ner Ver­si­on für nicht weni­ge Kri­ti­ker das Ori­gi­nal über­traf.

Womög­lich war es eine Mischung aus 1990er-„Ironie“ und Teen­ager-Trotz, aber irgend­wie fand ich Tom Jones cool. Ent­spre­chend über­rascht war ich, als ich im Herbst 1999 in einem Elek­tronik­markt ein neu­es Album von ihm sah, gemein­sam mit Gast­stars wie The Car­di­gans, Rob­bie Wil­liams, Nata­lie Imbru­glia und Sim­ply Red, die mir natür­lich etwas sag­ten. Irgend­wie muss ich auch erkannt haben, dass es sich um jede Men­ge Cover­ver­sio­nen und Neu­ein­spie­lun­gen han­del­te, denn ich war ent­täuscht, dass „It’s Not Unu­su­al“ nicht dabei war, und so habe ich die CD zu die­sem Zeit­punkt nicht gekauft.

Doch dann kam der Auf­tritt bei „Wet­ten, dass ..?“: Nina Pers­son und die Jungs hat­ten sich trotz aller eige­nen Chart­erfol­ge ver­mut­lich nie vor­ge­stellt, ein­mal in die­ser selt­sa­men deut­schen Fern­seh­sen­dung, von der sich inter­na­tio­na­le Stars in first class loun­ges, Fes­ti­val-Back­stage-Berei­chen und bei Preis­ver­lei­hung fas­sungs­los erzäh­len, vor einem spre­chen­den Büh­nen­bild (ja, in der Tat: ein bren­nen­des Haus) einen Auf­tritt mit dem „Tiger“ zu absol­vie­ren, bei dem sie so tun, als wür­den sie gera­de ihre Ver­si­on von „Bur­ning Down The House“ live per­for­men. Ich kann­te das Ori­gi­nal von den Tal­king Heads nicht (und war, als ich es dann end­lich irgend­wann mal hör­te, nicht son­der­lich beein­druckt), aber die­ser Auf­tritt ließ mich direkt am dar­auf­fol­gen­den Mon­tag zu R&K in Dins­la­ken fah­ren und „Rel­oad“ doch noch kau­fen.

Das Album war für mich der Erst­kon­takt mit Acts wie The Divi­ne Come­dy, Baren­aked Ladies, Port­is­head, Cata­to­nia und Ste­reo­pho­nics und die ers­te CD in mei­ner Samm­lung, auf der The Car­di­gans und James Dean Brad­field von den Manic Streets Pre­a­chers zu hören waren – Acts, bei denen ich, wie auch bei Rob­bie Wil­liams, in der Fol­ge einen gewis­sen Hang zum Kom­plet­tis­mus ent­wi­ckeln soll­te. Es mach­te mich nicht nur mit „Bur­ning Down The House“ bekannt, son­dern auch mit Songs wie „All Mine“ (Port­is­head), „Never Tear Us Apart“ (INXS) und wahr­schein­lich auch „Lust For Life“ (Iggy Pop). Kurz­um: Es war ein Crash­kurs in Sachen Pop­kul­tur der vor­an­ge­gan­ge­nen Jahr­zehn­te und der Gegen­wart.

„Are You Gon­na Go My Way“ (Len­ny Kra­vitz) mit Rob­bie Wil­liams wirk­te nicht nur wegen des Titels wie die Über­ga­be eines Staf­fel­stabs. „Some­ti­mes We Cry“ von und mit Van Mor­ri­son, der als Ein­zi­ger einen sei­ner eige­nen Songs sang, rührt mich bis heu­te. James Dean Brad­field von den Manic Streets Pre­a­chers lie­fert bei „I’m Left, You’­re Right, She’s Gone“ (Elvis Pres­ley) eine der bes­ten Gesangs­leis­tun­gen sei­ner Kar­rie­re ab (Tom Jones schreibt, wenn ich das rich­tig erin­ne­re, in sei­ner Auto­bio­gra­phie, dass er Angst hat­te, ein Duett mit einem so begna­de­ten Sän­ger zu sin­gen, und ganz ehr­lich: Wenn Ihr kei­ne Gän­se­haut bekommt, wenn JDBs Stim­me zum ers­ten Mal in den Song rein­grätscht, kann ich Euch auch nicht hel­fen!). Selbst die Ideen, die auf dem Papier schlecht wir­ken, funk­tio­nie­ren im (hof­fent­lich weit auf­ge­dreh­ten) Laut­spre­cher: Soll­te man Iggy Pops „Lust For Life“ covern? Nein. Außer, wenn Chris­sie Hyn­de von The Pre­ten­ders und Tom Jones sin­gen. Dann unbe­dingt.

Dass ein Album mit 17 Tracks so sei­ne Län­gen hat, lässt sich schwer ver­mei­den: „Ain’t That A Lot Of Love“ mit fuck­ing Sim­ply Red? „She Dri­ves Me Cra­zy“ mit Zuc­che­ro? Ist doch schön, wenn Tom Jones so vie­le ange­sag­te Acts zum Mit­wir­ken bewe­gen konn­te!

Der gro­ße Hit, der zu einem spä­ten signa­tu­re song wer­den soll­te, war indes ein ande­rer: „Sex Bomb“, die ein­zi­ge Neu­kom­po­si­ti­on des Albums, aus der Feder des Han­no­ve­ra­ner Musik­pro­du­zen­ten Mousse T., der mit sei­nem Debüt-Hit „Hor­ny ’98“ bereits gezeigt hat­te, dass er stump­fes Rumpf-Gemumpf extrem cool und club­taug­lich klin­gen las­sen konn­te. Heu­te wür­de man anders dar­über den­ken, wenn ein 59-jäh­ri­ger Mann mit gefärb­tem Haupt­haar einer mut­maß­lich sehr viel jün­ge­ren Frau den Refrain „Sex­bomb, sex­bomb you’­re a sex­bomb /​ You can give it to me, when I need to come along /​ Sex­bomb, sex­bomb you’­re my sex­bomb /​ And baby you can turn me on“ ange­dei­hen las­sen woll­te, aber man muss Pop­kul­tur immer aus ihrem Zeit­geist lesen, wenn man sie irgend­wie ver­ste­hen will, und der Zeit­geist der aus­ge­hen­den 1990er Jah­re war eben so, dass ich ihn auf einer Web­site, die auch Min­der­jäh­ri­ge besu­chen kön­nen, schlecht aus­for­mu­lie­ren kann.

Ein­mal ange­fixt, tauch­te ich natür­lich in das Gesamt­werk des wali­si­schen Tigers ein – und, mei­ne Güte, waren da Hits, Hits, Hits! Gut: Die Mör­der­bal­la­de „Deli­lah“ wur­de in den letz­ten Jah­ren von Sport­ver­an­stal­tun­gen ver­bannt und auch die Sujets manch ande­rer Songs sind schlecht geal­tert, aber die­se Stim­me, die immer über irgend­wel­chen Sta­te-of-the-art-Arran­ge­ments schweb­te, lässt zumin­dest mich einen Tacken mehr durch­ge­hen las­sen als es bei ande­ren Acts der Fall wäre.

Tom Jones war – nach den Prin­zen 1994 – tat­säch­lich das zwei­te gro­ße Pop­kon­zert, das ich in mei­nem Leben besuch­te (im Mai 2000 mit mei­nen Eltern und mei­nem Bru­der in der Are­na Ober­hau­sen; das Kon­zert­pla­kat, das mein Vater auf dem Heim­weg von einem Maschen­draht­zaun abmon­tier­te, könn­te immer noch im Kel­ler mei­ner Eltern ste­hen) und auch wenn natür­lich kei­ner der „Reload“-Gäste dabei war, war es ein Erleb­nis. Jones leg­te in der wei­te­ren Fol­ge einen beein­dru­cken­den drit­ten (oder vier­ten oder fünf­ten) Kar­rie­re-Akt hin, indem er auf­hör­te, sei­ne Haa­re zu fär­ben, und begann, Folk- und Ame­ri­ca­na-Alben auf­zu­neh­men (ich habe im letz­ten Jahr zufäl­lig fest­ge­stellt, dass er eine Ver­si­on von „Char­lie Dar­win“ von The Low Anthem ver­öf­fent­licht hat!). Das hat­te Fol­gen, denn als ich ihn zum zwei­ten Mal live sah, spiel­te er die meis­ten sei­ner Klas­si­ker in kaum wie­der­zu­er­ken­nen­den Arran­ge­ments. Das Publi­kum wirk­te ein biss­chen ent­täuscht, aber mit damals schon 79 Jah­ren hat­te er sich das Recht erar­bei­tet, sei­ne Songs der­art zu dylani­sie­ren. Der über­ra­schen­de Ort die­ses über­ra­schen­den Auf­tritts: das Burg­thea­ter Dins­la­ken.

