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Glühwein gegen den Hunger 2012

Im Som­mer des ver­gan­ge­nen Jah­res, als die Hun­ger­ka­ta­stro­phe im Osten Afri­kas es gera­de mal für ein paar Wochen in die deut­schen Medi­en geschafft hat­te, hat­te mein Kum­pel Jan eine Idee: Er woll­te den glei­chen Betrag, den er an einem Wochen­en­de fürs Fei­ern aus­gibt, für das „Bünd­nis Ent­wick­lung hilft“ spen­den. Wir sind mit dem Blog auf­ge­sprun­gen und so war die Face­book-Akti­on „Sau­fen gegen den Hun­ger“ gebo­ren, die wir im Win­ter als „Glüh­wein gegen den Hun­ger“ wie­der­holt haben.

Jetzt ist wie­der Advents­zeit und im Fern­se­hen fin­den aller­lei Wohl­tä­tig­keits­ver­an­stal­tun­gen statt, also wol­len auch wir nicht mehr war­ten und star­ten die 2012er Auf­la­ge von „Glüh­wein gegen den Hun­ger“.

Die Regeln sind wie immer idio­ten­si­cher:

Wir wer­de den glei­chen Betrag, den wir am Wochen­en­de (14. – 16. Dezem­ber) ver­fei­ern/­ver­kös­ti­gen/­ver­sau­fen/­weg-eska­lie­ren/nach der Par­ty ver­fres­sen, für Afri­ka spen­den.

Also, für jeden Ein­tritt, jedes Bier, jeden Schnaps/​Sekt/​Döner/​sonstwas kommt der glei­che Betrag auf das Spen­den­kon­to der ARD (s.u).

Dann wirds zwar logi­scher­wei­se dop­pelt so teu­er, aber der Kater wird durch ein gutes Gewis­sen aus­ge­gli­chen! (und wenn das nicht wirkt: Aspi­rin)

Wie bei den letz­ten Malen kön­nen und wol­len wir nicht über­prü­fen, ob die Teil­neh­mer sich auch tat­säch­lich an die (recht vagen) Regeln hal­ten, aber wir glau­ben wei­ter­hin an das Gute im Men­schen.

Alles Wei­te­re zu „Glüh­wein gegen den Hun­ger“ erfah­ren Sie bei Face­book – und wenn Sie spen­den wol­len, ohne etwas zu trin­ken, kön­nen Sie das selbst­ver­ständ­lich auch tun.

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„Sie übergibt sich!“

Natür­lich kann man es bescheu­ert fin­den, dass Online­me­di­en wie „Spie­gel Online“ oder n‑tv.de ges­tern die Push-Funk­ti­on ihrer Smart­phone-Apps benutz­ten, um ihre Leser dar­über zu infor­mie­ren, dass der Her­zog und die Her­zo­gin vom Cam­bridge (auch bekannt als „Prin­ce Wil­liam und Her­zo­gin Kate“) Nach­wuchs erwar­ten. Aber, mein Gott: Die Euro­kri­se scheint nie enden zu wol­len, im Nahen Osten hat sich die Lage gera­de erst wie­der ein biss­chen beru­higt und in zwei­ein­halb Wochen geht die Welt unter – da kann die Nach­richt von der nahen­den Geburt eines Men­schen, noch dazu in der Advents­zeit, doch für einen Moment mal ein wär­men­des Licht in die kal­te Dun­kel­heit wer­fen.

Der Wahn­sinn ist ohne­hin woan­ders zuhau­se. Nicht bei der „Sun“, die mit „Kate Expec­ta­ti­ons“ einen Über­schrif­ten-Voll­tref­fer lan­de­te, nicht in „Bild“, wo Alex­an­der von Schön­burg über Zeu­gungs­ort und ‑zeit­punkt spe­ku­lier­te, ver­mut­lich nicht ein­mal im Sat.1‑Frühstücksfernsehen, obwohl ich das aus pani­scher Angst vor Sibyl­le Wei­schen­berg gar nicht erst ein­ge­schal­tet habe.

Es dürf­te in jedem Fall schwer wer­den, den Arti­kel zu über…, unter… Es dürf­te schwer wer­den, irgend­et­was zu fin­den, was mit dem Arti­kel von Hel­mut-Maria Glog­ger auf „Focus Online“ ver­gleich­bar wäre. Und da möch­te ich Trips auf syn­the­ti­schen Dro­gen durch­aus mit ein­rech­nen.

Schon der ers­te Absatz ist Poe­sie:

„Die Welt inter­es­siert sich nur für mei­nen Bauch“, lächelt Cathe­ri­ne, Duch­es­se of Cam­bridge, Ehe­frau von Prinz Wil­liam. Und ver­wei­gert bei ihrem Besuch bei der Unicef in Kopen­ha­gen die gereich­te Erd­nuss­pas­te – wor­auf ihr Spre­cher ver­kün­det: „Die Her­zo­gin ist nicht all­er­gisch auf Erd­nüs­se.“

Auf die­sen Zwi­schen­fall, der medi­al durch­aus groß­zü­gig ven­ti­liert wur­de, wird der Text im Fol­gen­den nicht mehr ein­ge­hen. Scha­de, hat­te die Her­zo­gin (oder „Duch­ess“, wenn’s schon Eng­lisch sein soll) ihrem Mann laut Berich­ten doch einen „wis­sen­den Blick“ zuge­wor­fen und hat­ten Ärz­te und Gesund­heits­exper­ten schwan­ge­re Frau­en doch schon „lan­ge gedrängt“, sich von Erd­nüs­sen und ihren Neben­pro­duk­ten fern zu hal­ten, „um All­er­gien zu ver­mei­den“. Aller­dings ist die Epi­so­de inzwi­schen auch schon 13 Mona­te her, sie steht also – nach allem was wir über die mensch­li­che Schwan­ger­schaft wis­sen – in kei­nem direk­ten Zusam­men­hang zur gest­ri­gen Bekannt­ma­chung.

Einen gan­zen Absatz ver­wen­det Glog­ger dar­auf, vor­geb­lich kennt­nis­reich zu beschrei­ben, wo sich Her­zo­gin Kate nicht über­gibt: Nicht im Cot­ta­ge auf der „kar­gen Insel Ang­le­sey vor der Küs­te von Wales“, nicht im „Not­ting­ham Cot­ta­ge“, „dem als ‚Nott Cott‘ bekann­ten Gar­ten­ge­bäu­de beim Ken­sing­ton Palace“ mit diver­sen Räu­men, die Glog­ger natür­lich auf­zählt – nicht ohne zu erwäh­nen, dass Wil­liams Mut­ter Dia­na „bis zu ihrem Tod“ im Haupt­haus (also, welch Zufall, auch nicht im Cot­ta­ge!) leben durf­te. Und zwar „in den Apart­ments 8 und 9“!

Dann klärt Glog­ger end­lich auf, wo sich die Her­zo­gin denn statt­des­sen über­ge­be – und sei­ne Detail­be­ses­sen­heit nimmt Aus­ma­ße an, die man sonst nur aus den Land­schafts­be­schrei­bun­gen von Mit­tel­er­de kennt:

Cathe­ri­ne liegt seit Mon­tag mit „sehr hef­ti­ger Übel­keit“ im pri­va­ten „King Edward VII’s Hos­pi­tal“ an der Lon­do­ner Beau­mont Street. Das unter der Tele­fon-Num­mer +44 (0) 20 7486 4411 erreich­bar ist – ein Durch­stel­len zu den Gynä­ko­lo­gen Dr. Alfred Cut­ner, Dr. Arvind Vas­hist oder Dr. Jona­than Dow­ler ist aller­dings lei­der nicht mög­lich.

