… über die eigene Partnerin zu schreiben, es sei „schon sehr beängstigend“ gewesen, „nicht zu wissen, wie die Leute und die Medien reagieren“, wenn man sich mit ihr „als Paar outen“ würde.
Kategorie: Gesellschaft
Alles, was mit den Menschen um uns herum zu tun hat.
WunderInnen gibt es immer wieder
Promoter wäre auch kein Job für mich: Die meiste Zeit muss man versuchen, Bands, die niemand hören will, oder Produkte, die niemand braucht, in der Presse zu platzieren – also: Leute nerven. Hat man durch einen glücklichen Zufall etwas im Portfolio, um das sich die Journalisten prügeln würden (den angesagten Popstar, das neueste Smartphone, den Debütroman der Tochter eines berühmten Theatermannes), ist man zur Selektion gezwungen – und wieder hassen einen die Leute.
Im Wust der vielen Newsletter, die mich heute erreichten, war allerdings einer, der mich aufhorchen ließ:
Guten Tag,
Zum ersten Mal findet in Deutschland ein Festival statt, dessen Programm ausschließlich MusikerInnen präsentiert!
Von den „Women Of The World“-Konzerten, die im Umfeld der Frankfurter Musikmesse über die Bühne gehen, wollen wir zwei herausgreifen: Gabby Young & Frida Gold am 18. März sowie Jennifer Rostock & Guano Apes am 21.März.
Nun kann man sicher darüber streiten, ob ausgerechnet Jennifer Rostock, die Guano Apes und Frida Gold ((Die Band mit der schrecklichen Jury-Frau aus „Unser Star für Baku“.)) dazu geeignet sind, das Ansehen von Musikerinnen (oder auch nur von Musik) zu steigern.
Aber das Problem steckt ganz woanders: „ein Festival, dessen Programm ausschließlich MusikerInnen präsentiert“?
Das Binnenmajuskel in „MusikerInnen“ steht eigentlich für „Musikerinnen und Musiker“ – und das ist, egal wie man es liest, Quatsch:
- Wer, außer Musikerinnen und Musikern, sollte bei so einem Festival schon auftreten? Okay: Intersexuelle und Roboter vielleicht. Aber sonst?
- „Ausschließlich Musikerinnen“ treten da auch nicht auf: Frida Gold, Jennifer Rostock und die Guano Apes haben jeweils ein weibliches Bandmitglied (die Sängerin), denen insgesamt zehn männliche gegenüberstehen.
- Selbst wenn ausschließlich Musikerinnen auf der Bühne stünden, wäre das auch nicht „zum ersten Mal in Deutschland“ der Fall: Es gab und gibt jede Menge „Ladyfeste“, bei denen teilweise nur Frauen oder wenigstens überwiegend Frauen auf der Bühne standen.
Aber folgen Sie mir doch gerade noch kurz in die Abgründe der PR:
Diese drei Beispiele aus der aktuellen deutschen Musikszene repräsentieren bei insgesamt 15 (primär international besetzten!) Konzerten stellvertretend eine ebenso nahe liegende wie innovative Idee: ausschließlich Frauenpower eine Bühne zu bieten! Die Veranstalter hoffen, dass die Premiere der Startschuss ist, um „Mainhattan“ mittelfristig als optimale Plattform für Shows von MusikerInnen der unterschiedlichsten Genres auf einem Festival zu etablieren.
Aber gut: Das „Women of the World“-Festival sei hiermit angekündigt.
Ich muss weiter: Hier ist grad der (tatsächlich) erste Newsletter der Menschheitsgeschichte angekommen, in dem zwar der Name „Dieter Gorny“ steht, das Wort „Kreativwirtschaft“ aber fehlt. Und das kann ja nun wirklich nicht sein!
Liebe ist …
… über die eigene Frau zu sagen, man habe sie „als eine überzeugende Repräsentantin eines menschlichen und eines modernen Deutschlands wahrgenommen“.
Woanders is‘ auch scheiße
Wenn ich Menschen aus dem Ausland erklären soll, wo ich herkomme, höre ich mich immer noch viel zu oft mit „near Cologne“ antworten. Bei den meisten Amerikanern kann man ja froh sein, wenn sie davon mal gehört haben. Briten hingegen kennen, so sie denn minimal fußballinteressiert sind, natürlich Dortmund und Schalke, manchmal sogar Bochum. Die „Ruhr Area“ allerdings ist eher was für Leute, die im Erdkundeunterricht gut aufgepasst haben, aber so würden eh nur die Wenigsten über ihre Heimat sprechen.

Das Verhältnis der „Ruhris“ zum Ruhrgebiet ist ein zutiefst ambivalentes: Eine unheilvolle Mischung aus Lokalpatriotismus und Selbstverachtung, aus Stolz und Skepsis, Traditionsbewusstsein und Wurzellosigkeit führt dazu, dass sich im fünftgrößten Ballungsraum Europas niemand zuhause fühlt. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht erst ganz langsam, Jahrzehnte nach der Blütezeit der Ruhrindustrie und auch recht widerwillig.
Konrad Lischka und Frank Patalong stammen auch aus dem Ruhrgebiet. Lischka ist 32 und in Essen aufgewachsen, Ptalaong 48 und aus Duisburg-Walsum. Heute arbeiten beide bei „Spiegel Online“ in Hamburg, aber sie haben ein Buch geschrieben über die „wunderbare Welt des Ruhrpotts“: „Dat Schönste am Wein is dat Pilsken danach“.
Der Altersunterschied der beiden und ihre unterschiedliche Herkunft (Lischka kam mit seinen Eltern aus Polen ins Ruhrgebiet, Patalong ist Kind einer Arbeiterfamilie) machen den besonderen Reiz des Buches aus, denn ihre Hintergründe sind gerade unterschiedlich genug, um fast das ganze Ruhrgebiet an sich zu charakterisieren. Lischka ist (wie ich auch) ohne nennenswerte Schwerindustrie vor Augen aufgewachsen, bei Patalong konnte man die Wäsche traditionell nicht draußen trocknen lassen, weil sie dann schwarz geworden wäre. Sie beschreiben eine Region, die binnen kürzester Zeit von Menschen aus halb Europa besiedelt wurde, die jetzt alle in ihren eilig hochgezogenen Siedlungen hocken und feststellen, dass die Goldgräberzeit lange vorbei ist. Für die meisten endet die Welt immer noch an der Stadtteilgrenze, wofür Lischka das wunderschöne Wort „Lokalstpatriotismus“ ersonnen hat. Entschuldigung, ich komm aus Eppinghoven, was soll ich da mit jemandem aus Hiesfeld? ((Beides sind Stadtteile von Dinslaken, was schon in Köln keiner mehr kennt.))
Das Buch ist geprägt von der so typischen Hassliebe der Ruhrgebietseinwohner zu ihrer … nun ja: Heimat, zusammengefasst im Ausspruch „Woanders is‘ auch scheiße“. Menschen, die sich gottweißwas darauf einbilden, aus einer bestimmten Stadt zu stammen oder dort wenigstens „angekommen“ zu sein, findet man vielleicht in Düsseldorf, München oder Hamburg, aber nicht im Ruhrgebiet. Wir sind nur froh, wenn man uns nicht mit Dingen wie einem „Kulturhauptstadtjahr“ behelligt, und packen alle Möchtegern-Hipster mit Röhrenjeans, asymetrischem Haarschnitt und Jutebeutel in den nächsten ICE nach Berlin. Hier bitte keine Szene, hier bitte überhaupt nichts, Danke! ((Verzeihung, ich bin da etwas vom Thema abgekommen. Aber ich wohne in einem sogenannten „Szeneviertel“ und werde da schnell emotional.))