Tom Jones – Rel­oad
(Gut/​V2, 16. Sep­tem­ber 1999)
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Bitte werfen Sie eine Münze ein!

Zu Beginn der Fuß­ball-Euro­pa­meis­ter­schaft der Her­ren ging eine Schal­te des bri­ti­schen „Sky Sports“-Reporters Kaveh Sol­he­kol viral, in der die­ser ein gewis­ses Unver­ständ­nis über die Zustän­de im Spiel­ort Gel­sen­kir­chen zum Aus­druck brach­te. Sky Sports nahm das Video recht schnell wie­der off­line, ich habe bis heu­te kei­ne Kopie davon fin­den kön­nen, aber die Bericht­erstat­tung (inkl. back­lash und zu erwar­ten­der trau­ri­ger Repli­ken loka­ler Medi­en und Per­sön­lich­kei­ten) war enorm. Neben der tris­ten Innen­stadt hat­te Sol­he­kol auch bemän­gelt, dass man fast nir­gend­wo mit Kar­te (gemeint war: mit Kre­dit­kar­te) zah­len kön­ne.

Nun war ich aus offen­sicht­li­chen Grün­den lan­ge nicht in Gel­sen­kir­che­ner Gas­tro­no­mien unter­wegs, aber für die Nach­bar­stadt Bochum kann ich berich­ten: Hier kann man inzwi­schen fast in allen Cafés, Eis­die­len, Bäcke­rei­en und Brat­wurst­bu­den mit Kre­dit­kar­te zah­len, idea­ler­wei­se per Apple Pay – Han­dy dran­hal­ten, fer­tig! Es ist – neben der völ­li­gen Abwe­sen­heit von Ter­mi­nen – eine der weni­gen guten Sachen, die uns die COVID-19-Pan­de­mie gebracht hat­te: Der All­tag ist inzwi­schen der­art durch-digi­ta­li­siert, dass sich Bochum fast wie Schwe­den, Eng­land oder wei­te Tei­le der Nie­der­lan­de anfühlt, was die Ankunft in der Gegen­wart angeht. Man kann sogar Ein­tritts­kar­ten für die Bochu­mer Frei­bä­der vor­ab online kau­fen (was wir erst erfah­ren haben, nach­dem wir 20 Minu­ten in der Mit­tags­son­ne in einer Kas­sen­schlan­ge gestan­den hat­ten, aber: nun gut)!

Kaveh Sol­he­kol und die ange­reis­ten Fuß­ball-Fans soll­ten sich glück­lich schät­zen, wenn sie nicht auf Gebie­ten mit der deut­schen Inter­pre­ta­ti­on des Kon­zepts „Digi­ta­li­sie­rung“ in Kon­takt gekom­men sind, die über das Bezah­len von Essen und Geträn­ken hin­aus­ge­hen.

Ich füh­le mich wie ein Fens­ter­rent­ner, der mit einem Behör­den­schrei­ben in die Kame­ra des Foto­gra­fen der Lokal­zei­tung wedelt, aber die RTL-Ver­brau­cher­sen­dung „Wie bit­te?!“ wur­de vor 25 Jah­ren ein­ge­stellt, von daher müsst Ihr jetzt mit mei­nen läng­li­chen, anek­do­ti­schen Empö­run­gen leben:

Ende April wur­den im Bochu­mer Stell­werk Kup­fer­ka­bel geklaut. Um irgend­wie zur Arbeit nach Köln zu kom­men, nahm ich ein Taxi zum Esse­ner Haupt­bahn­hof und schick­te die Quit­tung über 65 Euro gut gelaunt an die Deut­sche Bahn. Weil angeb­lich noch Unter­la­gen fehl­ten, bekam ich ein Anschrei­ben per Post, auf das ich auch nur per Post ant­wor­ten konn­te (die Unter­la­gen waren frei ver­füg­bar im Inter­net ein­zu­se­hen, ich habe sie also aus­ge­druckt und phy­sisch ver­schickt), und vier Wochen spä­ter eine Ableh­nung, weil angeb­lich wei­te­re Unter­la­gen fehl­ten, nach denen die DB Dia­log GmbH am Anfang gar nicht gefragt hat­te. Ich habe also mit der Hot­line tele­fo­niert, wo die freund­li­che, aber auch etwas hilf­lo­se Mit­ar­bei­te­rin und ich in rund zehn Minu­ten immer­hin das Rät­sel lösen konn­ten, was mit „Feh­len­de Anga­ben und Bele­ge“ eigent­lich gemeint sei (ich konn­te die Anga­ben über­ra­schend per Tele­fon über­mit­teln), und bekam dann ges­tern ein Schrei­ben der Bahn, dass die Bear­bei­tung mei­nes Falls noch ein biss­chen dau­ern kön­ne. Die bezau­bern­den Begrün­dun­gen: Hoch­was­ser und eine „ange­spann­te Betriebs­qua­li­tät“, was natür­lich einer­seits per­fekt zu einem Kon­zern passt, der einen regel­mä­ßig mit Sprach­neu­schöp­fun­gen wie „Ver­zö­ge­run­gen im Betriebs­ab­lauf“ erfreut, ande­rer­seits kaum etwas ande­res bedeu­ten kann als: „Für uns ist alle sieb­te oder ach­te Stun­de, wir gehen kom­plett auf dem Zahn­fleisch, die Ein­spa­run­gen wer­den uns alle töten, bit­te hel­fen Sie uns!“

Ande­res Bei­spiel: Die Deut­sche Post hat­te zwei Brie­fe verloren/​nicht zuge­stellt, in denen die Fir­ma Cong­star mir eine SIM-Kar­te zustel­len woll­te (das ist noch mal ein eige­nes The­ma für sich, eini­gen wir uns auf: die Adres­sie­rung war miss­ver­ständ­lich). Man kann, wenn man ein biss­chen danach sucht, bei der Post online eine sog. „Brief­er­mitt­lung“ beauf­tra­gen und bekommt dann auch eine Bestä­ti­gung per E‑Mail – alles fein. Bis ich dann – pas­sen­der­wei­se am glei­chen Tag wie den letz­ten Brief der Deut­schen Bahn – zwei Brie­fe der Post im Brief­kas­ten hat­te. Dar­in, jeweils: Ein Schrei­ben mit der Bestä­ti­gung, dass ich eine Brief­er­mitt­lung beauf­tragt hat­te inkl. Ent­schul­di­gung und Bit­te um Geduld, auf der Rück­sei­te ein Vor­druck, den ich nut­zen kön­ne, falls der ver­miss­te Brief inzwi­schen ange­kom­men sei – und ein Rück­um­schlag, mit dem ich den Vor­druck dann pos­ta­lisch zurück an die Deut­sche Post schi­cken könn­te.

Am Ende sind es ver­mut­lich wie­der die immer glei­chen Grün­de aus der Büro­kra­tie­höl­le („Doku­men­ten­echt­heit“, „Daten­schutz“, „Haben wir immer schon so gemacht“), aber es ist ja nicht nur die feh­len­de Digi­ta­li­sie­rung, die mich hier ver­zwei­feln lässt: Da wur­den fünf Din-A-4-Blät­ter bedruckt, zwei klei­ne Rück­ant­wort-Kuverts in grö­ße­re Brief­um­schlä­ge gesteckt und das alles wur­de quer durch Deutsch­land trans­por­tiert. Am Ende viel­leicht immer noch umwelt­scho­nen­der als ein AI-Chat­bot, aber eben doch nicht wirk­lich öko­lo­gisch. Und wäh­rend ich anneh­me, dass die Deut­sche Post ihre eige­nen Brie­fe kos­ten­los zustellt, zahlt die Bahn auf alle Fäl­le Por­to – bzw. natür­lich nicht die Bahn selbst, son­dern wir alle, indem wir immer teu­rer wer­den­de Bahn­ti­ckets kau­fen.

Wir schrei­ben das Jahr 2024, 95 Pro­zent der Deut­schen nut­zen das Inter­net „zumin­dest sel­ten“, selbst bei den Per­so­nen über 70 sind es 80 Pro­zent. Das größ­te außer­a­me­ri­ka­ni­sche Soft­ware­un­ter­neh­men, die Num­mer 3 der Welt, kommt aus Deutsch­land und es gibt sicher­lich auch jede Men­ge Soft­ware-Fir­men, die Lösun­gen anbie­ten, die für alle Betei­lig­ten Vor­tei­le bie­ten.

Ich kann es selbst kaum fas­sen, dass ich die fol­gen­den Wor­te, die auch in einen FDP-Mit­glieds­an­trag pas­sen könn­ten, schrei­be, aber: Sobald man sich nur einen Schritt von gewinn­ori­en­tier­ten Unter­neh­men ent­fernt, die in einem ech­ten Wett­be­werb am Markt bestehen müs­sen, muss in die­sem Land immer noch (fast) alles aus­ge­druckt wer­den. (Kei­ne Angst, ich wer­de natür­lich nicht und auf gar kei­nen Fall in die FDP ein­tre­ten. Die stellt ihre Kom­pe­tenz im Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Digi­ta­les und Ver­kehr ja selbst am Bes­ten unter Beweis.)