Man hät­te hier erwäh­nen kön­nen, dass es ja auch bei „Dr. House“ mal einen Dr. Kut­ner gege­ben habe, der aller­dings nicht mit „C“ geschrie­ben wur­de, mit Vor­na­men Law­rence und nicht Alfred hieß und auch nicht Gynä­ko­lo­ge, son­dern Dia­gno­se­spe­zia­list war, aber Glog­ger ent­schei­det sich gegen die an die­ser Stel­le schon nicht mehr völ­lig abwe­gig erschei­nen­de Abzwei­gung und fährt fort:

Dass das Hos­pi­tal, in dem die „leicht“ schwan­ge­re Cathe­ri­ne auf­ge­päp­pelt wird, aus­ge­rech­net den Namen des bri­ti­schen „Bor­dell­kö­nigs“ Edward VII. trägt? Ein gutes Omen? Gute Fra­ge!

Sich selbst zur eige­nen rhe­to­ri­schen Fra­ge zu beglück­wün­schen, ist doch sicher eine außer­ge­wöhn­li­che sti­lis­ti­sche Spie­le­rei, oder? Ich bin froh, dass ich das anspre­che!

Glog­ger ist auch froh, dass er das The­ma so ele­gant auf Edward VII. hat brin­gen kön­nen, denn wie die Autoren­zei­le erklärt, erscheint 2013 sein Buch „Der Bor­dell­kö­nig: Edward VII.“ und des­we­gen dür­fen Sie ein­mal raten, wor­über er in den nächs­ten Absät­zen refe­riert (klei­ner Tipp: eine „kup­fer­ro­te Bade­wan­ne“ und ein „ ‚Lie­bes­stuhl‘ für die Ména­ge-à-trois“ kom­men auch drin vor).

„Cloud Atlas“-gleich ver­webt Glog­ger nun die ver­schie­de­nen Epo­chen mit­ein­an­der:

Am Toten­bett des Mon­ar­chen stand Ali­ce Kep­pel. Genau: die Urgroß­mutter von Camil­la. Die der Ehe­frau des heu­ti­gen Thron­fol­ger Charles fol­gen­den Satz ver­erb­te: „Erst der Hof­knicks – dann ab ins Bett!“

Her­zo­gin Kate, Ver­zei­hung: Cathe­ri­ne sei anders, fährt Glog­ger fort:

Cathe­ri­ne ist anders, kein Prin­ce-Grou­pie, mit ihren 30 Jah­ren eine Frau, die selbst als allein erzie­hen­de Mut­ter ihren Weg gehen kann! Cathe­ri­ne hat einen Mas­ter of Arts, hat Aus­sicht auf ein Drit­tel der Mil­lio­nen abwer­fen­den Scherz­ar­ti­kel-Fir­ma ihrer Mut­ter, die von Fest­ge­schirr, Bal­lo­nen, Deko-Schlan­gen bis Klei­dung und Kuchen alles anbie­tet.

Mit „Prin­ce-Grou­pie“ bezieht sich Glog­ger natür­lich nicht auf den Pop­star der 1980er Jah­re, mit „Scherz­ar­ti­kel“ mut­maß­lich auch nicht auf sei­nen eige­nen Text, den er auf Sei­te 2 mit Begrif­fen wie „vir­go int­ac­ta“ („Jung­frau“) und „pied-à-terre“ („800 000 Pfund“, sonst nicht näher erklärt) würzt.

Und mit wei­te­rem Detail­wis­sen:

Eine Schwan­ger­schaft, die in Buck­le­bu­ry von Brief­trä­ger Ryan Nay­lor eben­falls wie von Dorf­metz­ger Mar­tin Fid­ler, auf den Bän­ken und Stüh­len in Johns Pub in Buck­le­bu­ry heu­te, mor­gen und über­mor­gen garan­tiert kräf­tig begos­sen wird.

Soll­te Glog­ger für die­se Namens­nen­nun­gen extra nach Buck­le­bu­ry gefah­ren sein, so wäre dies zumin­dest nicht nötig gewe­sen. Aber viel­leicht hat er dort die Glas­ku­gel gefun­den, in die er nun schaut:

Kates jün­ge­re Schwes­ter Pip­pa wird den neu­en Sta­tus ihrer Schwes­ter nut­zen – um viel­leicht doch noch einen rei­chen Erben zu frei­en. Cathe­ri­nes Bru­der James wird künf­tig – selbst stock­be­sof­fen – auf das Tra­gen von Frau­en­klei­dern ver­zich­ten.

Glog­gers Zukunfts­vi­sio­nen sind erstaun­lich klar, nur erklä­ren sie an die­ser Stel­le auch nichts mehr.

Er ist näm­lich inzwi­schen dazu über­ge­gan­gen, zu erklä­ren, dass mit Cathe­ri­ne „wie­der eine ’nor­ma­le‘ Schwan­ge­re ins Leben der Wind­sors“ kom­me. Und das sei ja nicht immer so gewe­sen, denn „schwan­ger zu wer­den von einem Wind­sor war selbst für ange­trau­te Damen nicht ein­fach“. (Die For­mu­lie­rung „selbst für ange­trau­te Damen“ ergibt ange­sichts der Tat­sa­che, dass Glog­ger vor­her noch groß über die Ent­sor­gung von „Bas­tards“ doziert hat­te, auch nicht wirk­lich Sinn, aber: hey!)

Glog­ger refe­riert also, dass Queen Mum und ihr Mann „auf den Rat ihres Arz­tes Dr. Lane Phil­lips“ ein­ge­wil­ligt habe, es mit künst­li­cher Befruch­tung zu ver­su­chen, was zum „Ergeb­nis“, Köni­gin Eliza­beth II, geführt habe.

Dann wird es voll­ends spe­zi­ell:

Erin­nern wir uns an den Abend des 6. Febru­ar 1981.

Ooo­kay …

Der könig­li­che Gynä­ko­lo­ge berich­tet Köni­gin Eli­sa­beth II., dass Lady Dia­na Spen­cer zwar noch „vir­go int­ac­ta“ ist, aber kei­ne Kai­se­rin Sora­ya ist – also sehr wohl fähig zu einer Schwan­ger­schaft. Wor­auf Prinz Charles via Sekre­tär das Kin­der­mäd­chen der St-Saviour-Kir­che im Stadt­teil Pim­li­co in sein Zwei-Zim­mer-Quar­tier im drit­ten Stock des Buck­ing­ham-Palasts rufen lässt. Dia­na fin­det mit ihrem Mini Metro die Pri­vat­ein­fahrt zum Buck­ing­ham-Palast nicht. Ein Tor­wäch­ter hilft ihr.

Yeah. Wha­te­ver …

Laut der Fach­bi­bel „Burke’s Peera­ge and Gen­try“ sind Wil­liam und Cathe­ri­ne angeb­lich Cou­sins sieb­zehn­ten Gra­des. Eine Inzest-Gefahr, gepaart mit dem Gen der Blu­ter­krank­heit, ist aller­dings nicht gege­ben.

Will you plea­se stop it?

Die Gefahr, dass das Kind von Cathe­ri­ne und Wil­liam ein „typisch bri­ti­scher König“ wird, ist gering. Obwohl sich in der Geschich­te des Königs­hau­ses vie­le fin­den: debi­le Säu­fer, schwach­sin­ni­ge Stot­te­rer, Lal­ler, unge­wa­sche­ne Prin­zes­si­nen, homo­se­xu­el­le Opi­um-Rau­cher, ner­vös Zucken­de, Sado-Maso­chis­ten, Mör­der, Frau­en, die eher Män­ner, Män­ner, die eher Frau­en waren – Fuß-Feti­schis­ten, Fla­gel­lan­ten und medi­zi­nisch erklär­te Wahn­sin­ni­ge.

Zom­bies! Ali­ens! Vam­pi­re! Dino­sau­ri­er!