Ich fürchte, dass das Buch für Menschen, die keinerlei Verbindung zum Ruhrgebiet haben, deshalb in etwa so interessant ist wie eines über das Paarungsverhalten peruanischer Waldameisen. Es muss von einer völlig fremden Welt erzählen, in der Kinder auf qualmende Abraumhalden klettern, die Leute eine Art Blutpudding essen, der Panhas heißt, und in der eine Sprache gesprochen wird, die im Rest der Republik einfach als „falsches Deutsch“ durchgeht.
Aber wer von hier „wech kommt“, der wird an vielen Stellen „ja, genau!“ rufen – oder sich wundern, dass er die Gegend, in der er aufgewachsen ist, so ganz anders wahrgenommen hat, denn auch das ist typisch Ruhrgebiet. Frank Patalong erklärt an einer Stelle, welcher Ort im Ruhrgebiet bei ihm immer ein Gefühl von Nachhausekommen auslöst, und obwohl ich da noch nie drüber nachgedacht habe, bin ich in diesem Moment voll bei ihm: Auf der Berliner Brücke, der „Nord-Süd-Achse“, auf der die A 59 die Ruhr, den Rhein-Herne-Kanal und den Duisburger Hafen überspannt. Wenn wir früher aus dem Holland-Urlaub kamen, war dies der Ort, an dem wir wussten, dass wir bald wieder zuhause sind, und auch heute ist das auf dem Weg von Bochum nach Dinslaken der Punkt, wo ich meine Erwachsenenwelt des Ruhrgebiets verlasse und in die Kindheitswelt des Niederrheins zurückkehre.
Lischka und Patalong verklären nichts, sie sind mitunter für meinen Geschmack ein bisschen zu kritisch mit ihrer alten Heimat, aber dabei sprechen sie Punkte an, die mir als immer noch hier Lebendem in der Form wohl nie aufgefallen wären. Zum Beispiel das ständige Schimpfen auf „die da oben“, das bei den hiesigen Lokalpolitikern leider zu mindestens 80% berechtigt ist, das aber auch zu einer gewissen Kultur- und Intellektuellenfeindlichkeit geführt hat. Die Zeiten, in denen man sich als Arbeiterkind in seiner alten Umgebung rechtfertigen musste, weil man zur Uni ging, dürften vorbei sein, aber ein Blick in die Kommentare unter einem beliebigen Artikel beim Lokalrumpelportal „Der Westen“ zeigt, dass Museen, Bibliotheken oder Theater zumindest für einige Einwohner des Ruhrgebiets immer noch „überflüssiger Schnickschnack“ sind.

Und während ich darüber nachdenke, dass die Arbeiter in Liverpool, Detroit oder New Jersey irgendwie sehr viel mehr für ihren Stolz berühmt sind und dann teilweise auch noch Bruce Springsteen haben, fällt mir auf, dass ich zumindest selbst natürlich wahnsinnig stolz bin auf diese Gegend. Ja, das, was an unseren Städten mal schön war, ist seit Weltkrieg und Wiederaufbau überwiegend weg, aber wir haben wahnsinnig viel Grün in den Städten ((Im Buch verweist Lischka auf das sogenannte „Pantoffelgrün“, ein Wort, das außer ihm und dem Pressesprecher der Stadt Dinslaken glaube ich nie jemand verwendet hat.)), ein schönes Umland und das beste Bier. Genau genommen isses hier gar nicht scheiße, sondern eigentlich nur woanders.
Und selbst wenn wir Ruhris innerlich ziemlich zerrissene Charaktere sind, die in ihren hässlichen Kleinstädten unterschiedlicher Größe stehen und gucken, wie aus den Ruinen unserer goldenen Vergangenheit irgendetwas neues entsteht: Es tut gut zu sehen, dass wir dabei nicht alleine sind. Willkommen im Pott!
Konrad Lischka & Frank Patalong – Dat Schönste am Wein is dat Pilsken danach
Bastei Lübbe, 271 Seiten
16,99 Euro.
Ich habe ein bisschen Angst, einen Blogeintrag über Christian Wulff anzufangen, weil es bei der aktuellen Gemengelage denkbar ist, dass der Mann schon nicht mehr Bundespräsident ist, bevor ich den Text das erste Mal Korrektur lesen kann.
Natürlich kann Wulff seinen Versuch fortsetzen, gegen die gesamte deutsche Presse, aber mit dem deutschen Volk im Amt zu bleiben. Das hat zwar schon bei Karl-Theodor zu Guttenberg nicht funktioniert (und der hatte immerhin bis zum Schluss die „Bild“ auf seiner Seite), aber Wunder gibt es immer wieder.
Zwar war Wulffs Rückhalt in der Bevölkerung vor dem gestrigen TV-Interview schon merklich gesunken (am Mittwoch waren nur noch 47 Prozent dafür, dass Wulff im Amt bleiben sollte, am Montag waren es noch 63 Prozent), aber vielleicht hat Wulff das sogenannte einfache Volk mit seinem merkwürdigen Auftritt bei ARD und ZDF besser überzeugen können als die Journalisten. Wahrscheinlich ist dies allerdings auch nicht.
Wie dem auch sei: So lange die Affäre Wulff die Titelseiten füllt und weite Teile der Nachrichtensendungen ausfüllt, so lange geht natürlich unter, dass sich Europa immer noch in einer großen Krise befindet, dass sich die Stimmung zwischen dem Iran und dem Rest der Welt täglich verschlechtert. Und ich meine das nicht in dem Sinn, mit dem Online-Kommentatoren „Habt Ihr denn sonst keine Sorgen?“ fragen.
Als Richard Nixon im Zuge der Watergate-Affäre seinen Rücktritt als US-Präsident erklärte, tat er dies mit den unsterblichen Worten:
I have never been a quitter.
To leave office before my term is completed is abhorrent to every instinct in my body. But as President, I must put the interests of America first.
America needs a full-time President and a full-time Congress, particularly at this time with problems we face at home and abroad.
Nun unterscheiden sich die Befugnisse von US- und Bundespräsident fundamental: Vermutlich würde es niemandem auffallen, wenn Christian Wulff die letzten dreieinhalb Jahre seiner Amtszeit tatsächlich ausschließlich mit der Beantwortung der vielen, vielen Journalistenanfragen verbrächte. Einen Vollzeitpräsidenten hatte und brauchte Deutschland nie – weswegen ich übrigens den Vorschlag von Friedrich Küppersbusch aufs Heftigste begrüße, das Amt des hauptberuflichen Grüßaugusts abzuschaffen und den Bundestagspräsidenten zum Staatsoberhaupt zu machen.
Wulff lähmt vielleicht noch nicht einmal die Politik – Politiker von Koalition und Opposition, die sich wortgewaltig vor TV-Kameras um das Ansehen des höchsten Amts im Staate sorgen, können in dieser Zeit keinen anderen Schaden anrichten. Aber Wulff lähmt das öffentliche Leben in Deutschland: Die Medien beschäftigen sich seit Tagen mit kaum etwas anderem und wissen vermutlich längst, was sie als nächstes noch alles aufdecken werden – als Fortsetzungsroman verkauft sich jeder Skandal besser denn als abgeschlossene Erzählung und wer hat denn gesagt, dass Salamitaktiken nur etwas für Politiker sind? Der volkswirtschaftliche Schaden, der seit Tagen durch die vielen Wulff-Witze (seit gestern auch noch: Schausten-Witze) auf Facebook und Twitter entsteht, die alle während der Arbeitszeit gelesen und geteilt werden müssen, ist sicher auch nicht zu verachten.