Und es ist ja nicht so, dass die Deut­sche Bahn ein beson­de­res Herz für jene Leu­te zei­gen wür­de, die sich ohne Smart­phone durchs Leben bewe­gen: Die Bahn­card gibt es zum Bei­spiel nur noch digi­tal. Es sind die­se mixed signals, die alles noch schlim­mer machen.

Die gute Nach­richt, natür­lich: Immer­hin lebe ich nicht in Gel­sen­kir­chen.

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Musik Leben

25 Jahre „The Man Who“

Die­ser Ein­trag ist Teil 7 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Travis - The Man Who (abfotografiert von Lukas Heinser)

Ein aller­letz­tes Mal habe ich die Sin­gle zuerst gehört. Denn das war ja frü­her so: Man kann­te einen Song aus dem Radio (oder Musik­fern­se­hen, um nicht ganz so alt zu erschei­nen) und wenn man dann beschlos­sen hat­te, ver­gleichs­wei­se viel Geld in die CD zu inves­tie­ren, fing das Album meist mit einem Song an, den man (noch) gar nicht kann­te. Man woll­te ja aber end­lich den ver­kaufs­för­dern­den Hit hören, des­sent­we­gen man den Weg zum Plat­ten­la­den auf sich genom­men hat­te. Mit dem Fahr­rad. An einem Sams­tag­vor­mit­tag im Janu­ar. In Dins­la­ken.

Ich weiß noch, wie ich auf der Couch im Wohn­zim­mer mei­ner Eltern lag (dem Drei­sit­zer an der Innen­wand, nicht dem Zwei­sit­zer an der Außen­wand, in case you’­re won­de­ring) und Track 7 aus­ge­wählt hat­te: „Why Does It Always Rain On Me?“, die­se über­le­bens­gro­ße Char­lie-Brown-Ver­lie­rer­hym­ne, die natür­lich direkt zu einem 16-jäh­ri­gen sprach, der sich irgend­wie nie so ganz dazu­ge­hö­rig fühl­te. Und danach dann das Album von vor­ne.

Tra­vis waren einen Monat zuvor – sor­ry, wenn ich mich da wie­der­ho­le – Teil der „Rol­ling Stone Road­show“ gewe­sen und mit Ben Folds Five und Gay Dad durch Deutsch­land getourt. (Ich weiß qua­si nichts über Gay Dad. Ich habe, seit wir im Jahr 2005 die CD-Schrän­ke bei CT das radio auf­ge­räumt haben, sogar ihr 1999er Album „Lei­su­re Noi­se“ im Regal ste­hen, aber in all den Jah­ren nie gehört. Wenn man über­legt, wel­che Bedeu­tung Ben Folds Five und Tra­vis in der Fol­ge in mei­nem Leben ein­neh­men soll­ten, ist es eigent­lich wahl­wei­se ein Wun­der oder eine Schan­de, dass Gay Dad als fünf­tes Rad am Wagen der­art an den Rand gedrängt wur­den. Ich ver­spre­che Euch jetzt ein­fach mal, dass ich zum 25. Jah­res­tag des ver­häng­nis­vol­len, nicht besuch­ten Kon­zerts in der Live Music Hall am 29. Novem­ber zum ers­ten Mal bewusst Gay Dad hören und hier dar­über schrei­ben wer­de!) „Why Does It Always Rain On Me?“ kann­te ich von Viva 2, obwohl ich das damals gar nicht gucken konn­te, und ich moch­te die Mischung aus unver­kenn­ba­rer Lebens­en­er­gie (der Rhyth­mus!) und Trau­rig­keit (alles ande­re).

Stell­te sich raus: Mit sei­nem hüpf­ba­ren Rhyth­mus war der Song noch der kla­re upper auf dem Album. Alle ande­ren Songs schlepp­ten sich eher dahin, kro­chen oder tau­mel­ten. Selbst der ein­zi­ge objek­ti­ve Rock­song auf „The Man Who“, der hid­den track „Blue Flas­hing Light“, dreht sich schwind­lig auf der Stel­le und han­delt davon, dass jemand allein zuhau­se sitzt, wäh­rend alle ande­ren fei­ern gehen. Wer weiß, wie ich das Album gefun­den hät­te, wenn ich es bei Ver­öf­fent­li­chung im Mai 1999 gehört hät­te – in den grau­en ers­ten Wochen des Jah­res 2000 pass­te es jeden­falls per­fekt zum Wet­ter und dem Mill­en­ni­umska­ter, der sich über die Welt gelegt hat­te: Die Zukunft hat­te ganz ein­deu­tig und aus­weis­lich des Kalen­ders begon­nen, aber alles war immer noch wie zuvor. Das Theo­dor-Heuss-Gym­na­si­um in Dins­la­ken war kein Ort, an dem Opti­mis­mus und Zuver­sicht (oder auch nur irgend­et­was ande­res als gene­rel­ler Welt­schmerz) gedei­hen und auf­blü­hen konn­ten.

Ich hat­te gera­de im Janu­ar (genau­er: am 7., als ich mir bei einem Aus­flug nach Essen den Sound­track zu „Abso­lu­te Gigan­ten“ gekauft hat­te) begon­nen, abends zum Ein­schla­fen Musik auf mei­nem Disc­man zu hören. Nicht etwa gan­ze Alben, son­dern drei Songs, sau­ber kura­tiert. „The Man Who“ bot sehr vie­le die­ser Songs. Noch heu­te kommt eine gan­ze Wel­le sehr spe­zi­fi­scher Emo­tio­nen hoch, wenn das Intro von „Drift­wood“, die ers­ten Tak­te von „Turn“ oder das Gitar­ren­so­lo aus „As You Are“ erklin­gen. Es ist wie­der Anfang 2000 und ich war vor ein paar Tagen mit mei­nem Papa und mei­nen Freun­den in die Groß­stadt (Duis­burg) gefah­ren, um im dor­ti­gen Art­house-Kino „Ghost Dog“ von Jim Jar­musch oder „The Mil­li­on Dol­lar Hotel“ von Wim Wen­ders zu sehen – Fil­me, die im Kern schon irgend­wie lebens­be­ja­hend sind, aber in ers­ter Linie schwel­ge­risch, melan­cho­lisch, lang­sam und rät­sel­haft. (Und falls sich jemand gefragt hat: Natür­lich habe ich an mei­nem 17. Geburts­tag um kurz nach Mit­ter­nacht „Why Does It Always Rain On Me?“ gehört, des­sen titel­ge­ben­de Fra­ge ja wei­ter­geht: „Is it becau­se I lied when I was seven­teen?“)

„Ever­y­day I wake up alo­ne becau­se /​ I’m not like all the other boys“, singt Fran Hea­ly zu Beginn von „As You Are“ und die­se Zei­le soll­te mir in den kom­men­den Jah­ren so etwas wie Man­tra und Trost wer­den, ste­ter Beglei­ter beim Melo­dra­ma­tisch-unglück­lich-ver­liebt-Sein, Die Lei­den des jun­gen Hein­sers. (Alter Vat­ter, was bin ich froh, dass die­se Zei­ten vor­bei sind! Kin­der, wenn Ihr glaubt, dass Euer Leben nur mit einem ande­ren Men­schen an Eurer Sei­te „gut“ und „rich­tig“ wer­den kann: Sucht Euch Hil­fe! Ihr wer­det geliebt, Ihr seid lie­bens­wert, aber die Exis­tenz oder Nicht­exis­tenz einer Zwei­er­be­zie­hung ist in die­sem Kon­text eben genau: zweit­ran­gig.)

Viel­leicht wäre ich auch ohne „The Man Who“ auf die Idee gekom­men, Musik zu machen, Schlag­zeug in einer Band zu spie­len, mir selbst Gitar­re bei­zu­brin­gen und eige­ne Songs zu schrei­ben. Die hät­ten aber zumin­dest sehr anders geklun­gen, denn Tra­vis waren, was trau­rig-antriebs­lo­se Songs in G‑Dur betrifft, ein gro­ßer Ein­fluss. Weil ich wuss­te, dass die Band­mit­glie­der Joni Mit­chell so sehr lie­ben, habe ich mit 18 ange­fan­gen, Joni Mit­chell zu hören. Ich hat­te sogar so einen faux hawk wie Fran Hea­ly (oder wahl­wei­se David Beck­ham)! Chris Mar­tin hat mal gesagt, dass es ohne Tra­vis kein Cold­play gege­ben hät­te, aber den vier Schot­ten jetzt die Schuld an der wei­te­ren Ent­wick­lung sei­ner Kapel­le zu geben, wäre auch üble Nach­re­de.