Nach­dem Glog­ger den Leser noch dar­über infor­miert hat, dass Prin­ce Charles „sei­ner Frau Dia­na gera­de mal 17 gemein­sa­me Näch­te zuge­stand“ (ob er, Glog­ger, mit sei­nem Notiz­block auf dem – sicher­lich staub­frei­en – Boden unter dem könig­li­chen Bett dabei war, lässt er lei­der offen), kommt er zum Schluss.

Also ganz zum Anfang zurück:

Eine künf­ti­ge Köni­gin ist schwan­ger! Sie über­gibt sich! Und ein künf­ti­ger König ist dabei. Das hat es in der über 1000-jäh­ri­gen Geschich­te der bri­ti­schen Mon­ra­chie (sic!) noch nie gege­ben!

Einen sol­chen Arti­kel sicher­lich auch nicht!

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Der Untergang des Abendbrotlandes

Schon immer kam alles Schlech­te aus den USA: Die Mei­nungs­frei­heit, das Frau­en­wahl­recht, der Rock’n’Roll und das Fast Food. Der neu­es­te (na ja: „neu­es­te“) Angriff auf die deut­sche Kul­tur ist ein Fest, das von denen, die es bege­hen wol­len, heu­te began­gen wird: Hal­lo­ween.

Eines vor­ab: Ich has­se es, mich zu ver­klei­den. Ich habe das als Kind mit gro­ßer Begeis­te­rung getan und mei­nen Vor­rat dabei offen­bar auf­ge­braucht. Wer sicher­ge­hen will, dass ich nicht zu sei­ner Geburts­tags­fei­er kom­me, rich­tet ein­fach eine Bad-Tas­te- oder Mot­to­par­ty aus. Es kos­tet mich schon Über­win­dung, einen Anzug zu tra­gen oder Hosen, die kei­ne Jeans sind. Als ich vor sechs Jah­ren den Herbst in Nord­ka­li­for­ni­en ver­brach­te, fand ich mich aller­dings plötz­lich in einem eilig aus grü­nen Filz­bah­nen zusam­men­geta­cker­ten Ampel­männ­chen-Kos­tüm wie­der – und hat­te gro­ßen Spaß. Nie­mand kann­te mich, alle waren sehr auf­wen­dig kos­tü­miert und es herrsch­te die­se fei­er­li­che ame­ri­ka­ni­sche Ernst­haf­tig­keit vor.

Wenn ich mir aller­dings einen ame­ri­ka­ni­schen Fei­er­tag für den Import aus­su­chen dürf­te, wäre es – neben einem Natio­nal­fei­er­tag im Som­mer – Thanks­gi­ving: Die Fest­lich­keit und Gesel­lig­keit von Weih­nach­ten ohne die­sen gan­zen Geschen­kestress – die Ame­ri­ka­ner ver­ste­hen es zu fei­ern. Hal­lo­ween ist ja doch eher was für Men­schen, die sich vom Kalen­der vor­schrei­ben las­sen, wann sie mal aus­ge­las­sen fei­ern gehen kön­nen, und denen Kar­ne­val zu spie­ßig ist. ((Mein in Rhein­land­nä­he auf­ge­wach­se­nes Herz hät­te bei­na­he geschrie­ben: die für Kar­ne­val zu fei­ge sind.))

Aber gut, muss jeder selbst wis­sen, wie er sei­ne Frei­zeit ver­bringt. Fähn­chen­schwen­kend durch das Pres­se­zen­trum bei Euro­vi­si­on Song Con­test zu ren­nen, fällt bei den meis­ten Leu­ten sicher auch eher unter „Spe­cial Inte­rest“. Wir sind ein frei­es Land. Wenn ich mir aber so anschaue, wie heu­te in mei­ner Face­book-Time­line west­li­che Kul­tur auf west­li­che Kul­tur trifft, fin­de ich, dass die Kon­tak­te mit der isla­mi­schen Welt im Gro­ßen und Gan­zen doch bei­na­he har­mo­nisch zu nen­nen sind.

Auf der einen Sei­te ste­hen die Leu­te, die Hal­lo­ween mit qua­si reli­giö­sem Eifer bege­hen. Auf der ande­ren jene, die sagen, heu­te sei doch Refor­ma­ti­ons­tag und mor­gen Aller­hei­li­gen. ((Klei­ner Aus­fall­schritt zu Aller­hei­li­gen: Es kann mei­nes Erach­tens nicht sein, dass in einem Land, in dem die Tren­nung von Staat und Kir­che im Grund­ge­setz garan­tiert wird, soge­nann­te Tanz­ver­bo­te an kirch­li­chen Fei­er­ta­gen aus­ge­spro­chen wer­den. Und auch nicht, dass ein Land an zwei auf­ein­an­der­fol­gen­den Tagen volks­wirt­schaft­lich gelähmt wird, weil am einen Tag in fünf Bun­des­län­dern, am nächs­ten in fünf ande­ren kirch­li­cher Fei­er­tag ist. Die Katho­li­ken haben schon Fron­leich­nam (wenn auch nicht über­all), also wären hier mal die Pro­tes­tan­ten dran!)) Ja, stimmt. Heu­te ist auch Welt­spar­tag (außer in Deutsch­land, das für einen Welt-Irgend­was-Tag natür­lich wie­der eine Aus­nah­me brauch­te – übri­gens wegen des Refor­ma­ti­ons­tags) und mor­gen – für die, denen die Katho­li­sche Kir­che nicht ideo­lo­gisch genug ist – Welt­ve­gan­tag. Die ver­rück­tes­ten Geis­ter könn­ten sich nicht aus­den­ken, wel­che Gedenk‑, Fei­er- und Akti­ons­ta­ge es im Lau­fe des Jah­res so gibt, aber sie wer­den offen­bar alle began­gen – man­che nur von denen, die sie aus­ge­ru­fen haben, man­che von wei­ten Tei­len der Mensch­heit, wobei durch­aus Schnitt­men­gen von Per­so­nen mög­lich sind, die am 15. Okto­ber sowohl den „Tag des wei­ßen Sto­ckes“ als auch den „Inter­na­tio­na­len Tag der Frau in länd­li­chen Gebie­ten“ bege­hen. Solan­ge nie­mand einen Refor­ma­ti­ons­tags­got­tes­dienst stürmt, um „Süßes oder Sau­res“ zu rufen, klappt das auch ganz gut.

Der durch­schnitt­li­che Deut­sche, die Volks­see­le, der Michel, Otto Nor­mal­ver­brau­cher oder – wie ich ihn heu­te aus rei­ner Bos­haf­tig­keit nen­nen möch­te – Jür­gen Six­pack hat eine pani­sche Angst davor, dass ihm sei­ne kul­tu­rel­le Iden­ti­tät ver­lo­ren geht. Die Angst vor der „Über­frem­dung“ ist nicht auf den Islam oder Flücht­lin­ge aus Nord­afri­ka beschränkt, sie gilt auch – und ganz beson­ders – im Bezug auf die USA: Jung­ge­sel­len­ab­schie­de (bei denen ich mir tat­säch­lich staat­li­che Inter­ven­ti­on wünsch­te) statt Pol­ter­aben­de, „Han­dy“ statt „Mobil­te­le­fon“, der Weih­nachts­mann statt des Christ­kinds – Ame­ri­ka­ni­sie­rung lau­ert über­all. Oder genau­er: eine loka­le Inter­pre­ta­ti­on davon.