Christian Wulff hat in dem gestrigen Interview viel davon gesprochen, dass er Freunde und Familie habe schützen wollen und sich deshalb mit Informationen zurückgehalten habe. Es steht außer Frage, dass die Redaktionen noch genug Munition haben, um den waidwunden Präsidenten abzuschießen (um mal eine martialische Phrase zu vermeiden). Die Chancen stehen gut, dass es dabei um weitere Details aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis geht. Auch wenn ich nicht glaube, dass die in den vergangenen Tagen mehr oder weniger offen kolportierten Gerüchte zutreffen, so wäre Christian Wulff doch gut beraten, sein Umfeld aus der Schusslinie zu bringen.
Andererseits könnte es sein, dass das nun auch nichts mehr bringt: Wulff hat gestern im Fernsehen erzählt, er habe „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann auf dessen Mailbox gebeten, „um einen Tag die Veröffentlichung zu verschieben, damit man darüber reden kann, damit sie sachgemäß ausfallen kann“. Diekmann hielt heute dagegen und bat Wulff öffentlich um die Genehmigung, den Wortlaut des Anrufs veröffentlichen zu dürfen. Allein für diese Gelegenheit, dass sich Kai Diekmann als moralische Instanz und flauschiges Unschuldslamm präsentieren kann, muss man Wulff verachten. Jetzt hat Wulff abgelehnt und damit mutmaßlich die Pforten zur Hölle aufgestoßen.
Der präsidiale Ausraster auf seiner Mailbox dürfte kaum Diekmanns letzter Trumpf gewesen sein. Wahrscheinlich ging er fest davon aus, dass Wulff seine Bitte zur Veröffentlichung negativ bescheiden würde, und hat die Anfrage deshalb gleich öffentlich gemacht. Diekmann konnte zwei Mal „im Sinne der von Ihnen angesprochenen Transparenz“ argumentieren und hat den Präsidenten damit faktisch schachmatt gesetzt: Setzt man voraus, dass Diekmanns Version der Geschichte stimmt, wäre Wulff der Lüge überführt gewesen und damit endgültig untragbar. Setzt man voraus, dass Wulffs Version stimmt, hat er jetzt immer noch das Problem, nicht „im Sinne der Transparenz“ gehandelt zu haben. Er konnte nur noch verlieren.
Es ist leicht, auf einen Abzockvollprofi wie Kai Diekmann reinzufallen, aber einem Spitzenpolitiker (auch wenn er „ohne Karenzzeit, ohne Vorbereitungszeit“ in sein aktuelles Amt gekommen ist) sollte das nicht passieren. Ich fände es deprimierend, sagen zu müssen, dass man sich mit „Bild“ nicht anlegen sollte, und glaube das auch nicht. Aber man muss schon wissen, wie man es macht – und dabei in einer etwas glücklicheren Ausgangsposition sein, als Wulff es war.
Kaum jemand stolpert, privat oder beruflich, über einen einzelnen großen Fehler. Meist ist es eine unglückselige Verkettung vieler kleiner und mittlerer Fehler. Egal, was jetzt noch rauskommt: Der größte Fehler, den Christian Wulff in meinen Augen gemacht hat, war der, „Bild“ und Kai Diekmann die Gelegenheit zu geben, sich als seriöse, moralische Journalisten inszenieren zu können, was ihnen die Menschen vielleicht mehr abkaufen als Wulff seine Rolle als reuiger Sünder. Wulff hat „Bild“ die Macht zurückgegeben, die die Zeitung eigentlich nicht mehr hatte.
Glühwein gegen den Hunger
Eines muss man der Politik lassen: Wir haben jahrelang unentdeckte Rechtsterroristen, eine sich täglich verschärfende Eurokrise, den längsten Castor-Transport aller Zeiten und doch haben es die Politiker geschafft, heimlich still und leise die Hungerkatastrophe in Ostafrika zu lösen. Zumindest hat man davon seit Monaten nichts mehr gehört und gelesen.
Sarkasmus beiseite: Die Hungerkatastrophe ist natürlich noch nicht gelöst. Und da die Vorweihnachtszeit ja eh die Hochphase der Charity-Events ist und unsere Aktion „Saufen gegen den Hunger“ im August in jeder Hinsicht erfolgreich verlaufen ist, haben Jan und ich uns etwas neues einfallen lassen:
Die Regeln der Aktion bleiben denkbar einfach:
Wir werde den gleichen Betrag, den wir am Wochenende (16. – 18.12) verfeiern/verköstigen/versaufen/weg-eskalieren/nach der Party verfressen für Afrika spenden.
Wir haben uns wieder für dieses Projekt entschieden gerade weil es momentan komplett aus den Medien verschwunden ist und die Guttenbergs und Co. wieder alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Also, für jeden Eintritt, jedes Bier, jeden Schnaps/Sekt/Döner/sonstwas kommt der gleiche Betrag auf das Spendenkonto der ARD.
Dann wirds zwar logischerweise doppelt so teuer, aber der Kater wird durch ein gutes Gewissen ausgeglichen…! (und wenn das nicht wirkt: Aspirin)
Wie beim ersten Mal können und wollen wir nicht überprüfen, ob die Teilnehmer sich auch tatsächlich an die (recht vagen) Regeln halten, aber wir glauben weiterhin an das Gute im Menschen.
Alles Weitere zu „Glühwein gegen den Hunger“ erfahren Sie bei Facebook – und wenn Sie spenden wollen, ohne etwas zu trinken, können Sie das selbstverständlich auch tun.
Ob es auch eine Benefiz-Single zu dem Projekt geben wird, ist noch nicht entschieden.
Absolut nicht aussagekräftig
Es ist ein erschütternde Nachricht, die „Spiegel Online“ heute überbringt:
Nirgendwo in Deutschland werden mehr rechte Straftaten gezählt als in dem bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen.
Und nicht nur das: Auch die meisten Verkehrsunfälle, Ehescheidungen und Sterbefälle werden im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen gezählt. (Aber auch die meisten Eheschließungen und Geburten.)
Tatsächlich bringt es erstaunlich wenig, die absoluten Zahlen verschiedener Bundesländer zu irgendeinem Thema zu vergleichen.
Im Verfassungsschutzbericht 2010 (PDF) steht zum Beispiel:
Die – in absoluten Zahlen – meisten politisch rechts motivierten Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund ereigneten sich mit 149 registrierten Delikten in Nordrhein-Westfalen, das allerdings bezogen auf je 100.000 Einwohner im mittleren Feld der Statistik liegt.
Jörg Diehl, Düsseldorfer Korrespondent des Online-Magazins, verbreitet die wenig erstaunliche Nullinformation schon länger:
Das Klischee besagt zwar, Skinheads und Neonazis trieben vor allem im Osten der Republik ihr Unwesen, doch in Wahrheit werden nirgendwo in Deutschland mehr rechte Straftaten gezählt als in dem bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen.
Das Klischee besagt zwar, Skinheads und Neonazis trieben vor allem im Osten der Republik ihr Unwesen, doch in Wirklichkeit werden nirgendwo in Deutschland mehr rechte Straftaten gezählt als in Nordrhein-Westfalen.