Im Juni 2001 erschien der Nach­fol­ger „The Invi­si­ble Band“, der heu­te eigent­lich einen noch grö­ße­ren Stel­len­wert bei mir hat. Als wir erst­mal schnel­les Inter­net hat­ten, habe ich alle, wirk­lich alle B‑Seiten, die Tra­vis jemals auf ihren Sin­gles ver­öf­fent­licht hat­ten, zusam­men­ge­sam­melt und sicher­lich öfter gehört als gro­ße Tei­le ihres Spät­werks. („Die B‑Seiten bri­ti­scher Gitar­ren­bands zwi­schen 1994 und 2002 sind bes­ser als alles, was nach 2005 von der Insel kam“ ist ein immer noch nicht geschrie­be­ner, aber in regel­mä­ßi­gen Abstän­den nam­haf­ten deut­schen Publi­ka­tio­nen ange­bo­te­ner Text von mir.) Ich habe Tra­vis zwi­schen Som­mer 2001 und Dezem­ber 2016 sie­ben Mal live gese­hen (ein­mal sogar tat­säch­lich am glei­chen Abend wie Ben Folds) und ein paar Mal kurz gespro­chen; im Sep­tem­ber könn­te ein ach­tes Mal hin­zu­kom­men. Ihre letz­ten Alben haben mich gar nicht mehr inter­es­siert, aber wenn einem eine Band mal so wich­tig war, ver­sucht man es ja doch immer wie­der.

Und irgend­ei­ne beson­de­re Bezie­hung muss es immer noch geben: Ich hät­te die­sen Text hier eigent­lich ges­tern schon schrei­ben wol­len, aber nicht die Zeit gefun­den. Da hät­te aber auch die Son­ne geschie­nen. Heu­te passt hin­ge­gen alles: Der VfL Bochum ist so gut wie abge­stie­gen und es reg­net. Weil ich mit 17 gelo­gen habe.

Tra­vis – The Man Who
(Inde­pen­di­en­te; 24. Mai 1999)
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25 Jahre „Play“

Die­ser Ein­trag ist Teil 6 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Moby - Play (abfotografiert von Lukas Heinser)

Am Anfang waren die Songs. Ich weiß gar nicht, wel­che alle als Sin­gle aus­ge­kop­pelt wur­den und wo ich sie viel­leicht gehört habe – am Ende ist es auch egal, denn „Play“ ging ja auch des­halb in die Geschichts­bü­cher ein, weil es das ers­te kom­plett durch­li­zen­zier­te Album war: Jeder ein­zel­ne Track wur­de für (min­des­tens) einen Wer­be­spot, einen Film und/​oder eine Serie ver­wen­det. Im Radio und in Cafés lau­fen die Songs eh immer noch rauf und run­ter, als sei­en sie Teil des dor­ti­gen Sound-Designs. (Selbst als ich ver­gan­ge­ne Woche dem Deutsch­land­funk Kul­tur ein Inter­view zum ESC in Mal­mö gege­ben habe, lief vor dem Gespräch irgend­ein Song aus die­sem Album. Es zahlt ein biss­chen auf mei­ne hier auf­ge­stell­te Muzak-The­se ein, dass ich nicht sagen kann, wel­cher, aber ich bin mir abso­lut sicher, dass es einer von die­sem Album war.)

Gekauft hab ich „Play“ von Moby auch erst etwa andert­halb Jah­re nach dem Release – obwohl die­se Songs damals schon all­ge­gen­wär­tig schie­nen. Das Kon­zept, Musik zu „besit­zen“ ist im Jahr 2024 ja nicht nur Nach­ge­bo­re­nen schwer zu ver­mit­teln, son­dern fast allen, aber es war eben unab­ding­bar, 30,99 D‑Mark für die­se CD zu bezah­len, sie im Ruck­sack auf dem Rücken mit dem Fahr­rad vom R&K‑Markt nach Hau­se zu fah­ren und dann ins DVD-Rom-Lauf­werk des Com­pu­ters zu schie­ben, um sie über die PC-Boxen abzu­spie­len. Opa erzählt vom Frie­den.

Obwohl ich die vor­he­ri­gen Hit-Sin­gles von Moby schon aus „Hit-Clip“, von 1Live und von „Bra­vo Hits“ kann­te, umweh­te die­se Musik etwas Erwach­se­nes, ja, regel­recht: Kos­mo­po­li­ti­sches. So, dach­te ich damals, klingt Dins­la­ken nicht. Der Big Beat von „Body­rock“ und „Mache­te“, die Blues- bzw. Gos­pel-Samples von „Honey“ und „Run On“, die Kaf­fee­haus-Elec­tro­ni­ca von „7“ und „Down Slow“ – so etwas kann­te man in der Klein­stadt nur aus dem Fern­se­hen. (Heu­te hat Dins­la­ken sei­ne eige­nen Hips­ter-Sze­nen und ‑Knei­pen und die­se Ent­wick­lung ist durch­aus zu begrü­ßen, bremst sie doch die Gen­tri­fi­zie­rung in den Groß­städ­ten wenigs­tens mini­mal ab.)

Moby selbst war bekannt als der knuf­fi­ge, aus­ge­sucht freund­li­che, manch­mal ein ganz klei­nes biss­chen ner­ven­de Vega­ner mit der Glat­ze. Womög­lich hät­te man ahnen kön­nen, dass bei ihm nicht alles im Lot war und er mit psy­chi­schen Pro­ble­men, Alko­hol und ande­ren Dro­gen kämpf­te; „Play“ war ein eher melan­cho­li­sches Par­ty-Album, vor allem in der zwei­ten Hälf­te. Und allein die Song­ti­tel: „Why Does My Heart Feel So Bad?“, „Natu­ral Blues“, „My Weak­ne­ss“. Aber als schwer­mü­ti­ger 17-jäh­ri­ger Indi­vi­dua­list bezieht man das alles natür­lich aus­schließ­lich auf sich selbst und denkt nicht mal an den Künst­ler.

„Play“ war da schon lan­ge ein unfass­ba­rer welt­wei­ter Erfolg und alle Labels, die das Album abge­lehnt hat­ten, hat­ten sich viel­leicht kurz geär­gert. Moby, des­sen Out­put bis dahin eher eklek­tisch gewe­sen war, hat­te sei­ne Nische gefun­den und lie­fert seit­dem ver­läss­lich den Sound­track zu Wer­be­spots, Seri­en, Fil­men und Leben.

Moby – Play
(Mute/​PIAS; 17. Mai 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „The Ego Has Landed“

Die­ser Ein­trag ist Teil 5 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Robbie Williams - The Ego Has Landed (abfotografiert von Lukas Heinser)

Was für ein merk­wür­di­ges Album: Um das ehe­ma­li­ge Take-That-Mit­glied Rob­bie Wil­liams auch auf dem ame­ri­ka­ni­schen Markt groß zu machen, hat­te Capi­tol Records ein­fach Songs sei­ner ers­ten bei­den Alben zusam­men­ge­wür­felt und auf den Markt gebracht. Das Gan­ze war natür­lich gar nicht für euro­päi­sche Plat­ten­lä­den gedacht gewe­sen und ent­spre­chend teu­er und schwer zu bekom­men, aber ande­rer­seits hat­te man alle Hits und ein paar unbe­kann­te­re Songs auf einem Album. Klar, dass ich mir das zu mei­nem 16. Geburts­tag wün­schen muss­te!

Mei­ne liebs­ten Boy­bands der 1990er Jah­re: 1. East 17, 2. Boy­zo­ne, 3. Take That. Natür­lich waren die Kon­ven­tio­nen zu die­ser Zeit noch so, dass man als Jun­ge mit 12, 13 Jah­ren eine sol­che Boy­band eher doof zu fin­den hat­te, und so war Rob­bie Wil­liams schon dadurch cool gewor­den, dass er die­se Band ver­las­sen hat­te.

Aber auch die Sin­gles, die man danach von ihm im Radio hören konn­te, waren gut. Für einen Jun­gen, der über die Hits von Oasis, Blur und The Light­ning Seeds gera­de mit dem Kon­zept „Brit­pop“ in Kon­takt gekom­men war, waren Songs wie „Strong“, „No Reg­rets“ oder „Old Befo­re I Die“ kon­se­quen­te Ergän­zun­gen – und auch heu­te hal­te ich „Strong“ immer noch für einen der bes­ten Oasis-Songs, den Noel Gal­lag­her nie geschrie­ben hat.