Mit der kul­tu­rel­len Iden­ti­tät ist das so: Man braucht etwas, wor­an man sich hal­ten kann, wes­we­gen der Fuß­ball – eine Sport­art, die ich lie­be, die ame­ri­ka­ni­sche Sport­fans aber als stil­los und banal betrach­ten – hier so schön iden­ti­täts­stif­tend Raum grei­fen kann. Ansons­ten sieht’s näm­lich so aus: Unse­re Städ­te sehen fast alle gleich trü­be und grau aus, so wie Städ­te eben aus­se­hen, wenn sie sehr schnell und bil­lig wie­der auf­ge­baut wer­den müs­sen, weil sie in Schutt und Asche lagen, nach­dem es Deutsch­land mit der kul­tu­rel­len Iden­ti­tät wirk­lich auf die Spit­ze getrie­ben hat­te. Unse­re Ein­kaufs­stra­ßen sehen gleich aus, weil sie mit den immer­glei­chen Filia­len deut­scher Groß­bä­cker, Dro­ge­rie- und Super­markt­ket­ten, bri­ti­scher Kör­per­pfle­ge­mit­tel­her­stel­ler, ame­ri­ka­ni­scher Fast­food­ver­füt­te­rer und schwe­di­scher Beklei­dungs­händ­ler voll­ge­stopft sind.

Woh­nun­gen welt­weit sind von der Schwe­den­ma­fia uni­for­miert wor­den und müss­ten theo­re­tisch alle gleich aus­se­hen, was sie dann aber über­ra­schen­der­wei­se doch nicht tun, weil da eben immer noch Per­sön­li­ches, Indi­vi­du­el­les mit rein­kommt. Die kul­tu­rel­le Iden­ti­tät des Ein­zel­nen, der gleich­zei­tig Stif­ter und Rezi­pi­ent der kul­tu­rel­len Iden­ti­tät einer Grup­pe ist.

Wer die Eröff­nungs- und Abschluss­fei­er der Olym­pi­schen Spie­le in Lon­don gese­hen hat, erleb­te dort einen bun­ten Rei­gen bri­ti­scher Geschich­te und – vor allem – Pop­kul­tur. Schier unend­lich der Fun­dus an aus Eng­land stam­men­den Welt­hits, Ever­greens und Meis­ter­wer­ken. Bei uns, so wur­de dann schnell geunkt, stün­den da Pur, Nena und Xavier Naidoo. ((Na ja, oder halt Kraft­werk, die Erfin­der der moder­nen Pop­mu­sik, aber nun gut.)) Das deut­sche Fern­seh­pro­gramm besteht ja auch über­wie­gend aus Kri­mi­se­ri­en und Quiz­shows (bei­des kei­ne genu­in deut­schen Pro­duk­te)

Die kul­tu­rel­le Iden­ti­tät Deutsch­lands nach dem zwei­ten Welt­krieg hat gleich zwei ampu­tier­te Bei­ne: Das mit dem Traum vom gro­ßen deut­schen Volk war gründ­lich schief gegan­gen, fand sei­ne Fort­set­zung aber in einer Art Light-Ver­si­on in Hei­mat­fil­men und Volks­tü­meln­dem Schla­ger, und die Leu­te, die Ber­lin in den 1920er Jah­ren zum kul­tu­rel­len Hot­spot gemacht hat­ten, waren alle ver­trie­ben oder gleich getö­tet wor­den. Bil­ly Wil­der präg­te im Kino flei­ßig das Ame­ri­ka­bild der Nach­kriegs­zeit, in Deutsch­land fei­er­te „Grün ist die Hei­de“ unglaub­li­che Erfol­ge. Die Jugend­be­we­gun­gen schwapp­ten in der Fol­ge­zeit fast alle aus den USA oder Groß­bri­tan­ni­en nach Deutsch­land und mit ihnen der seit­her andau­ern­de Unter­gang des Abend­lan­des – oder prä­zi­ser viel­leicht: des Abend­brot­lan­des.

Zuvor waren die einst heid­ni­schen Gebie­te des heu­ti­gen Deutsch­lands chris­tia­ni­siert wor­den. Die Gotik war aus Frank­reich gekom­men, die Renais­sance und der Barock aus Ita­li­en. Ohne die­se äuße­ren Ein­flüs­se hät­ten die Bom­ben der Alli­ier­ten allen­falls spät­mit­tel­al­ter­li­che Fach­werk­häu­ser, ver­mut­lich eher irgend­wel­che Stein­zeit­höh­len tref­fen kön­nen. Eine Zeit­lang galt es im Bür­ger­tum als aus­ge­spro­chen chic, Mas­ken­bäl­le vene­zia­ni­scher Prä­gung abzu­hal­ten. Geh­we­ge nann­te man „Trot­toir“, ((Kein Mensch, der noch alle Tas­sen im Schrank hat, wür­de in einem deut­schen Satz das Wort „side­walk“ benut­zen.)) Abor­te „Toi­let­te“.

Über­spitzt gesagt ist der Inbe­griff von Kul­tur in Deutsch­land immer noch Bay­reuth, dabei sind die Wag­ner-Fest­spie­le auch nur eine Art geho­be­ner Kar­ne­val: Men­schen, die allen­falls den Schluss­satz von Beet­ho­vens Neun­ter von Mozarts „Klei­ner Nacht­mu­sik“ aus­ein­an­der­hal­ten kön­nen, ver­klei­den sich einen Abend als kul­tur­in­ter­es­sier­te Bil­dungs­bür­ger.

85 Pro­zent mei­ner eige­nen kul­tu­rel­len Iden­ti­tät sind von angel­säch­si­scher Pop­kul­tur geprägt, der Rest von von angel­säch­si­scher Pop­kul­tur Gepräg­ten. Ja, ich mag kei­ne fran­zö­si­schen Fil­me und ein gut sor­tier­ter und gut gefüll­ter HMV löst in mir mehr Glücks­ge­füh­le aus als die Six­ti­ni­sche Kapel­le. Ich wür­de einen Urlaub im ver­reg­ne­ten Schott­land (und das dor­ti­ge Pub Food) jeder­zeit einem Aus­flug ans Mit­tel­meer vor­zie­hen.

Aber ich stei­ge nicht empört auf die Bar­ri­ka­den (fran­zö­si­sche Spe­zia­li­tät), wenn Men­schen Ita­lie­nisch­kur­se in der Volks­hoch­schu­le besu­chen, bei Aldi den etwas teu­re­ren Rot­wein kau­fen und ihren Urlaub in der Tos­ca­na ver­brin­gen wol­len.

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Armut und Irrtum

Wal­ter Krä­mer hat Bücher geschrie­ben, die „Lexi­kon der popu­lä­ren Irr­tü­mer“, „Lexi­kon der Städ­te­be­schimp­fun­gen“, „Die Ganz­jah­res­to­ma­te und ande­res Plas­tik­deutsch – Ein Lexi­kon der Sprach­ver­ir­run­gen“, „Modern Tal­king auf deutsch – Ein popu­lä­res Lexi­kon“ oder „Die bes­ten Geschich­ten für Bes­ser­wis­ser“ hei­ßen. Er grün­de­te den „Ver­ein Deut­sche Spra­che“, eine Art Bür­ger­wehr gegen den Sprach­wan­del, des­sen Arbeit wenig mit Lin­gu­is­tik und viel mit popu­lä­ren Irr­tü­mern zu tun hat. Von Jour­na­lis­ten muss­te er sich als „Viel­schrei­ber“ und „Prof. Bes­ser­wis­ser“ titu­lie­ren las­sen, er selbst klagt auch ger­ne mal gegen Jour­na­lis­ten oder sagt, er könn­te sie „erwür­gen und an die Wand klat­schen“.

Eigent­lich ist Wal­ter Krä­mer aber Lei­ter des Insti­tut für Wirt­schafts- und Sozi­al­sta­tis­tik an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Dort­mund.

Mit dem Ber­li­ner Psy­cho­lo­gen Gerd Gige­renz­er und dem Bochu­mer Öko­nom Tho­mas Bau­er hat Krä­mer die­ses Jahr die Akti­on „Unsta­tis­tik des Monats“ ins Leben geru­fen, was eigent­lich ein Fall für den „Ver­ein deut­sche Spra­che“ wäre.