Das Gute an Diehls aktuellem Artikel aber ist, dass man bei der Lektüre kaum bis zu dem unsinnigen Satz durchdringt – vorher ist man nämlich schon über den Einstieg gestolpert und bewusstlos liegen geblieben:
Man hätte meinen können, die Neonazis hielten sich erst einmal zurück. Man hätte denken können, die allgemeine Empörung über die der Zwickauer Zelle zugeschriebenen Verbrechen machte sie vielleicht nachdenklich. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Während die Republik mit der bitteren Erkenntnis ringt, dass es hierzulande tatsächlich rechtsradikale Terroristen gibt, schlagen die Glatzen in Dortmund wieder zu.
Natürlich: Bei all der „allgemeinen Empörung“ werden Neonazis „nachdenklich“. Weil das, was diese Leute jahrelang am Liebsten gemacht hätten, schon jahrelang gemacht wurde.
Wer seine Artikel in einer derartigen rhetorischen und logischen Schieflage eröffnet, kann sie auch so beenden. Bei Jörg Diehl liest sich das so:
Jetzt allerdings könnten die Dortmunder Neonazis mit Sven K. einen schlagkräftigen Kader verlieren. Seit Sonntag sitzt der 24-Jährige in Untersuchungshaft und schon macht in Justizkreisen ein Wort die Runde, das eigentlich auch von den linken Aktivisten sehr begrüßt wird. Es lautet: Sicherungsverwahrung.
Offiziell indes mag sich die Staatsanwaltschaft dazu nicht äußern. Noch nicht.
Linke Aktivisten begrüßen das Wort „Sicherungsverwahrung“ (aber nur eigentlich) und die Staatsanwaltschaft mag sich dazu noch nicht äußern. Und das alles im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen.
Auf der Straße zur Ironie-Hölle
„Irony is over. Bye bye.“
(Pulp – The Day After The Revolution)
In der „Zeit“ von letzter Woche beschreibt Nina Pauer zwei postmoderne Phänomene: das der Fremdscham und der Ironie. Anhand von Casting- und Kuppelshows, von „Bad Taste“-Partys und „Bravo Hits“ verhandelt sie das Zelebrieren von Dingen, die man eigentlich verabscheut. Die Überschrift „Wenn Ironie zum Zwang wird“ verknappt den sehr lesenswerten Artikel leider etwas, denn tatsächlich geht es hier um zwei Phänomene mit ähnlichen Symptomen und einer gewissen Schnittmenge.
Da sind zum einen die Fernsehshows, die ähnlich funktionieren wie der sprichwörtliche Autounfall: Sie ziehen ihre Faszination aus dem „Grauen“, dessen sich der Zuschauer nicht erwehren kann. Castingshows möchte ich mal ausklammern, die sehe ich nicht (mehr). Viele werden offenbar von zutiefst verbitterten Zynikern verantwortet, die im Leben nicht die Eier hätten, sich vor drei Leute (geschweige denn eine Fernsehkamera) zu stellen, um ein Lied zu singen. Ihnen sollen die Fußnägel einwachsen und die Haare ausfallen. ((Außer in den Ohren und den Nasenlöchern, da soll es wuchern wie im Amazonasgebiet.)) Die Partnersuchen bei „Bauer sucht Frau“ oder „Schwiegertochter gesucht“ mögen ähnlich zynisch produziert sein, lassen meines Erachtens aber auch Raum für mehr.
Wenn sich heute Menschen auf der Couch oder im Internet versammeln, um gemeinsam „Bauer sucht Frau“ zu schauen (und vor allem zu besprechen), dann machen sie dabei Dinge, die Menschen seit Jahrtausenden tun: So hoffen sie auf den kathartischen Effekt von „Jammer und Schauder“, den schon Aristoteles in seiner „Poetik“ beschrieben hat – nur, dass sich Aristoteles unter „Jammer und Schauder“ etwas anderes vorgestellt hat als gelbe Pullover und Zungenwurstbrote. Auch war es in früheren Jahrhunderten ein beliebter Zeitvertreib der Oberschicht, sich die Leute, die in einem damals so genannten „Irrenhaus“ einsaßen, anzusehen wie Tiere im Zoo.
Heute sind die Opfer dieser Besichtigungen nicht mehr „irre“, sondern „peinlich“, was ein noch subjektiveres Urteil ist. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde auf die Idee kommen, aufs Land zu fahren um Bauern beim Brautwerben zuzusehen, aber wenn RTL das schon mal gemacht hat, kann man sich das ja mal ansehen. Das Prinzip gleicht dem des „delightful horror“, der sich einstellt, wenn man aus dem Lehnstuhl heraus die Schilderungen von unerklärlichen Phänomenen oder brutalen Verbrechen in den Büchern der Schauerromantik liest – nur, dass wir heute selbst festlegen, wovor es uns schaudert.
Nina Pauer schreibt:
Pünktlich um 20.15 Uhr formieren sich die Abiturienten, Studenten, Doktoranden oder vielversprechenden Berufseinsteiger zu einem vergnügten Publikum, das bei Chips und Süßigkeiten nichts anderes tut, als sich der lustvollen Konträrfaszination des Schlimmen hinzugeben. „Wie peinlich ist das denn?!“, kreischt der Chor, den Zeigefinger kollektiv auf den Fernseher gerichtet.
Ich bin auch öfters Teil solcher Runden, wenn RTL (wie aktuell) wieder einmal Schwiegertöchter und Bauernfrauen sucht. Alle Teilnehmer würde ich als durchaus aufgeklärte Menschen mit einem reinen Herzen bezeichnen, Zyniker sind keine dabei. Gerade deshalb habe ich mich schon öfter gefragt, ob es moralisch eigentlich verantwortbar ist, diese Sendungen zu gucken und zu kommentieren.
Grundsätzlich könnte man erst einmal sagen, dass es kein Opfer im klassischen Sinne gibt – die Kandidaten kriegen mögliche böse Kommentare ja gar nicht mit. ((Ich glaube auch, dass das, was man zu meiner Schulzeit „Lästern“ nannte, nicht grundsätzlich verwerflich ist, solange etwa die Person, über die gelästert wird, davon nichts mitbekommt, und solange man nicht vornerum nett zu jemandem ist, über den man dann hintenrum lästert. Außerdem können andere ja auch über mich lästern, wenn sie wollen. Diese Position hat schon zu langen, unergiebigen Diskussionen geführt.)) Auch das Begucken dieser Menschen erfolgt ja nur aus zweiter Hand – das Kind ist schon in den Brunnen gefallen, also kann man es sich auch ansehen. Letzteres ist natürlich Quatsch: Wenn niemand mehr hinsehen würde, wie RTL Kinder in den Brunnen schmeißt, würde der Sender sicher damit aufhören. Und man muss sich ja auch keine tödlichen Unfälle im Rennsport ansehen, nur weil sie auf Video gebannt sind.
Ich glaube nicht, dass die Geringschätzung anderer die Hauptmotivation ist, solche Sendungen zu sehen – der Reiz entsteht aus dem Gemeinschaftsgefühl heraus, was man als billiges Mittel zur Fraternisierung abtun, aber auch neutral oder positiv werten kann. Kaum jemand möchte oder kann so eine Sendung alleine sehen. Darüber hinaus ist es ja auch so, dass das Stirnrunzeln über Fliesentische, Tiefkühlpizzen und Kosenamen nicht allzu lang eine befriedigende Freizeitbeschäftigung abgibt. Wenn ich eine Sendung nur schlimm fände, würde ich sie nicht gucken. ((Tatsächlich bin ich bei der aktuellen Staffel „Schwiegertochter gesucht“ sehr schnell wieder ausgestiegen, weil es außer ausgewalzten Merkwürdigkeiten nicht viel zu sehen gab.)) Bei „Bauer sucht Frau“ gibt es aber immer wieder rührende Elemente, in denen das besserwisserische Lachen echtem Mitgefühl weicht. ((Ob die porträtierten Bauern darauf gewartet haben, ist natürlich wieder fraglich.))