Was für ein groß­ar­ti­ges Album: Da waren nun wirk­lich die gan­zen Hits, die ich aus dem Radio kann­te, plus so deep cuts wie „Win Some Lose Some“, „Jesus In A Cam­per Van“ (ein Song, der spä­ter wegen Urhe­ber­rechts­strei­tig­kei­ten aus Wil­liams‘ gesam­tem Schaf­fen gelöscht wur­de) und „Kar­ma Kil­ler“ (eine von Strei­chern ange­trie­be­ne Alter­na­ti­ve-Rock-Abrech­nung mit dem ehe­ma­li­gen Take-That-Mana­ger Nigel Mar­tin-Smith). Im Herbst 1999 wur­de „The Ego Has Lan­ded“ (Ent­schul­di­gung, was ist das über­haupt für ein genia­ler Album­ti­tel?!) mein treu­es­ter Beglei­ter und noch heu­te kommt „No Reg­rets“ für mich nach „Mill­en­ni­um“ und nicht wie auf dem ori­gi­na­len Album „I’ve Been Expec­ting You“ davor.

Natür­lich habe ich mir spä­ter doch noch die bei­den Alben „Life Thru A Lens“ und „I’ve Been Expec­ting You“ gekauft, so wie ich mir zwi­schen 2001 und 2006 alle Sin­gles und bis 2013 alle Alben gekauft habe. Zwi­schen 2000 und unge­fähr 2005 war Rob­bie Wil­liams, das ist für Nach­ge­bo­re­ne auch nur noch schwer vor­stell­bar, unan­ge­foch­ten das, was man eigent­lich immer über Micha­el Jack­son gesagt hat­te: King of Pop. (War­um er erst 2012 ein Album „Take The Crown“ genannt hat, weiß er auch nur selbst.) Es gab gan­ze Rob­bie-Tage bei MTV und er ist bis heu­te der ein­zi­ge Act, für den ich an einem Sams­tag­mor­gen um halb Acht auf­ge­stan­den bin, um in einem phy­si­schen Ticket-Shop Kon­zert­kar­ten zu erwer­ben. Ent­spre­chend bedrü­ckend fand ich es, in der Net­flix-Doku-Serie über sein Leben zu erfah­ren, dass er, als er uns um die Jahr­tau­send­wen­de so viel Freu­de und so vie­le Ever­greens berei­tet hat, eigent­lich die gan­ze Zeit unglück­lich war. Dabei hat­te er uns das – „You think that I’m strong /​ You’­re wrong“ – ja auch immer gesagt.

Für jeman­den, der sich Weiß-Gott-was auf sei­nen Musik­ge­schmack jen­seits des Main­streams ein­ge­bil­det hat, war Rob­bie Wil­liams natür­lich auch immer ein Anknüp­fungs­punkt zu den Mäd­chen der eige­nen Jahr­gangs­stu­fe. Er war einer der weni­gen Radio-Acts, die einen coo­ler mach­ten, wenn man signa­li­sier­te, sei­ne Musik zu hören. Es gibt so vie­le sei­ner Songs aus die­ser Zeit, deren Tex­te schon damals zu mir spra­chen und es auch heu­te noch tun, dass es sich, wenn ich sie heu­te höre, fast so anfühlt, als könn­ten der 40-jäh­ri­ge Lukas und sein 16-jäh­ri­ger Vor­gän­ger durch die Musik mit­ein­an­der spre­chen.

Als der über­trie­ben kum­pe­li­ge Mode­ra­tor auf WDR 4 (of all places), vor eini­ger Zeit „Feel“ als „einen der Klas­si­ker von Rob­bie Wil­liams“ ankün­dig­te, dach­te ich, ernst­haft über­rascht: „Für mich ist ‚Esca­po­lo­gy‘ immer noch das ‚neue‘ Album!?“ Es erschien im Herbst 2002.

Fol­gen­de wah­re Geschich­te: Als ich Neil Han­non von The Divi­ne Come­dy im Jahr 2006 inter­viewt habe, hab ich ihn natür­lich auch auf „No Reg­rets“ ange­spro­chen – und war­um er so viel schwie­ri­ger zu hören sei als der ande­re Gast-Sän­ger, Neil Ten­n­ant von den Pet Shop Boys. Han­non erzähl­te mir, dass Ten­n­ant zufäl­lig im Stu­dio gewe­sen sei, als der Song gemischt wur­de, und den Audio-Inge­nieur ein­fach gebe­ten habe, die eige­ne Spur ein wenig lau­ter zu dre­hen. Ich habe die­se Anek­do­te nicht zu veri­fi­zie­ren ver­sucht, weil ich den Rock’n’Roll-Mythos dahin­ter nicht zer­stö­ren woll­te.

Rob­bie Wil­liams – The Ego Has Lan­ded
(Chrysalis/​Capitol, 4. Mai 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“

Die­ser Ein­trag ist Teil 4 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Ben Folds Five - The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner (abfotografiert von Lukas Heinser)

Bis­her spiel­ten die Geschich­ten die­ser Rei­he ja alle­samt nicht im Jahr 1999 und ich den­ke, ich ver­ra­te nicht zu viel, wenn ich sage, dass die meis­ten wei­te­ren Kapi­tel über die wich­tigs­ten Alben die­ses Jah­res auch spä­ter spie­len wer­den. Schon in die­ser Hin­sicht ist das heu­ti­ge Album ein beson­de­res. Aber auch in fast jeder ande­ren.

Man kann das jun­gen Men­schen ja nur noch schwer ver­mit­teln, aber es gab eine Zeit, da stan­den einem das Wis­sen und die Kul­tur­gü­ter die­ser Welt nicht jeder­zeit kos­ten­los von zuhau­se aus zur Ver­fü­gung – man muss­te dafür wäh­rend der Öff­nungs­zei­ten die ört­li­che Stadt­bi­blio­thek auf­su­chen. Weil mei­ne Mut­ter immer in sol­chen Ein­rich­tun­gen gear­bei­tet hat­te (erst in Mül­heim an der Ruhr, dann in Dins­la­ken), bin ich qua­si dort auf­ge­wach­sen und mit den Büchern, Zeit­schrif­ten, VHS-Kas­set­ten, Audio­kas­set­ten und spä­ter auch CDs.

Ich weiß nicht mehr das genaue Datum, aber der 26. April war es nicht (da kam das Album in Deutsch­land ja gera­de erst in die Läden, ich war nach­mit­tags mit Ste­fan T. in der Licht­burg „The Facul­ty“ gucken und mon­tags hat die Stadt­bi­blio­thek Dins­la­ken seit jeher geschlos­sen), als ich in der durch­aus beein­dru­cken­den CD-Abtei­lung bei den Neu­erschei­nun­gen die­ses Album mit dem merk­wür­di­gen, sper­ri­gen Namen sah. Ben Folds Five hat­te ich im Jahr zuvor auf dem Sound­track zu Roland Emme­richs „God­zil­la“ ken­nen­ge­lernt (der Hype war damals enorm gewe­sen, der Film eher egal, aber das Sound­track-Album stell­te auch noch mei­nen Erst­kon­takt mit den Wall­flowers, Jami­ro­quai, Rage Against The Machi­ne und Micha­el Penn dar), also nahm ich „The Unaut­ho­ri­zed Bio­gra­phy Of Rein­hold Mess­ner“ mit nach Hau­se. Ich erin­ne­re mich nicht unbe­dingt an die aller­ers­te lis­tening ses­si­on (die Chan­cen ste­hen gut, dass es nach der Schu­le wäh­rend des Mit­tag­essens war, das – seit mei­ne Eltern eine Mikro­wel­le mit einer soge­nann­ten Crunch-Funk­ti­on hat­ten – gefühlt jeden Tag aus Tief­kühl­piz­za Capric­cio­sa aus dem Aldi bestand), aber es ist in der Rück­schau schon erstaun­lich, dass mich der jaz­zi­ge, manch­mal Kam­mer­pop-arti­ge Sound die­ser Band nicht über­rasch­te oder gar abschreck­te. Ich wuss­te noch nicht viel über Musik und das muss­te wohl so.

Ich wuss­te auch noch nicht viel über Ben Folds Five. Dass es sich trotz des Band­na­mens um ein Trio han­del­te, konn­te ich mir auf­grund der Cre­dits und des Band­fo­tos im Book­let zusam­men­rei­men. Dass da gar kei­ne Gitar­ren zu hören waren, auch (ich wuss­te, wie gesagt, wirk­lich noch nicht viel über Musik und beim Hören allein wäre es mir wohl nicht auf­ge­fal­len). Auf dem Band­fo­to begut­ach­te­ten zwei der Band­mit­glie­der (Sänger/​Pianist Ben Folds und Bas­sist Robert Sledge) ihre Fin­ger­nä­gel, was mir aus­ge­spro­chen gut gefiel, und im Book­let erklär­te die Band eben­falls, dass sie (Ame­ri­ka­ner!) gar nicht gewusst hät­ten, dass Rein­hold Mess­ner ein berühm­ter Berg­stei­ger sei – die­ser exo­tisch klin­gen­de Name sei ein­fach das gewe­sen, was Schlag­zeu­ger Dar­ren Jes­see und sei­ne Freun­de im Feld „name:“ auf ihren gefälsch­ten Füh­rer­schei­nen (also dem ame­ri­ka­ni­schen Äqui­va­lent zum Per­so­nal­aus­weis) ste­hen gehabt hät­ten, als sie noch zu jung waren, um mit ech­ten Doku­men­ten in eine Bar gehen zu dür­fen.