Über ihr Pro­jekt schrei­ben die drei:

Sie wer­den jeden Monat sowohl jüngst publi­zier­te Zah­len als auch deren Inter­pre­ta­tio­nen hin­ter­fra­gen. Die Akti­on will so dazu bei­tra­gen, mit Daten und Fak­ten ver­nünf­tig umzu­ge­hen, in Zah­len gefass­te Abbil­der der Wirk­lich­keit kor­rekt zu inter­pre­tie­ren und eine immer kom­ple­xe­re Welt und Umwelt sinn­vol­ler zu beschrei­ben.

Die „Unsta­tis­tik des Monats Okto­ber“ wur­de ges­tern gekürt (Pres­se­mit­tei­lung als PDF):

Die Unsta­tis­tik des Monats Okto­ber heißt 15,8% und kommt vom Sta­tis­ti­schen Bun­des­amt in Wies­ba­den: „15,8 % der Bevöl­ke­rung waren 2010 armuts­ge­fähr­det“ mel­de­ten die Amts­sta­tis­ti­ker am 17. Okto­ber 2012 (zur Pres­se­mit­tei­lung).

Die Zahl ist kor­rekt, nicht aber deren Inter­pre­ta­ti­on. Als „armuts­ge­fähr­det“ gilt, wer jähr­lich net­to weni­ger als 11.426 Euro zur Ver­fü­gung hat. Der Haupt­kri­tik­punkt ist die Berech­nung die­ser Armuts­gren­ze. Dazu nimmt man euro­pa­weit 60 % des Durch­schnitts­ein­kom­mens. Wenn sich also alle Ein­kom­men ver­dop­peln, ver­dop­pelt sich auch die Armuts­gren­ze, und der Anteil der Armen ist der glei­che wie vor­her.

Nun kann man die Defi­ni­ti­on des Begriffs „armuts­ge­fähr­det“ durch­aus kri­ti­sie­ren, dafür soll­te man sie nur kor­rekt wie­der­ge­ben kön­nen: Es geht näm­lich nicht um das Durch­schnitts­ein­kom­men (die Sum­me aller Ein­kom­men geteilt durch deren Anzahl), son­dern um das mitt­le­re Ein­kom­men, den soge­nann­ten Medi­an. Man erhält die­sen Wert, indem man alle Bür­ger sor­tiert nach Ein­kom­men in einer Rei­he auf­stellt und den­je­ni­gen, der dann genau in der Mit­te steht, fragt, was er ver­dient.

Im kon­kre­ten Fall hat das kei­ne Aus­wir­kun­gen auf die wei­te­re Argu­men­ta­ti­on (das kennt man ja auch anders), aber als Pro­fes­sor für Wirt­schafts- und Sozi­al­sta­tis­tik soll­te man den Unter­schied schon ken­nen.

Wal­ter Krä­mer kennt ihn offen­bar nicht.

[via Peter K.]

Nachtrag/​Korrektur, 2. Novem­ber: Offen­sicht­lich ist der Begriff „Durch­schnitt“ unter Sta­tis­ti­kern all­ge­mei­ner gefasst als in der Umgangs­spra­che, wo er das Arith­me­ti­sche Mit­tel bezeich­net. Inso­fern meint Wal­ter Krä­mer womög­lich tat­säch­lich den Medi­an, wenn er vom „Durch­schnitt“ spricht, und ich muss den Vor­wurf, er ken­ne den Unter­schied nicht, zurück­neh­men. (Zumin­dest weit­ge­hend.)

Krä­mer steht ja nur dem „Ver­ein Deut­sche Spra­che“ vor und nicht dem „Ver­ein für Nicht­ma­the­ma­ti­ker und Jour­na­lis­ten ver­ständ­li­che Spra­che“.

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But you don’t really care for music, do you?

Aus Grün­den, die ich nicht ganz nach­voll­zie­hen kann, ver­sorgt mich der Lan­des­ver­band des Deut­schen Jour­na­lis­ten-Ver­bands (DJV) mit sei­nen Pres­se­mit­tei­lun­gen. Meis­tens lösche ich die sofort, weil im Betreff so Signal­wör­ter wie „Soli­da­ri­tät“ oder „Streik“ vor­kom­men. Aber heu­te hab ich mal eine gele­sen. Eine nur mit­tel­gu­te Idee.

DJV ruft Medi­en zu Cohen-Boy­kott auf

Der DJV-NRW ruft die Medi­en dazu auf, nicht über die bei­den Deutsch­land-Kon­zer­te von Leo­nard Cohen zu berich­ten. Das Manage­ment des Künst­lers kne­belt Bild­jour­na­lis­ten mit Foto­ver­trä­gen und lässt Text­jour­na­lis­ten auf ihre Akkre­di­tie­rung war­ten. „Bei­des bedeu­tet einen mas­si­ven Ein­griff in die Frei­heit der Bericht­erstat­tung“, kri­ti­siert DJV-Lan­des­vor­sit­zen­der Hel­mut Dah­l­mann.

Das mit der „Frei­heit der Bericht­erstat­tung“ wird sicher span­nend, aber lesen wir erst mal wei­ter:

Song­wri­ter Leo­nard Cohen tritt am 5. und 6. Sep­tem­ber in Ber­lin und Mön­chen­glad­bach auf. Jour­na­lis­ten, die über eines der bei­den Kon­zer­te berich­ten wol­len, müs­sen für ihre Akkre­di­tie­rung zahl­rei­che Bedin­gun­gen erfül­len. So woll­te die zustän­di­ge deut­sche Pro­mo­ti­on-Agen­tur im Zuge eines Akkre­di­tie­rungs­ver­fah­rens zum Bei­spiel von einer Text­jour­na­lis­tin wis­sen, ob ein Vor­be­richt geplant sei. Mit­ge­teilt wur­de ihr zudem, dass das Manage­ment des Künst­lers erst kurz vor dem Kon­zert über Zu- oder Absa­gen für Medi­en­ver­tre­ter ent­schei­den wür­de. „Eine Akkre­di­tie­rung auch nur ansatz­wei­se mit einer Ankün­di­gung zu ver­bin­den, ist ein star­kes Stück“, fin­det Hel­mut Dah­l­mann, der die Hin­hal­te­tak­tik der Agen­tur eben­falls ver­ur­teilt.

Für Herrn Dah­l­mann mag es ein „star­kes Stück“ sein, eine Akkre­di­tie­rung auch nur ansatz­wei­se mit einer Ankün­di­gung zu ver­bin­den, aber wie wür­de man es denn anders­rum nen­nen, wenn eine Akkre­di­tie­rung nicht mal Ansatz­wei­se mit einem Nach­be­richt ver­knüpft wird?

Kon­zert­ver­an­stal­ter, Pro­mo­ter oder Label­mit­ar­bei­ter berich­ten immer wie­der von Musik­jour­na­lis­ten, die sich bei jedem anste­hen­den Kon­zert auf die Gäs­te­lis­te set­zen las­sen und dann nach zehn Kon­zer­ten immer noch kei­ne ein­zi­ge Zei­le geschrie­ben haben, meist, weil das Kon­zert „dann doch nichts“ für den ver­meint­li­chen Auf­trag­ge­ber war.