Als Vera Int-Veen im Februar den „Regalauffüller“ Stefan an die Frau zu bringen versuchte, war das nicht mehr im Mindesten witzig: Der Mann hatte so offensichtliche Probleme, sich zu artikulieren und mit den Situationen zurecht zu kommen, in denen ihn das Produktionsteam platziert hatte, dass die Arschlochhaftigkeit der Macher alles andere überstrahlte. In der aktuellen Staffel von „Bauer sucht Frau“ geht der bisher größte Fremdschammoment auf das Konto von Moderatorin Inka Bause: Zum ersten Mal sucht ein homosexueller Bauer einen, ja: Mann und Bause war von der Situation so offensichtlich überfordert, dass sie ihn mit den Worten ansprach: „Du bist ja hier der erste Bauer Deiner Art.“ Als der „pfleißige Pferdewirt“ ganz locker „Der erste schwule Bauer, ja“, antwortete, fragte Bause noch einmal nach, ob sie „das so sagen“ dürfe. So schlimm können zehntausend Zungenküsse bei offenem Mund nicht sein.
Ich glaube übrigens, dass diese Kuppelshows auch mit Kandidaten funktionieren würden, die den Zuschauern deutlich ähnlicher sind: ((Wobei das eigentlich jetzt schon gelten muss: Es kann ja hierzulande keine acht Millionen Elitisten geben, die es sich auf ihrem hohen Ross bequem gemacht haben, also müssen auch zahlreiche Zuschauer mit Fliesentischen, Tiefkühlpizzen und Kosenamen darunter sein.)) Liebe und vor allem ihre Anbahnung ist nie clever. ((So wie Sex nie ästhetisch ist.)) Im Leben geht es fast nie zu wie bei „Ally McBeal“ oder bei „Bridget Jones“, wo sich gutaussehende Menschen im leichten Schneefall auf offener Straße küssen, nachdem sie eine geistreiche Bemerkung gemacht haben.
Vor vielen Jahren, in der Daily Soap „Unter uns“, schrieb die Person der Ute, die damals frisch in die Schillerallee zurückgekehrt war, einen Brief an ihren späteren Ehemann Till, in dem sie erklärte, sie sei derart verliebt, dass sie bei jedem Liebeslied im Radio mitsingen müsse, auch bei den Schlagern, die sie früher immer peinlich und doof gefunden habe. ((Der Brief geriet übrigens in die Hände der Sandra, dargestellt von Dorkas Kiefer, die ihn laut vorlas und sich über Ute lustig machte. Welche Aktion ist peinlicher? Discuss!)) Das, meine Damen und Herren, ist Liebe! Sie ist peinlich, aber ohne wären wir nicht hier.
Doch zurück zur „Fremdscham“ und zum „Peinlichen“, das Nina Pauer beschreibt: Andere Leute peinlich finden ist eine Emotion, die meist in der Pubertät erstmalig auftaucht und dann vor allem gegen die eigenen Eltern gerichtet ist. Das ist von der Natur so gewollt: Das Leben beschert einem so ein paar Jahre unbeschwerter Freiheit und sinnloser Freiheitskämpfe, ehe die Erkenntnis einkehrt, dass biologische Veranlagung und Erziehung mächtiger sind als jedes Schamgefühl und man natürlich wie die eigenen Eltern geworden ist. Als ausgleichende Gerechtigkeit finden einen dann zwanzig Jahre später die eigenen Kinder peinlich.
Sich für eine andere Person zu schämen, ist aber auch eine weitgehend irrationale Reaktion, zumal, wenn man in keinerlei persönlicher Verbindung zu dieser Person steht. Die wissenschaftliche Erforschung dieses Phänomens steht allerdings noch ziemlich am Anfang.
Nina Pauer führt aus:
Als gemeinsames Ritual wirkt die Fremdscham wie eine Kompensation der individuellen Angst, die ansonsten überall lauert. Denn wie schwer ist es, diesem allgegenwärtigen Adjektiv „peinlich“, das unsere Zeit bestimmt, zu entrinnen! Nahezu unmöglich und vor allem furchtbar anstrengend ist es geworden, im weit und subtil verästelten analog-virtuellen Netzwerk stets die Balance aus lässigem Understatement, hübscher Ironie und gleichzeitiger Selbstvermarktung zu pflegen. Die Codes sind unendlich: Mit dem neuesten Smartphone prahlen? Peinlich! Immer noch keines haben? Peinlich! Zuckersüße Pärchenfotos auf Facebook veröffentlichen? Peinlich! Das eigene Mittagessen abfotografieren, den Stolz über den neuen Job allzu offensichtlich zeigen? Zu viele Freunde haben? Zu wenige? Peinlich, peinlich! Musik hochladen, die alle schon kennen? Musik hochladen, die nie irgendwer kennt? PEINLICH!
Wenn tatsächlich alles peinlich ist, man also in jeder Situation nur verlieren kann, ist ja alles wieder völlig nivelliert und man kann nur gewinnen.
Frau Pauer nutzt diese Passage aber, um von der Fremdscham zur „inszenierten Fremdscham“ und damit zur Ironie zu kommen. Ironie, das lernt man irgendwann als Kind, ist das Gegenteil von dem zu sagen, was man meint – also eigentlich das, was man vorher als „Lügen“ kennengelernt hat und was man nicht tun sollte. Das trifft den Sachverhalt zwar nur zum Teil, ist aber das, was sich die allermeisten Menschen unter „Ironie“ vorstellen und es entsprechend praktizieren. Das ist natürlich sterbenslangweilig.
Als Travis im Jahr 2000 anfingen, „Baby One More Time“ von Britney Spears auf ihren Konzerten zu covern, gingen viele erst einmal von Ironie aus. Aber Fran Healy, der das Lied mit viel Inbrunst vortrug, sagte, sie hätten den Song einfach nachgespielt, weil sie ihn so schön fanden. Und tatsächlich wäre es auch dann noch ein schönes Lied, wenn Komponist und Texter Max Martin sich beim Schreiben über die Naivität und Dummheit seines Lyrischen Ichs kaputt gelacht hätte.
„Irony is certainly not something I want to be accused of“, hat Craig Finn, der Sänger meiner Lieblingsband The Hold Steady, mal gesagt und ich finde auch, dass Liedtexte möglichst aufrichtig sein sollten. ((Ironie sollte höchstens von Briten als Stilmittel in Songs eingesetzt werden. Die verstehen darunter etwas anderes als „das Gegenteil von dem sagen, was man meint.)) Dann besteht zwar schnell wieder die Gefahr der Fremdscham, aber damit muss man klar kommen. Man kann das Werk verurteilen, sollte dem Künstler aber Respekt zollen.