Ich hör­te das Album viel in die­sem Sum­mer of ’99. Sehr viel. Ich hat­te noch nicht sehr vie­le eige­ne CDs; neben Film-Sound­tracks waren „May­be You’­ve Been Brain­wa­shed Too“ von den New Radi­cals, „Syn­kro­ni­zed“ von Jami­ro­quai und „TUBORM“, wie wir Ben-Folds-Fans es spä­ter in den Online-Foren nen­nen soll­ten, im Wesent­li­chen das, wor­aus ich zu die­ser Zeit aus­wäh­len konn­te.

Im zwei­wö­chi­gen Som­mer­ur­laub in – natür­lich! – Dom­burg ent­wi­ckel­te ich die Ange­wohn­heit, mei­ne Tage all­abend­lich im Bett mit drei Songs aus mei­nem Disc­man zu beschlie­ßen: „Chan­ges“ von 2Pac, das damals ein ziem­li­cher Hit und auf dem 2Pac-Best-Of ent­hal­ten war, das mir mein bes­ter Freund für den Urlaub gelie­hen hat­te, zwei­mal hin­ter­ein­an­der und dann „Lul­la­bye“, der clo­ser die­ses Rein­hold-Mess­ner-Albums. In den Herbst­fe­ri­en in einer Jagd­hüt­te im Huns­rück wuchs mir dar­über­hin­aus „Your Red­neck Past“ ans Herz, einer der rocki­ge­ren Songs, des­sen genaue lyri­sche Bedeu­tung sich mir bis heu­te nur unzu­rei­chend erschließt. Auch das muss­te wohl so.

Wenn ich mir „The Unaut­ho­ri­zed Bio­gra­phy Of Rein­hold Mess­ner“ heu­te anhö­re, bin ich erstaunt, wie melan­cho­lisch, gera­de­zu depres­siv das Album klingt. Zwar hat Ben Folds zuvor und danach bewie­sen, dass er sich ganz groß­ar­tig Geschich­ten aus­den­ken kann, aber auf die­sem Album han­deln fast alle Songs vom Schei­tern, Ver­sa­gen oder Ster­ben und das Lyri­sche Ich zieht sich selbst der­art durch den Staub, dass da schon mehr dahin­ter­ste­cken muss­te. Musi­ka­lisch ist das zwei­fels­oh­ne ganz gro­ße Song­wri­tin­g­kunst, hand­werk­lich gekonnt umge­setzt, aber eigent­lich nicht das, womit 16-Jäh­ri­ge zu einer Band fin­den soll­ten. Wie „anders“ das Album auch für die Band selbst war, ver­stand ich erst, als ich mir ihr sons­ti­ges Schaf­fen erschlos­sen hat­te, aber es ist eines die­ser Alben, von denen ich jeden ein­zel­nen Ton ken­ne, jedes Knar­ren des Schlag­zeug­ho­ckers, jeden Blä­ser­satz und jede Zei­le Text. Ich woh­ne seit acht Jah­ren in mei­ner Woh­nung und lau­fe immer noch min­des­tens ein­mal pro Woche gegen einen Tür­rah­men, aber in mei­nem Eltern­haus kann ich zur Not betrun­ken im Dun­keln die Trep­pe hoch­ge­hen und fin­de pro­blem­los den Weg in mein altes Kin­der­zim­mer. Genau so fühlt sich die­ses Album für mich an. Selbst der „Hos­pi­tal Song“, der nur eine Stro­phe hat, und das aus­ufern­de Qua­si-Instru­men­tal­stück „Your Most Valuable Pos­ses­si­on“, das die Band im Stu­dio zu einer Art spo­ken word per­for­mance impro­vi­sier­te, die Ben Folds‘ Vater Dean sei­nem Sohn zu nächt­li­cher Stun­de auf dem Anruf­be­ant­wor­ter (goo­gelt das, GenZ!) hin­ter­las­sen hat­te, müs­sen genau so.

Die CD aus der Stadt­bi­blio­thek („Leih­frist: vier Wochen, Ver­län­ge­rung zwei Mal mög­lich“) beglei­te­te mich eigent­lich durch den Rest des Jah­res, bis ich bei der Erstel­lung mei­nes weih­nacht­li­chen Wunsch­zet­tels „Alle bis­her erschie­ne­nen Alben von Ben Folds Five“ schrieb. Weil das Book­let der Büche­rei-Ver­si­on so vie­le Rei­sen mit mir unter­nom­men hat­te, regel­te mei­ne Mut­ter das auf der Arbeit sogar so, dass die­ses Book­let gelöscht und durch die in der für mich als Geschenk gekauf­ten CD-Hül­le ent­hal­te­ne Ver­si­on ersetzt wur­de. Ich durf­te also das Book­let behal­ten, mit dem ich schon so viel Zeit ver­bracht hat­te.

Als ich mei­ne eige­ne Ver­si­on des Albums zu Weih­nach­ten bekam, war die „Rol­ling Stone Road­show“ schon Geschich­te: Im Namen des Musik­ma­ga­zins waren Ben Folds Five, Tra­vis und Gay Dead durch die Bun­des­re­pu­blik getourt und hat­ten am 29. Novem­ber 1999 in der Köl­ner Live Music Hall gespielt. Ich hat­te es mir notiert und dann gedacht: „Ach, mit dem Zug abends allei­ne nach Köln und zurück – die wer­den schon noch mal wie­der­kom­men!“ Ich hat­te end­lich eine Lieb­lings­band. Weni­ger als ein Jahr spä­ter lös­ten sich Ben Folds Five auf, aber das habe ich schon ein paar mal auf­ge­schrie­ben.

„The Unaut­ho­ri­zed Bio­gra­phy Of Rein­hold Mess­ner“ hat kei­ne Hits im eigent­li­chen Sin­ne. Der Song „Army“ ist – vor allem wegen des vom Publi­kum gesun­ge­nen Blä­ser-Arran­ge­ments – auch heu­te noch ein Ereig­nis bei jedem Kon­zert von Ben Folds. Aber der Song, der mich von Anfang an am Meis­ten gepackt hat, ist „Magic“: ein schlep­pen­der Wal­zer; das ein­zi­ge Lied auf dem Album, das Schlag­zeu­ger Dar­ren Jes­see geschrie­ben hat, und in dem sich die Trau­er um einen ver­stor­be­nen Men­schen und das Wis­sen, dass die­se Per­son es hin­ter sich hat, auf ganz wun­der­ba­re Wei­se ver­mi­schen. Die­ser Song hat, bevor über­haupt irgend­je­mand aus mei­nem nähe­ren Umfeld gestor­ben war, mir immer Hoff­nung gege­ben. Und nach­dem mei­ne Omi vor andert­halb Jah­ren gestor­ben war, wuss­te ich plötz­lich ganz genau, wel­chen Song­text ich auf Insta­gram zitie­ren wür­de.

Saw you last night
Stars in the sky
Smi­led in my room

Ben Folds Five – The Unaut­ho­ri­zed Bio­gra­phy Of Rein­hold Mess­ner
(550/​Caroline Music; 26. April 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „Equally Cursed And Blessed“

Die­ser Ein­trag ist Teil 3 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Catatonia - Equally Cursed And Blessed (abfotografiert von Lukas Heinser)

Radio Boh­len, jeden­falls, schloss im Som­mer 2001 für immer sei­ne Türen. Der Ort, an dem mei­ne Eltern (und Groß­el­tern) nahe­zu alle Fern­se­her, Video­re­cor­der und Ste­reo­an­la­gen gekauft hat­ten, und an dem ich auch ein paar CDs erstan­den hat­te (ein ganz paar: R&K und Kar­stadt waren meist güns­ti­ger gewe­sen – und ich hat­te die Prei­se natür­lich oft ver­gli­chen), mach­te nach Jahr­zehn­ten dicht. Der Ver­kaufs­raum war eine die­ser 1950er-Jah­re-Extra­va­gan­zen gewe­sen, die man zu ebe­ner Ebe­ne betrat (Kas­se, Kopf­hö­rer und ande­res Zube­hör), um dann wahl­wei­se eine hal­be Eta­ge hin­ab- (Fern­se­her, Ste­reo­an­la­gen, Boxen, Laser­disc-Play­er) oder hin­auf­zu­stei­gen (CDs, Band-T-Shirts, Pos­ter und letz­te Vinyl-Schall­plat­ten, die damals wirk­lich out waren). Abso­lut nicht bar­rie­re­frei (dabei hat­te Deutsch­land in den 1950er Jah­ren über einen außer­ge­wöhn­lich hohen Bevöl­ke­rungs­an­teil von Men­schen mit feh­len­den Glied­ma­ßen ver­fügt) und beim anschlie­ßen­den Umbau zu einem DM ordent­lich nivel­liert (schö­ne 50er-Jah­re-Trep­pen­ge­län­der kann man sich schließ­lich auch woan­ders anschau­en).