Ein Kon­zert­saal ist kein Gerichts­saal, der einer inter­es­sier­ten Öffent­lich­keit immer offen zu ste­hen hat. Kon­zer­te wer­den unter kom­mer­zi­el­len Aspek­ten ver­an­stal­tet und wenn alle, die bei sol­chen Ereig­nis­sen wie einem Leo­nard-Cohen-Kon­zert ger­ne auf der Gäs­te­lis­te ste­hen wür­den, auch drauf kämen, gin­ge ver­mut­lich nur noch die Hälf­te der ver­füg­ba­ren Kar­ten über­haupt in den frei­en Ver­kauf. Dann wäre das Geschrei in den Zei­tun­gen aber auch wie­der groß und die Gewinn­span­ne der Kon­zert­ver­an­stal­ter klein.

Doch auch die Foto­jour­na­lis­ten ver­sucht das Cohen-Manage­ment erheb­lich zu kne­beln: Foto­gra­fen müs­sen bei ihrer Akkre­di­tie­rung unter­zeich­nen, dass sie die Fotos nur ein ein­zi­ges Mal in einem ein­zi­gen, zuvor benann­ten Medi­um ver­öf­fent­li­chen. Beson­ders pikant ist dabei, dass das Manage­ment gleich­zei­tig ver­langt, die Bil­der selbst nut­zen zu dür­fen. „Hier wer­den Urhe­ber­rech­te mit Füßen getre­ten“, stellt der Vor­sit­zen­de des DJV-NRW klar – und ruft daher zum Boy­kott der Kon­zer­te auf. „Unter die­sen Umstän­den soll­ten alle Medi­en auf eine Bericht­erstat­tung ver­zich­ten.“

Das Wort „auch“ im ers­ten Satz fin­de ich ein biss­chen irri­tie­rend, aber die Empö­rung ist natür­lich berech­tigt: Auch nach län­ge­rem Nach­den­ken will mir kein Grund ein­fal­len, der die Beschrän­kung auf ein Medi­um irgend­wie recht­fer­ti­gen könn­te, und ein­fach so Nut­zungs­rech­te ein­for­dern zu wol­len, ist ein­fach Wahn­sinn, der in sol­chen Fäl­len häu­fig dar­auf hin­aus läuft, dass die Foto­gra­fen ihre Bil­der nicht mal für ihr Port­fo­lio ver­wen­den sol­len dür­fen, das Manage­ment die Moti­ve aber bei Gefal­len gleich kom­plett und kos­ten­los aus­schlach­ten darf. Das ist ein kras­ses Miss­ver­hält­nis, das aber wenig mit Pres­se­frei­heit zu tun hat, und viel mit dem Zustan­de­kom­men oder Nicht­zu­stan­de­kom­men einer Geschäfts­be­zie­hung.

Und sei­en wir ehr­lich: Der Ver­zicht auf eine Bericht­erstat­tung ist die ein­zi­ge, stump­fe Waf­fe, die den Foto­gra­fen und Jour­na­lis­ten zur Ver­fü­gung steht. Es ist Leo­nard fuck­ing Cohen, dem Kon­zert­be­rich­te in der „Rhei­ni­schen Post“ und der „NRZ“ ver­mut­lich ega­ler sind als die zwei­mil­li­ons­te „Hallelujah“-Version auf You­Tube.

Außer­dem sieht’s ja nun mal so aus: Die Künst­ler, das Manage­ment und die Ver­an­stal­ter laden ein, wer kommt, muss sich an deren Vor­stel­lun­gen hal­ten. Kon­zer­te stel­len nicht die sel­be Öffent­lich­keit dar wie poli­ti­sche Ent­schei­dungs­vor­gän­ge, sie sind pri­va­ter Spaß vor einer Tei­löf­fent­lich­keit.

In den gro­ßen Medi­en­me­tro­po­len kommt manch­mal auf jeden Kon­zert­be­su­cher einer die­ser Kon­zert­fo­to­gra­fen, die gera­de in den klei­nen Clubs gern in der ers­ten Rei­he ste­hen und Fotos machen wol­len. Das Equip­ment ist für jeden erschwing­lich gewor­den, also knip­sen die meis­ten ein­fach drauf los. Kon­zert­fo­to­gra­fie ist eine Kunst­form und nicht alle, die sie prak­ti­zie­ren, beherr­schen sie auch. Und bei den Klick­stre­cken von irgend­wel­chen Lokal­zei­tun­gen oder Musik­por­ta­len fra­ge ich mich wirk­lich, wer das sehen will: 67 Bil­der von irgend­ei­ner Band wäh­rend der ers­ten drei Lie­der (wo das Licht bei vie­len Kon­zer­ten absicht­lich schei­ße ist), von schräg unten auf­ge­nom­men, kön­nen doch nicht mal die Leu­te inter­es­sie­ren, die selbst dabei waren. Die haben ja sowie­so 134 unschar­fe Bil­der auf ihrem Mobil­te­le­fon.

Aber zurück zum DJV:

Immer wie­der macht der DJV auf haar­sträu­ben­de Akkre­di­tie­rungs­be­din­gun­gen im Kon­zert­jour­na­lis­mus auf­merk­sam: Die Metho­de ist kein Betriebs­un­fall, son­dern hat Sys­tem. So ver­such­ten schon 2009 Musi­ker wie Ramm­stein oder Tom Jones mit ihren Kne­bel­ver­trä­gen die Bild­jour­na­lis­ten aus­zu­plün­dern.

Natür­lich hat das Sys­tem. Es nennt sich Unter­hal­tungs­in­dus­trie.

Die Deals, die dort ablau­fen, sind hin­läng­lich bekannt: Die eine Sei­te winkt mit Frei-CDs, Gäs­te­lis­ten­plät­zen und Inter­view­s­lots, die ande­re mit Medi­en­prä­senz. In vie­len kos­ten­lo­sen Musik- und Stadt­ma­ga­zi­nen (aber nicht nur dort) kann man sehr gut nach­voll­zie­hen, wie Wer­be­plät­ze und Bericht­erstat­tung flä­chen­mä­ßig kor­re­lie­ren. Es gibt tat­säch­lich Maga­zi­ne, die eine Ver­an­stal­tung noch nicht mal in ihren Kalen­der auf­neh­men, wenn als Gegen­leis­tung nicht wenigs­tens eine klei­ne Anzei­ge geschal­tet wird. Und wenn Sie sagen, das habe doch mit Jour­na­lis­mus nichts zu tun, dann sage ich: stimmt!

Man kann sich doch nicht stän­dig zum will­fäh­ri­gen Voll­stre­cker von PR-Agen­ten machen und über Film­pre­mie­ren, Video­drehs, neue Alben und Bran­chen­events berich­ten, als sei irgend­et­was davon rele­van­ter als man es selbst macht, und dann plötz­lich rum­jam­mern, wenn der Geschäfts­part­ner die Details neu ver­han­deln will.

Klar: Ohne Pres­se wären die alle nicht berühmt. Aber wenn sie nicht berühmt wären, wür­den sich die Zeit­schrif­ten mit ihnen auf dem Cover auch nicht so gut ver­kau­fen. Jede Sei­te muss sich über­le­gen, wie weit sie das Spiel mit­ma­chen will (dass die Fan­tas­ti­schen Vier im wört­li­chen Sin­ne mit „Bild“ ins Bett gestie­gen sind, ver­ste­he ich bis heu­te nicht), aber die Grund­re­geln von Jour­na­lis­mus kann man hier nicht anle­gen.

Ein Ramm­stein-Kon­zert ist kein steu­er­lich bezu­schuss­tes Stadt­thea­ter und Tom Jones nicht der Bür­ger­meis­ter.

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Kein Kommentar

Mar­kus Becke­dahl hat bei netzpolitik.org einen Arti­kel über Blog­kom­men­ta­re ver­öf­fent­licht, den ich selbst­ver­ständ­lich nicht gele­sen habe, so wie Blog­kom­men­ta­to­ren in den aller­meis­ten Fäl­len die Arti­kel nicht lesen (oder zumin­dest offen­kun­dig nicht ver­ste­hen), unter denen sie kom­men­tie­ren.