Die Zeit der ironisch gemeinten Beiträge beim Eurovision Song Contest, die notwendig war, um das schnarchige Schlagerevent der 1990er Jahre zu entstauben, ist ja inzwischen zum Glück auch wieder vorbei. Als ich im Mai von jetzt.de zum Duslog interviewt wurde, war der Reporter sehr versessen darauf, uns eine ironische Haltung zum Grand Prix zu unterstellen. Natürlich kann man die musikalischen Beiträge nicht alle ernst nehmen, ((Gerade nicht „I Love Belarus“, den man aus politischen Gründen als einzigen ernst hätte nehmen müssen.)) aber wenn ich die Veranstaltung in Oslo scheiße gefunden hätte, wäre ich sicher kein zweites Mal hingefahren.
Natürlich sollte man sich selbst und die Welt nicht zu ernst nehmen, aber man sollte auch nicht bis zur Selbstverleugnung mit den Augen zwinkern. Ich könnte schlicht keine Musik hören, die ich nicht mag, keine Klamotten (oder gar Frisuren oder Gesichtsbehaarungen) tragen und auch nichts in meine Wohnung stellen oder hängen, was ich nicht irgendwie gut finde. „We Built This City“ von Starship ist einer der kanonisch schrecklichsten Songs der Musikgeschichte, aber irgendetwas spricht das Lied in mir an – und das meine ich nicht auf die „So schlecht, dass es schon wieder gut ist“-Art. Andererseits würde ich nie in Skinny Jeans rumlaufen, weil ich die einfach mordsunbequem finde.
Benjamin von Stuckrad-Barre hat schon 1999 einen Text über Ironie verfasst, ((Nachzulesen in „Remix“.)) in dem er von der „Drüberlustigmachmühle“ schreibt und dann eine Frage aufwirft, die er sich sogleich selbst beantwortet:
Tennissocken sind fürchterlich, keine Frage, aber ist nicht das zwangsverordnete Drüberlachen noch schlimmer? Und dann tragen also Leute wieder Tennissocken, aus Protest, und das ist vielleicht zu verstehen, aber ja auch so krank, weil sie damit also, nur der Abgrenzung wegen, schlimme Socken tragen. Und dann nicht einfach still diese Socken dünnlaufen, sondern tatsächlich ERKLÄREN, warum sie die tragen, um sich zumindest, oh ja, INHALTLICH zu unterscheiden von jenen, die diese Socken nicht schon wieder, sondern immer noch tragen. Irgendwie muß man die Neuzeit ja rumkriegen.
Im „Zeit“-Artikel steht dieses aktuelle Beispiel:
In engen braunen Männerslips über rosa Trainingsanzügen aus Ballonseide trifft man sich, am besten mit einem allein zum Zweck der Party gewachsenen fiesen Schnauzer im Gesicht, zum Dosenstechen in der Küche.
Noch bevor die Hipster so genannt wurden, gab es den „Irony-Schnäuz“. Irgendwann gab es dann die ironisch gebrochenen Hipster, die echte Hipster eigentlich scheiße fanden, aber genauso rumliefen. Der Schnauzbart war zu diesem Zeitpunkt schon mindestens zwei Mal umgedeutet worden, aber da geht sicher noch mehr. Nur: Warum?
In einem Text aus dem Juli 1999 ((„Ein Ort der Eitelkeit“ in „Der Krapfen auf dem Sims“.)) beklagt sich Max Goldt über Menschen, die eine goldene Schallplatte oder eine Urkunde auf der Gästetoilette platzieren:
So wird die Toilette zum Ort der Inszenierung von Selbstironie, einer Eigenschaft, die in der westlichen Zivilisation hoch im Kurs steht. Deshalb ist es erheblich eitler, seine Zertifikate in Bad oder WC unterzubringen, als sie naiv und arglos im Wohnzimmer zur Schau zu stellen.
Goldt erklärt auch ((„Mein Nachbar und der Zynismus“, ebd.)) den Unterschied zwischen Zynismus und Sarkasmus:
Zynismus ist eine destruktive Lebensauffassung, während Sarkasmus das Resultat von trotziger Formulierungskunst ist, die über einen spontanen Zorn auf ein Meinungseinerlei hinweghilft. Zynismus ist ein Resultat von Enttäuschung und innerer Vereinsamung. Er besteht im Negieren aller Werte und Ideale, im Verhöhnen der Hoffnung, im Haß auf jedes Streben nach Besserung.
Sind dann die beschriebenen „Bad Taste“-Partys nicht eher zynisch als ironisch?
Ich verstehe den Reiz nicht, der darin liegen sollte, sich so zu kleiden, wie man nie aussehen wollte, und Musik zu hören, die man nie hören wollte. Erstens grenzt das doch an Schizophrenie und zweitens finde ich das unfair gegenüber den Leuten, denen diese Musik etwas bedeutet. Denn auch wenn ich Schlager oder Volksmusik kitschig und doof finden sollte, so gibt es doch Leute, denen diese Musik etwas bedeutet. ((Dass die Texte dieser Lieder mitunter von Leuten geschrieben werden, denen die Inhalte und Hörer ziemlich egal sind, ist eine Meta-Ebene, die ich hier nicht auch noch bespielen möchte.)) Ich finde es auch langweilig, ein Album nur des Verrisses wegen zu verreißen.
Auch Chuck Klosterman hat sich dem Thema Ironie gewidmet. ((Im Essay „T Is For True“ in „Eating The Dinosaur“.)) Er schreibt:
An ironist is someone who says something untrue with unclear sincerity; the degree to which that statement is funny is based on how many people realize it’s false. If everybody knows the person is lying, nobody cares. If nobody knows the person is lying, the speaker is a lunatic. The ideal ratio is 65–35: If a slight majority of the audience cannot tell that the intention is comedic, the substantial minority who do understand will feel better about themselves. It’s an exclusionary kind of humor.
Wenn jeder Depp alles nur noch „ironisch“ meint, ist es kein Witz mehr, dann ist es nicht mal mehr Komödie, sondern Tragödie.
Nina Pauer schreibt dazu in der „Zeit“:
Wo potenziell alles peinlich ist, bleibt nichts als der ewige ironische Reflex. Die Ironie wird zum Standard und die Distanz zum Zwang. Dann regieren die Zwinkersmileys, die alles Gesagte, Geschriebene, Getane sofort relativieren, um bloß immer „safe“ zu sein. Von der Freude an der Peinlichkeit ist dann nicht mehr viel übrig. Die Lust wird zu ihrem Gegenteil, zur Langeweile.
Es ist nicht nur langweilig, es ist auch wahnsinnig anstrengend.
Klosterman stellt in seinem Essay den Weezer-Sänger Rivers Cuomo, den Regisseur Werner Herzog und den amerikanischen Politiker Ralph Nader nebeneinander, denen er allesamt nachweist bzw. unterstellt, völlig ironiefrei zu sein. Herzog etwa sagt, er habe einen „Defekt“, der ihn daran hindere, Ironie zu verstehen, und Klosterman fügt an, die meisten von uns hätten das gegenteilige Problem: Wir würden auch dort Ironie verstehen, wo gar keine vorhanden ist.