Die letz­te CD, die ich bei einer die­ser für alle Betei­lig­ten immer etwas ent­wür­di­gen­den, Aus­ver­kauf gehei­ße­nen, Lei­chen­fled­de­rei­en erstand (und das unge­hört), war „Equal­ly Cur­sed And Bles­sed“, das drit­te Album der wali­si­schen Band Cata­to­nia. Die hat­te ich, wie schon die Ste­reo­pho­nics, als Gäs­te auf dem Tom-Jones-Kar­rie­re-Revi­ta­li­sie­rungs­werk „Rel­oad“ ken­nen­ge­lernt und es muss, wenn ich mich nicht sehr irre, der ers­te Act mit weib­li­cher Stim­me gewe­sen sein, der sei­nen Weg in mei­ne CD-Samm­lung fand. Kos­te­te glaub ich auch nur noch acht Mark oder so.

Was mich zuhau­se beim ers­ten Hören erwar­te­te war das, was ich mir als Noch-nicht-18-Jäh­ri­ger unter „Musik für Erwach­se­ne“ vor­stell­te: ein biss­chen über­dreh­ter, ein biss­chen coo­ler und ein biss­chen cle­ve­rer als das, was meist auf 1Live und WDR2 lief. Ich mal­te mir aus, dass Men­schen um die 30, die in schi­cken Apart­ments in Lon­don wohn­ten und in den Medi­en arbei­te­ten, sol­che Musik bei ihren din­ner par­ties auf­le­gen wür­den. Aus irgend­ei­nem Grund stell­te ich mir ziem­lich genau das Set­de­sign der „About A Boy“-Verfilmung vor, ein Jahr, bevor der Film raus­kam.

Sän­ge­rin Cerys Matthews hat­te eine Stim­me, die klang, als hät­te Tiffy aus der „Sesam­stra­ße“ mit dem Trin­ken und Rau­chen ange­fan­gen, und sie sang bis­si­ge, gelang­weil­te Gesell­schafts­kom­men­ta­re; man­che Text­zei­len über­ra­schen auch Jahr­zehn­te spä­ter („The ad begs, ‘Buy bot­t­led water‘ /​ But we know that it tas­tes of piss /​ Should be get­ting our tam­pons free /​ DIY gyneco­lo­gy“). Das Album wur­de Teil mei­nes Som­mer-Sound­tracks und tat­säch­lich klin­gen die meis­ten Songs für mich auch heu­te noch nach dem leich­ten Wind, der an hei­ßen Som­mer­ta­gen über die nie­der­rhei­ni­sche Land­schaft kriecht: Könn­te auch noch schwül wer­den, könn­te noch gewit­tern, aber wir wür­den bei irgend­wel­chen Schul­freun­den, deren Eltern ohne sie in den Urlaub gefah­ren waren, unter der Mar­ki­se sit­zen.

Track 2 – und damit tra­di­tio­nell das kla­re High­light, die kla­re Sin­gle – ist ein Hass­lie­bes­lied auf Lon­don: „Lon­di­ni­um“ beklagt die hohen Lebens­hal­tungs­kos­ten, den dich­ten Ver­kehr und den ver­lo­ge­nen Show­biz-Gla­mour mit einem unfass­bar ein­gän­gi­gen Refrain, der Bahn­hö­fe und Taxen zusam­men­bringt. In mei­ner leb­haf­ten Phan­ta­sie ent­stand eine roman­ti­sche Komö­die um Men­schen, die bei einem Stadt­ma­ga­zin namens „Lon­di­ni­um“ arbei­te­ten. (Fuck, viel­leicht habe ich aus Ver­se­hen „Tat­säch­lich Lie­be“ erfun­den!)

Cata­to­nia ver­öf­fent­lich­ten im glei­chen Som­mer ihr vier­tes Album, das ich nie gehört habe; die Band lös­te sich kurz dar­auf auf. Ich habe „Equal­ly Cur­sed And Bles­sed“ mehr als zehn Jah­re lang nicht gehört, aber die Musik erschafft immer noch far­ben­fro­he Bil­der in mei­nem Kopf. Nur die Men­schen sind inzwi­schen Mit­te Fünf­zig und zum zwei­ten Mal geschie­den.

Cata­to­nia – Equal­ly Cur­sed And Bles­sed
(Blan­co y Negro; 12. April 1999)
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25 Jahre „Performance And Cocktails“

Die­ser Ein­trag ist Teil 2 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.
Stereophonics - Performance And Cocktails (abfotografiert von Lukas Heinser)

Zum ers­ten Mal gehört habe ich von den Ste­reo­pho­nics auf „Rel­oad“, jenem Tom-Jones-Album von 1999, mit dem der „Tiger“ den drit­ten oder vier­ten Früh­ling sei­ner Kar­rie­re ein­lei­te­te, indem er mit jun­gen, ange­sag­ten Acts der Gegen­wart Songs cover­te, die alle­samt jün­ger waren als sei­ne eige­nen ers­ten Hits. (Das Album war auch mein Erst­kon­takt mit The Divi­ne Come­dy, Baren­aked Ladies, Cata­to­nia und Port­is­head und es ist mir genau gera­de auf­ge­fal­len, dass es eigent­lich unge­wöhn­lich ist, dass sich ein 16-Jäh­ri­ger das Spät­werk eines damals nur halb­her­zig als „Kult“ bezeich­ne­ten Croo­ners gekauft und dar­über zeit­ge­nös­si­sche Acts ken­nen­ge­lernt hat, aber ich war glü­hen­der Tom-Jones-Ver­eh­rer, seit ich ihn in „Mars Attacks!“ als nur halb­her­zig als „Kult“ zu bezeich­nen­de Ver­si­on sei­ner Selbst gese­hen hat­te.) Mit den Ste­reo­pho­nics sang der Wali­ser damals eine recht drän­gen­de Ver­si­on von Ran­dy New­mans „Mama Told Me Not To Come“, die bei mir so viel Ein­druck mach­te, dass ich mich der Band selbst in der Fol­ge­zeit näher­te.

Als wir im Juni 2000 mit unse­rem Latein­kurs eine Exkur­si­on nach Köln unter­nah­men und nach Besuch des Doms und des Römisch-Ger­ma­ni­schen Muse­ums noch Zeit zur frei­en Ver­fü­gung hat­ten, über­re­de­te ich mei­ne Freun­de, mit mir zum Saturn-Stamm­haus am Han­sa­ring zu lau­fen, um dort nach CDs zu gucken. Das war damals angeb­lich der größ­te Plat­ten­la­den Deutsch­lands mit zahl­rei­chen Eta­gen, Zwi­schen- und Kel­ler­ge­schos­sen, in denen es kein Tages­licht gab, und jedes Mal, wenn die S‑Bahn vor­bei­fuhr, vibrier­ten der Boden und die Rega­le vol­ler CDs und Schall­plat­ten. Und dort habe ich mir an jenem Tag die „Per­for­mance und Cock­tails“ der Ste­reo­pho­nics gekauft.

Wenn man erst­mal ca. 30 D‑Mark in ein Album inves­tiert hat­te, hör­te man es damals sehr inten­siv für die nächs­ten Mona­te — mei­ne CD-Samm­lung war ja auch noch im Auf­bau und so viel Aus­wahl hat­te ich gar nicht, wenn ich den gan­zen Tag Musik hören woll­te. Es wäre über­trie­ben zu behaup­ten, dass die Ste­reo­pho­nics damals zu mir gespro­chen hät­ten, aber ich moch­te die ener­ge­ti­schen Rock­songs, von denen es auf die­sem Album nur so wim­mel­te, und die etwas ruhi­ge­ren Mid­tem­po-Num­mern und Bal­la­den. Die Songs klan­gen alle, als hät­ten der Band beim Schrei­ben und Auf­neh­men ein biss­chen mehr als die übli­chen 230 Volt zur Ver­fü­gung gestan­den, und über die Stim­me von Sän­ger Kel­ly Jones konn­te man eigent­lich nicht schrei­ben oder spre­chen, ohne ein „Reib­ei­sen-“ davor zu set­zen. Wich­tig war mir aber auch, dass die Musik, die ich hör­te, in mei­ner Klas­sen­stu­fe ansons­ten eher unbe­kannt war — und die Ste­reo­pho­nics ver­kauf­ten im Ver­ei­nig­ten König­reich und vor allem in ihrer Hei­mat Wales zwar Sta­di­en aus, lie­fen in Deutsch­land aber weder bei Eins­li­ve noch bei Viva, was ich immer als gutes Zei­chen betrach­te­te.