Als ich ange­fan­gen habe zu blog­gen und plötz­lich Leu­te anfin­gen, die Kom­men­tar­funk­ti­on zu nut­zen, gab es in den Kom­men­ta­ren Zustim­mung, ande­re Denk­an­sät­ze, Lob, Kri­tik, Humor, irgend­wann Run­ning Gags. Mit eini­gen treu­en Kom­men­ta­to­ren die­ser Anfangs­pha­se ver­bin­den mich inzwi­schen enge Freund­schaf­ten.

Dann kam Face­book. Lesens­wer­te Arti­kel wur­den nicht mehr ver­linkt, Blogs rekur­rier­ten nicht mehr auf­ein­an­der, die gan­ze Idee der „Blogo­sphä­re“ fiel in sich zusam­men. Lesens­wer­te Arti­kel wer­den heu­te bei Face­book geteilt und eben­da auch dis­ku­tiert, bei den aller­meis­ten im über­schau­ba­ren Rah­men ihrer Facebook-„Freunde“. Das führt einer­seits dazu, dass das Mei­nungs­spek­trum nicht mehr ganz so groß ist ((Ich zum Bei­spiel habe kei­nen ein­zi­gen offen homo­pho­ben oder natio­na­lis­tisch ein­ge­stell­ten Face­book-Kon­takt, wor­über ich sehr froh bin und wor­auf ich auch sehr ach­te.)), ande­rer­seits funk­tio­nie­ren Anspie­lun­gen und Run­ning Gags viel bes­ser, man­che trau­en sich gar wie­der ans Stil­mit­tel der Iro­nie. In sel­te­nen Fäl­len kommt es zu Rei­bungs­punk­ten, wenn Men­schen, deren ein­zi­ge Gemein­sam­keit die Face­book-Bekannt­schaft mit mir ist, unglück­lich auf­ein­an­der­pral­len, aber meis­tens ver­läuft alles harm­los und har­mo­nisch.

Das bedeu­tet aber auch, dass die aller­meis­ten Men­schen, die heu­te noch Blog­bei­trä­ge kom­men­tie­ren, ent­we­der die letz­ten treu­en See­len sind – oder die letz­ten Irren. Die Leu­te, die einem Arti­kel ein­fach nur zustim­men, kli­cken auf „Gefällt mir“ (bzw. „Emp­feh­len“) oder ver­lin­ken ihn ander­wei­tig bei Face­book (bzw. um das Wort ein­mal geschrie­ben zu haben: auf Twit­ter) und sind dann wie­der weg. Wer in die Kom­men­ta­re unter dem Text guckt, bekommt den Ein­druck, dass Blogs aus­schließ­lich von Men­schen gele­sen wer­den, die mit der Mei­nung des Autoren nicht über­ein­stim­men. ((In den Kom­men­ta­ren des News­por­tals „Der Wes­ten“ ent­steht bis­wei­len der Ein­druck, die WAZ-Grup­pe wür­de Frei­schär­ler beschäf­ti­gen, die Men­schen mit Waf­fen­ge­walt dazu zwin­gen, die dort online gestell­ten Arti­kel zu lesen und anschlie­ßend zu kom­men­tie­ren. Das ist aller­dings immer noch harm­los ver­gli­chen mit den nach unten offe­nen Kom­men­tar­spal­ten von „Welt Online“, in denen sich offen­sicht­lich jene Stamm­tisch­gän­ger ver­sam­meln, gegen die der Deut­sche Hotel- und Gast­stät­ten­ver­band DeHo­Ga ein bun­des­wei­tes Knei­pen­ver­bot aus­ge­spro­chen hat.)) In eini­gen Fäl­len könn­te man dar­über hin­aus glau­ben, die Kom­men­ta­re bezö­gen sich auf einen ursprüng­lich dort gepos­te­ten Arti­kel, in dem der Autor vom Geschlechts­ver­kehr mit Tie­ren geschwärmt hat­te und den er anschlie­ßend durch einen etwas weni­ger kon­tro­ver­sen ersetzt hat. So ent­steht ein selt­sa­mes Zerr­bild der Rea­li­tät.

Manch­mal sind Kom­men­ta­re natür­lich auch ein Gewinn. Nicht nur, wenn man expli­zit um Hil­fe gebe­ten hat, son­dern auch, wenn es um das gemein­sa­me Schwel­gen in Erin­ne­run­gen geht. Wenn das The­ma aber nur gering­fü­gig kon­tro­vers ist, ist das Desas­ter pro­gram­miert. Und wenn dann noch durch irgend­wel­che Ver­lin­kun­gen vie­le Leser von außer­halb ange­spült wer­den, die viel­leicht mit Autor, Blog und Rest­kom­men­ta­to­ren nicht ver­traut sind, wird es spä­tes­tens ab Kom­men­tar #20 so lus­tig wie an einem schlech­ten Tag im Nahen Osten.

Ein wei­te­res Pro­blem ist natür­lich, dass in Deutsch­land kei­ne Dis­kus­si­ons­kul­tur exis­tiert wie im angel­säch­si­schen Raum. Mehr noch, im Fern­se­hen bekom­men wir täg­lich – und ich wünsch­te, „täg­lich“ wäre hier eine Über­trei­bung – gezeigt, wie man mit Men­schen umgeht, die ande­rer Mei­nung sind: Unter­bre­chen, Anschrei­en, alle Argu­men­te für nich­tig erklä­ren. Rhe­to­ri­sche Grund­prin­zi­pi­en wer­den in die Ton­ne gekloppt, auf der dann laut rum­ge­trom­melt wird. Was übri­gens noch viel leich­ter geht, wenn man dem Gegen­über dabei nicht in die Augen gucken muss, weil es an einer Com­pu­ter­tas­ta­tur ganz woan­ders sitzt.

Wenn eine kon­struk­ti­ve Dis­kus­si­on also eh unmög­lich ist, kön­nen wir uns alle die Mühe auch spa­ren. Es bringt nichts, den isla­mo­pho­ben Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern in ihren Wahn­sinns­fo­ren mit Fak­ten, Argu­men­ten oder Ver­wei­sen auf die Wirk­lich­keit ent­ge­gen­tre­ten zu wol­len, aber es bringt noch ein biss­chen weni­ger, unter einen Arti­kel, der isla­mo­pho­ben Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern mit Fak­ten, Argu­men­ten oder Ver­wei­sen auf die Wirk­lich­keit ent­ge­gen­tritt, zu schrei­ben, die­se Leu­te sei­en aber echt dum­me Nazis und hät­ten klei­ne Pim­mel. Das mag ja stim­men, aber es hilft den­noch nie­man­dem. Außer viel­leicht für einen kur­zen Moment dem Kom­men­ta­tor.

Natür­lich wird einem jeder alte Zei­tungs­ha­se bestä­ti­gen, dass Leser­brie­fe schon immer zu maxi­mal zehn Pro­zent aus Zustim­mung bestan­den (außer, es geht gera­de gegen Kin­der­mör­der) und zu min­des­tens hun­dert Pro­zent aus gal­le­trie­fen­den Abo-Kün­di­gun­gen, aber ein Blog­kom­men­tar ist noch leicht­fer­ti­ger in die Tas­ta­tur erbro­chen als das Wort „Schrei­ber­ling“ in Süt­ter­lin aufs Büt­ten­pa­pier getropft. Und wäh­rend hier­zu­lan­de tat­säch­lich nie­mand dazu gezwun­gen wird, ein bestimm­tes Medi­um zu kon­su­mie­ren, ver­hält es sich bei den Leser­kom­men­ta­ren genau umge­kehrt: Die müs­sen, schon aus Selbst­schutz des Blog­be­trei­bers, von irgend­je­man­dem auf mög­li­che Ver­stö­ße gegen die guten Sit­ten und gegen bestehen­de Geset­ze über­prüft wer­den. Die Ver­stö­ße gegen Logik und Recht­schreib­kon­ven­tio­nen wür­de eh nie­mand nach­hal­ten wol­len.