Rivers Cuomo trug das, was man heute „Nerdbrille“ nennt, immerhin schon in den frühen Neunzigern, als es grad nicht cool oder lustig war. ((Diese Brille ist tatsächlich ein Problem. Als ich letztes Jahr auf der Suche nach einer neuen war, wollte ich – pubertäre Abgrenzung – um jeden Fall zu vermeiden, auch so eine zu kaufen. Das Problem: Mir stand wirklich nichts anderes. Also dachte ich: „Was soll’s? Ray-Ban gibt’s seit mehr als 50 Jahren und ich weiß ja, wie’s gemeint ist.“ (Nämlich gar nicht.) So wie man sich Musik nicht von ihren Hörern kaputt machen lassen darf, sollte man sich auch Mode-Utensilien nicht von ihren Trägern zerstören lassen. Ich würde auch gerne Hemden von Fred Perry tragen, wenn die nicht so unfassbar teuer wären.)) Heute schreibt er Lieder darüber, dass er in Beverly Hills wohnen wolle, und Klosterman ist sich sicher, dass Cuomo das genau so meint. Die Fans wären allerdings enttäuscht, weil sie es für Ironie hielten und sich verarscht fühlten – und das ist dann natürlich auch schon wieder Ironie, und zwar die des Schicksals.
Die Postmoderne hat, neben Fremdscham und Über-Ironisierung, noch ein weiteres Phänomen hervorgebracht: Ständig hinterfragt man jetzt alles, vor allem aber sich selbst. Wer sich fragt, ob er irgendetwas gut finden dürfe, hat noch nichts verstanden. Er hat die Freiheit (fast) alles gut zu finden, was er gut finden mag. Allenfalls die Auswahl potentiell gut findbarer Dinge und Personen kann einen etwas überfordern.
Das bedeutet natürlich letztlich auch: Man kann auch „Bauer sucht Frau“ gucken, ohne sich dafür zu schämen.
„Nazi“ und „Papst“ gehen immer
Länger keinen Nazi-Vergleich mehr im Blog gehabt …
Abhilfe schafft da die Schauspielerin Susan Sarandan, seit jeher politisch aktiv. Sie hatte sich laut „Newsday“ in einem Interview mit ihrem Schauspiel-Kollegen Bob Balaban am Wochenende wie folgt geäußert:
She was discussing her 1995 film „Dead Man Walking,“ based on the anti-death-penalty book by Sister Helen Prejean, a copy of which she sent to the pope.
„The last one,“ she said, „not this Nazi one we have now.“ Balaban gently tut-tutted, but Sarandon only repeated her remark.
Die deutschen Medien griffen den Vergleich mit mehr als 24-stündiger Verspätung auf und hatten somit den Vorteil, die (erwartbare) Empörung gleich mitnehmen zu können:
Die jüdische Anti-Defamation League bezeichnete die mutmaßliche Bemerkung als „verstörend, schwer beleidigend und vollkommen unangebracht“. Die Bürgerrechtsorganisation Catholic League for Religious and Civil Rights nannte den angeblichen Kommentar „obszön“.
In ganz eigene Sphären schraubt sich „Spiegel Online“ mit dem Remix einer Reuters-Meldung. Schon im Vorspann versucht sich der Autor an einer Art Meta-Vergleich:
Willkommen in der Lars-von-Trier-Liga für entgleiste Film-Größen: Die Schauspielerin Susan Sarandon hat Papst Benedikt auf einem Filmfestival in New York als Nazi bezeichnet. Ihr Interviewpartner versuchte, Schlimmeres zu verhindern.
Und wenn Sie jetzt sagen: „Hä? Lars von Trier hatte doch in einem irrlichternden Gedankenstrom irgendwelche prominenten Vertreter des Dritten Reichs genannt und sich dann, gleichsam als Pointe der Provokation, selbst als ‚Nazi‘ bezeichnet. Das hat ja wohl außer dem Wort ‚Nazi‘ (und der damit verknüpften erwartbaren Empörung) nichts mit dem aktuellen Fall zu tun!“, dann beweisen Sie damit nur, dass Sie nicht für „Spiegel Online“ arbeiten könnten.
Der Artikel schließt nämlich mit diesen Sätzen:
Sarandon wird nun in den kommenden Tagen erfahren, wie sehr sich die Öffentlichkeit an Nazi-Vergleichen von Prominenten abarbeitet. Der dänische Regisseur Lars von Trier hatte sich auf den Filmfestspielen in Cannes erfolgreich um Kopf und Kragen geredet und Sympathie für Adolf Hitler bekundet. Nach einem Empörungstsunami ermittelt nun sogar die Staatsanwaltschaft.
Nun könnten die Fälle von Sarandon und von Trier kaum weiter voneinander entfernt sein: Bei der einen ist es ein Skandal, weil sie den ehrenwerten Benedikt XVI. recht unspezifisch einen „Nazi“ geheißen hat, beim anderen war es ein Skandal, weil er Hitler und Speer gelobt und sich dann auf der Suche nach einem Ausgang aus dem rhetorischen Führerbunker in die Selbstbezichtigung als „Nazi“ zu retten versucht hatte.
Aber vielleicht meint „Spiegel Online“ mit dem verunglücktesten Nazi-Vergleichsvergleich aller Zeiten ja etwas ganz anderes: „Sag einfach mal öfter ‚Nazi‘, und wir schreiben auch wieder über Dich!“
Nachtrag, 18 Uhr: Bild.de bemüht sich überraschenderweise um ein wenig Relativierung:
Nun muss man wissen, dass im US-amerikanischen Wortschatz die Bezeichnung „Nazi“ auch für kalte, herrscherische Person gebraucht wird – allerdings bleibt ein fahler Beigeschmack, der bei Bill Donohue, Präsident der katholischen Liga, für Empörung sorgt.
Am Ende dreht dann aber auch dieser Artikel ab:
Wie schnell die Bezeichnung „Nazi“ nach hinten losgehen kann, zeigte sich im Mai bei den Filmfestspielen in Cannes. Star-Regisseur Lars von Trier (55, „Melancholia“) mit Hitler-freundlichen Äußerungen nicht nur für einen Skandal, sondern auch für seinen Ausschluss vom renommierten Festival gesorgt.
Death Of A Clown
Heute pfeifen wir mal auf all unsere Prinzipien und bringen eine Pressemitteilung im vollen Original-Wortlaut:
Pressemitteilung
Top Ten der Trauerhits: Unheilig Aufsteiger des Jahres bei Beerdigungen
Hamburg, 08. September 2011 – Seit über einem Jahr dominiert die Band Unheilig die deutschen Album Charts. Ihre Hitsingle „Geboren um zu leben“ ist laut einer Umfrage von Bestattungen.de schon das zweitmeist gespielte Lied bei Trauerfeiern. Dies ist nur ein Beispiel für den allgemeinen Trend: Trauermusik wird aktueller und individueller. Bestattungen.de hat Bestatter und Angehörige befragt und die diesjährigen Top Ten der „Trauerhits“ erstellt.
2011 belegt wie im Vorjahr „Time To Say Goodbye“ von Sarah Brightman den ersten Platz. „Pop-Balladen dominieren weiter. Aber der Erfolg von Unheilig und die Top Ten Platzierung des Titels ‚Highway To Hell‘ von AC/DC zeigen, dass sich der gesellschaftliche Trend zum Individualismus ebenfalls bei der Auswahl von Trauermusik abzeichnet“, erläutert Bestattungen.de-Geschäftsführer Fabian Schaaf.