So wur­de „Per­for­mance And Cock­tails“ zum Sound­track eines Som­mers; als ein­zel­ne Songs auf Mix­tapes und in vol­ler Län­ge in mei­nem Disc­man, zum Bei­spiel an die­sem einen Abend im Som­mer­ur­laub, als ich mit mei­ner Fami­lie ein Pick­nick am Strand von Dom­burg mach­te und die gan­ze Zeit einen Stöp­sel im Ohr hat­te. „The Bar­ten­der And The Thief“ hat mich gelehrt, wie man Upt­em­po-Num­mern schreibt, „I Stop­ped To Fill My Car Up“, wie man Geschich­ten erzählt. „Just Loo­king“ moch­te ich schon immer, aber ich habe erst mit zuneh­men­dem Alter ver­stan­den, wor­um es in die­sem Lied ging und wie sehr es von mir han­del­te: „There’s things I want /​ There’s things I think I want“, beginnt der Erzäh­ler, um sich dann zu fra­gen, was er eigent­lich will — und zwar vom Leben. Dane­ben ste­hen, beob­ach­ten, lächeln, spä­ter davon berich­ten, aber nie aktiv Teil des Gesche­hens sein (wol­len) — das hat lan­ge einen gro­ßen Teil mei­nes Lebens aus­ge­macht: „I’m just loo­king, I’m not buy­ing /​ I’m just loo­king, keeps me smi­ling“.

Ein paar Lebens­kri­sen und eine The­ra­pie spä­ter weiß ich heu­te sehr viel bes­ser, was ich will — und vor allem, was nicht. Wenigs­tens meis­tens. „You said that life is what you make of it /​ Yet most of us just fake“ soll nicht für mich gel­ten. Schon wegen die­ses kathar­ti­schen Songs mit­ten­drin wird „Per­for­mance And Cock­tails“ immer einen ganz beson­de­ren Platz in mei­nem Her­zen haben.


Ste­reo­pho­nics – Per­for­mance And Cock­tails
(V2 Music; 8. März 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „Clarity“

Die­ser Ein­trag ist Teil 1 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Jimmy Eat World - Clarity (abfotografiert von Lukas Heinser)

So rich­tig gil­det das ja gar nicht: „Cla­ri­ty“ von Jim­my Eat World kam in Deutsch­land ja erst Ende Janu­ar 2001 auf den Markt, fast zwei Jah­re nach sei­ner Ver­öf­fent­li­chung in den USA – auch etwas, was jun­gen Men­schen heu­te nur noch schwer zu ver­mit­teln ist, wo Musik ein­fach um Mit­ter­nacht Orts­zeit bei den Strea­ming-Diens­ten auf­taucht.

1999 wäre ich aber auch noch gar nicht bereit gewe­sen: ein 15-jäh­ri­ges Kind, des­sen sehr über­schau­ba­re CD-Samm­lung über­wie­gend mit Film-Sound­tracks und Radio­pop von Phil Coll­ins bis Light­house Fami­ly bestückt war. 2001 war das anders: Ich hat­te inzwi­schen ein recht ordent­lich gefüll­tes CD-Regal, eine Fest­plat­te vol­ler MP3s und Viva II und „Visi­ons“ boten Ein- und Aus­bli­cke auf all das, was musi­ka­lisch noch exis­tier­te. Und an Jim­my Eat World und ihrer Sin­gle „Lucky Den­ver Mint“ kam man dort nicht vor­bei:

Die­ser Song klang glei­cher­ma­ßen cat­chy und erwach­sen. Wie die Musik vom „Ame­ri­can Pie“-Soundtrack, aber ein ganz klei­nes biss­chen sper­ri­ger. Ich weiß, dass ich das Album an einem Frei­tag­nach­mit­tag bei Radio Boh­len gekauft habe, jenem Unter­hal­tungs­elek­tro­nik- und Ton­trä­ger­händ­ler in der Dins­la­ke­ner Innen­stadt, bei dem schon mein Vater Ste­reo­an­la­ge und Schall­plat­ten erwor­ben hat­te, und der kein hal­bes Jahr spä­ter sei­ne Pfor­ten für immer schlie­ßen soll­te. (Seit­dem ist ein DM an die­ser Stel­le.) Ich erin­ne­re mich, dass ich noch schnell eine Kas­set­te auf­nahm, die ich am nächs­ten Tag hören konn­te, wäh­rend ich mit Schulfreund*innen bei der Inven­tur in der Filia­le eines gro­ßen nie­der­län­di­schen Beklei­dungs­kon­zern aus­half, wie wir es zu jener Zeit öfter taten. Und ich weiß, dass die Songs von Jim­my Eat World in der Fol­ge auf zahl­rei­chen Mix­tapes für mich und ange­him­mel­te Mit­schü­le­rin­nen lan­de­ten.

Viel­leicht pro­ji­zie­re ich im Nach­hin­ein zu viel in die­ses Album hin­ein, viel­leicht dach­te ich aber auch schon mit 17, dass es mehr nach Stu­den­ten­wohn­heim als nach Jugend­zim­mer klang. Neben den kla­ren, ein­gän­gi­gen Sin­gles „Lucky Den­ver Mint“ und „Blis­ter“ war da ein Song wie „A Sun­day“, wo sich tief­tö­nen­de Gitar­ren mit Strei­chern und Glo­cken­spiel misch­ten; das sie­ben­mi­nü­ti­ge „Just Watch The Fire­works“, das sich immer wie­der stei­ger­te und die Rich­tung wech­sel­te, wie irgends­o­ein Prog­rock-Song der 1970er, nur ohne des­sen gleich mit­ge­dach­tes Kif­fer-Publi­kum; die per­len­den Kla­vier- und Gitar­ren­so­li in „For Me This Is Hea­ven“, die sich spie­gel­ten und ver­ein­ten wie eine Beet­ho­ven-Sona­te, und natür­lich der mehr als 16-minü­ti­ge clo­ser „Good­bye Sky Har­bor“.

Ich ken­ne kein ande­res Album, des­sen Lyrics so gut in die Zeit gepasst hät­ten, in dem ich es fast jeden Tag gehört habe, ohne es zu mer­ken. Fast jeder Song ent­hält min­des­tens eine Zei­le, die ich mit Edding (oder wenigs­tens Blei­stift) auf die Schul­ti­sche hät­te schrei­ben kön­nen, aber erst jetzt, mehr als 20 Jah­re spä­ter, erfas­se ich beim Hören, was uns die Band damals mit­tei­len woll­te. Wie die Tex­te das Kon­zept „Emo“, schon Jah­re vor My Che­mi­cal Romance und Fall Out Boy, auf eine Art aus­reiz­ten, die in der Rück­schau bis an die Gren­ze der Selbst­par­odie reicht. Wie sehr die­ses Album nur am Ende eines in jeder Hin­sicht ein­zig­ar­ti­gen Jahr­zehnts erschei­nen konn­te, etwa in einem Song, der sich expli­zit mit der Tod­sün­de der so auf Authen­ti­zi­tät bedach­ten 1990er Jah­re beschäf­tigt, dem sell-out („Your New Aes­the­tic“).

Womög­lich liegt irgend­ein tie­fe­rer Sinn in dem absur­den Unter­hal­tungs­in­dus­trie­pro­zess, der dafür sorg­te, dass uns „Cla­ri­ty“ nicht schon 1999 vor die Füße fiel, son­dern wir bis 2001 dar­auf war­ten muss­ten. In der Rück­schau, die ja vie­les umdeu­tet und in soge­nann­te Nar­ra­ti­ve zwängt, war „Cla­ri­ty“ jeden­falls der zwin­gen­de Sound­track zu dem einen, letz­ten sor­gen­frei­en Som­mer: fast jedes Wochen­en­de saßen wir am Rhein­ufer, mach­ten ille­ga­le Lager­feu­er und hör­ten betont bedeu­tungs­vol­le Musik. Min­des­tens ein­mal im Monat waren irgend­je­man­des Eltern weg, was in einer soge­nann­ten Stumrfrei-Par­ty resul­tier­te. „Unglück­lich ver­liebt“ war die Default-Ein­stel­lung bei fast allen. Mein Sony-Walk­man und die dar­an ange­schlos­se­nen In-Ear-Kopf­hö­rer waren Teil mei­nes Kör­pers.

Und Jim Adkins und Tom Lin­ton san­gen sich die See­le aus dem Leib:

When the time we have now ends
When the big hand goes round again
Can you still feel the but­ter­flies?
Can you still hear the last good­night?

Am 20. August begann dann für uns das letz­te Schul­jahr und drei Wochen spä­ter krach­ten die Flug­zeu­ge ins World Trade Cen­ter und ins Pen­ta­gon. Aber das ist die Geschich­te des Nach­fol­ge-Albums „Bleed Ame­ri­can“.

Jim­my Eat World – Cla­ri­ty
(Capi­tol Records; 23. Febru­ar 1999/​29. Janu­ar 2001)
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