Hinter Brightman und Unheilig folgt der verstorbene Hawaiianer Israel Kamakawiwo’ole mit „Somewhere Over The Rainbow“ auf Platz drei. Auch Klassik und Schlager findet sich in der Bestenliste, wie „Ave Maria“
von Franz Schubert (Platz vier) und „Über den Wolken“ von Reinhard Mey (Platz acht). „Ältere Titel sind weiterhin stark vertreten. Jedoch zeigt sich, dass sich immer mehr Angehörige für aktuelle Titel entscheiden“, erläutert Schaaf.Während Bestattungen früher gemäß den gesellschaftlichen Normen sehr konservativ waren, gibt es heute nicht mehr die „normale“ Bestattung. Daher erwarten die Experten von Bestattungen.de, dass sich der Trend
zu individueller und ausgefallener Musik weiter verstärken wird.„Musik ist enorm wichtig für die Trauerbewältigung. Bestatter müssen mit der Zeit gehen und den persönlichen Willen des Verstorbenen und der Angehörigen akzeptieren. Ganz egal, welche Musikrichtung gewünscht wird“, fordert Bestatter Burkhard Huber. Musik von Unheilig und Lieder wie „Always Look On The Bright Side Of Life“ von Eric Idle oder sogar „Biene Maja“ von Karel Gott sind heute kein Tabu mehr, sondern werden bei Trauerfeiern immer häufiger gespielt.
[mehr von Unheilig]
Ich schreibe jetzt seit ziemlich genau 12 Jahren ins Internet: Erst über Kinofilme, dann über Musik, dann über alles mögliche und das Versagen von Journalisten. Mit der Zeit habe ich mir angewöhnt, schon im Moment des Erlebens im Kopf Blogeinträge zu Formulieren. Das ist sehr lästig, weil ich Rockkonzerte zum Beispiel nicht mehr als schöne Ereignisse wahrnehme, sondern hauptsächlich als Vorlagen für Texte, die in den allermeisten Fällen dann doch nie geschrieben werden.
Facebook hat alles noch schlimmer gemacht, denn plötzlich ist – um es mit Heiner Müller zu sagen – alles Material: Das leidlich lustige Erlebnis im Supermarkt, der mitgehörte Dialog in der Straßenbahn oder die Feststellung, dass ich seit einigen Monaten offenbar zu doof bin, mir die Schnürsenkel so zuzubinden, dass sie nicht unterwegs aufgehen. Alles kann ich schnell ins Smartphone tippen oder mir bis zuhause merken und es dann in die Halböffentlichkeit von Facebook kübeln. Und dann ist es ja offiziell mitgeteilt, weswegen ich die Episoden nicht mehr behalten muss, um sie in fröhlicher Runde Freunden oder Verwandten zu berichten. Ich habe gesprochen, wie der Indiander sagt, und obwohl das Internet ja an sich nicht vergisst, sind die ganzen mehr oder weniger unterhaltsamen Erlebnisse, die ganzen mehr oder weniger geistreichen Gedanken anschließend einigermaßen weg und für Tagebuch, etwaige Enkel und geplante Romane und Drehbücher irgendwie nicht mehr verfügbar. Darunter leidet auch dieses Blog.
Blöd ist aber auch die Schere im Kopf, die irgendwann unweigerlich auftaucht, sobald man begriffen hat, dass das, was man da ins Internet schreibt, auch von irgendjemandem gelesen wird. Es ist einerseits schön, von wildfremden Menschen im öffentlichen Raum angesprochen zu werden, weil ihnen das eigene Blog gefällt (und man selbst so unvorsichtig war, die eigene Fresse auch dann und wann in eine Videokamera zu halten und somit gesichtsbekannt ist), aber es ist andererseits auch ein bisschen beunruhigend, wenn Leute, deren Namen man nicht kennt (auch, weil man in dem Moment, da sie ihn genannt haben, wieder unaufmerksam war), einem erzählen, wie schön sie diesen oder jenen Text jetzt gefunden hätten.
Schlimmer ist nur noch das private Umfeld. Ich war in den vergangenen Monaten auf mehreren Hochzeiten eingeladen. Mehrere Artikel über das Zusammensein von Mann und Frau, über die offensichtliche Unmöglichkeit von unpeinlichen Einladungskarten, über die Einrichtung von Wohnungen und über die Menschheit im Allgemeinen schwirren seitdem auszugsweise durch mein Oberstübchen und harren ihrer Niederschrift – doch ich traue mich nicht. Schriebe ich identifizierbar (und für wenige Menschen identifizierbar wäre ja schon schlimm genug), wären die Gastgeber aus guten Gründen beleidigt: „Erst frisst er sich auf unsere Kosten durch den Abend und dann geißelt er unsere Einladungskarte.“ Schriebe ich sehr allgemein, wären womöglich hinterher die falschen Menschen angefressen: „Erst frisst er sich auf unsere Kosten durch den Abend und dann geißelt er unsere Einladungskarte, von der er vorher noch gesagt hat, er fände sie überraschend unpeinlich.“ Die Artikel werden also weiter auf sich warten lassen.
Überhaupt ist das ja ein interessantes Phänomen, das früher allenfalls Menschen betraf, die Autoren oder Musikanten in ihrem Bekanntenkreis hatten: Alles, was wir heute sagen, tun oder nicht tun, könnte schon morgen in irgendeinem Blogeintrag oder wenigstens in irgendeinem Facebook-Post auftauchen und mindestens die 200 engsten Freunde wüssten, wer gemeint ist. Drogen werden seit Erfindung von Handykameras daher sowieso von niemandem mehr konsumiert und Sex findet ausschließlich im Dunkeln statt (das ist auch besser fürs Selbstbewusstsein, steht in jeder zweiten Frauenzeitschrift).
Doch wie kam ich drauf? Richtig: Ich hatte heute ein leidlich lustiges Erlebnis in der S‑Bahn, das ich im Facebook irgendwie nicht richtig hätte ausbreiten können (im Twitter hätte ich mit dem Bericht nicht mal beginnen können, weil ich es für nachgerade unmöglich halte, meine Gedanken in 140 Zeichen zu packen – sonst wäre ich schließlich Profifußballer geworden).
Ich stieg also in die S‑Bahn ein und da saß eine schwer blutverschmierte Person.
„Herr Ober, da sitzt eine schwer blutverschmierte Person“, hätte ich also ins Facebook geschrieben, nur um dann zu ergänzen, dass die Person aber offenbar etwas mit Rollenspielen oder ähnlichem zu tun hatte, jedenfalls sehr ordentlich geschminkt war. Eventuell hätte ich noch die Frage an mich selbst hinzugefügt, warum ich in der S‑Bahn eigentlich nach dem Ober rufe, das ist ja schließlich kein Restaurant.
Im Nachhinein betrachtet wäre diese Geschichte vielleicht sogar für Twitter zu sinnlos gewesen.
Deswegen schnell noch eine andere Geschichte, die ich auch nicht bei Facebook gepostet habe: Gestern in der Buchhandlung, ein Tisch „Lesen Sie diese Bestseller im Original“. Darauf: Die „Millennium“-Trilogie von Stieg Larsson auf Spanisch.
Wanted dead or alive
Walter Krämer, Vorsitzender des schrecklichen „Vereins Deutsche Sprache“, durfte sich in der Ruhrgebietsausgabe von „Bild“ mal wieder über „Sprachpanscher“ und „Denglisch“ aufregen.
Der Dortmunder Statistik-Professor, den Bild.de irritierenderweise als „Sprach-Professor“ bezeichnet, erklärt in dem Interview:
„Inzwischen machen 33 000 Leute in unserem Verein mit. Darunter rund 100 bekannte Persönlichkeiten wie Hape Kerkeling, Jürgen von der Lippe, Reinhard Mey oder die kürzlich verstorbenen Otto von Habsburg und Gunter Sachs.“
Dass beim „Verein Deutsche Sprache“ auch Tote mitmachen dürfen, erklärt natürlich vieles.