Es ist nicht mehr 2007. Blogs sind jetzt ein­fach da und gehen auch nicht mehr weg. Aber sie sind nicht ganz das gewor­den, was wir uns viel­leicht mal erhofft hat­ten. „Wir“ sind nicht das gewor­den. Men­schen, die alle eine Blog­soft­ware benut­zen, haben grund­sätz­lich erst mal genau die­se eine Gemein­sam­keit. Wer will, kann sich mit Men­schen, die auch irgend­wie ins Inter­net schrei­ben, tref­fen, wer nicht will, nicht. Wer sei­ne Sicht auf die Welt für so wich­tig hält, dass ande­re davon erfah­ren soll­ten, soll­te nicht irgend­wo Kom­men­ta­re hin­ter­las­sen, son­dern mit dem Blog­gen anfan­gen.

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Das Ende des Onlinejournalismus

Ich weiß nicht, was Sie heu­te so den lie­ben, lan­gen Tag getrie­ben haben, aber ich habe mich heu­te mal aus­gie­big mit dem Pri­vat­le­ben ver­schie­de­ner Pro­mi­nen­ter beschäf­tigt.

Die „B.Z.“ hat­te berich­tet, dass Lena Mey­er-Land­rut jeman­den in Köln lie­be und ein zusätz­li­ches Tat­too habe. Bei­des waren kei­ne Neu­ig­kei­ten, aber die Bou­le­vard-Medi­en grif­fen es doch ger­ne auf (nach­zu­le­sen im BILD­blog). Beson­ders her­vor­ge­tan hat­te sich bei die­sem The­ma die Feld‑, Wald- und Wie­sen­agen­tur dapd, die es sogar fer­tig­brach­te, Din­ge als neu zu berich­ten, die sie selbst zuvor schon mal als neu berich­tet hat­te.

Das „People“-Magazin hat­te über den ers­ten öffent­li­chen Auf­tritt von Schau­spie­ler Robert Patt­in­son nach dem Fremd­geh-Geständ­nis sei­ner Freun­din Kris­ten Ste­wart geschrie­ben und dabei Vor­komm­nis­se beob­ach­tet, die im Fern­se­hen beim bes­ten Wil­len nicht zu beob­ach­ten waren, von deut­schen Bou­le­vard-Medi­en aber begeis­tert auf­ge­grif­fen wur­den (auch nach­zu­le­sen im BILD­blog).

Womit wir bei der Ant­wort auf die Fra­ge wären, was eigent­lich schlim­mer ist als Bou­le­vard­jour­na­lis­ten, die sich für das Pri­vat­le­ben von Pro­mi­nen­ten inter­es­sie­ren: Bou­le­vard­jour­na­lis­ten, die sich nicht für das Pri­vat­le­ben von Pro­mi­nen­ten inter­es­sie­ren, aber dar­über berich­ten.

Die oft unter Bou­le­vard­mel­dun­gen auf­kom­men­de Fra­ge, wen das denn bit­te­schön inter­es­sie­re und wer der dort beschrie­be­ne „Pro­mi­nen­te“ denn über­haupt sei, ist häu­fig Aus­druck von Über­heb­lich­keit: Natür­lich muss man Robert Patt­in­son, Kris­ten Ste­wart, Jus­tin Bie­ber, Sele­na Gomez, Vanes­sa Hud­gens, Zac Efron, Miley Cyrus und wie­se­al­le­hei­ßen nicht ken­nen (es gibt ja nicht mal ein Gesetz, das vor­schreibt, Barack Oba­ma, Ange­la Mer­kel oder Joseph Ratz­in­ger zu ken­nen), aber man muss ja nicht gleich die Fans run­ter­ma­chen, denen die­se Leu­te etwas bedeu­ten.

Mei­net­we­gen kön­nen wir also dar­über dis­ku­tie­ren, ob es irgend­ei­nen Nach­rich­ten­wert hat, mit wem eine pro­mi­nen­te Per­son Tisch und Bett teilt, wo sie wohnt und was sie stu­diert oder nicht stu­diert (mei­ne Ant­wort wäre ein ent­schie­de­nes „Nein!“), aber wenn so etwas einen Nach­rich­ten­wert hat, dann soll­te das doch bit­te genau­so ernst­haft behan­delt wer­den, wie die Nach­rich­ten zur Euro-Kri­se und zum Ber­li­ner Groß­flug­ha­fen. (Oh Gott, was schrei­be ich denn da?!)

Ich glau­be eher nicht dar­an, dass man ver­ant­wor­tungs­vol­len Bou­le­vard­jour­na­lis­mus betrei­ben kann, ohne immer wie­der Per­sön­lich­keits­rech­te zu ver­let­zen. Aber Bou­le­vard­jour­na­lis­mus wird nicht bes­ser, wenn den dienst­ha­ben­den Redak­teu­ren so offen­sicht­lich egal ist, wor­über sie gera­de schrei­ben. Schrei­ben müs­sen, damit es geklickt wird. Die Leser kli­cken es natür­lich, aber es ist, als ob sie nicht nur Fast Food bekä­men, son­dern Fast Food aus ver­dor­be­nen Zuta­ten.

Könn­te man sich also viel­leicht dar­auf eini­gen, das Wüh­len im Dreck wenigs­tens den Leu­ten zu über­las­sen, die dabei ja offen­bar wenigs­tens Talent und Inter­es­se an den Tag legen? Also jenen ame­ri­ka­ni­schen Klatsch­blogs, die eh hin­ter­her von allen ande­ren zitiert wer­den, und die unge­fähr jede „wich­ti­ge“ Geschich­te der letz­ten Jah­re als Ers­te hat­ten? Wer sich ein biss­chen für Pro­mi­nen­te inter­es­siert, wird sich eh dort rum­trei­ben – und es hat abso­lut für nie­man­den Mehr­wert, wenn mei­ne Oma auf den Start­sei­ten von „Spie­gel Online“, „RP Online“ und „Der Wes­ten“ von irgend­wel­chen Pro­mi­nen­ten lesen muss, von denen sie noch nie gehört hat.

Eine sol­che Wert­stoff­tren­nung wäre der Anfang. Anschlie­ßend könn­te man das sinn‑, witz- und wür­de­lo­se Nach­er­zäh­len von Inter­net­dis­kus­sio­nen über angeb­lich wech­sel­wil­li­ge Fuß­ball­spie­ler ein­fach blei­ben las­sen, weil die Leu­te, die es inter­es­siert, das eh schon gele­sen haben. (Sofort ver­zich­ten soll­ten wir aller­dings auf die bescheu­er­te Unsit­te, Fern­seh­zu­schau­ern vor­zu­le­sen, was Men­schen bei Twit­ter über die aktu­el­le Sen­dung zu sagen haben, denn dafür gibt es ja Twit­ter, Herr­gott­noch­mal!) Irgend­wann könn­ten sich Online­me­di­en dann dar­auf kon­zen­trie­ren, ihre eige­nen Geschich­ten zu erzäh­len und nicht das auf­zu­be­rei­ten, was Nach­rich­ten­agen­tu­ren aus dem Inter­net her­aus­de­stil­liert haben.

Viel­leicht müss­ten die­se, dann schön recher­chier­ten Geschich­ten auch nicht mehr im Netz erschei­nen, son­dern könn­ten etwas wer­ti­ger auf Papier repro­du­ziert wer­den – die Leser wür­den ver­mut­lich sogar dafür bezah­len. Es wäre das Ende des Online­jour­na­lis­mus. Bit­te!

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Kürzen und Würgen

Zuge­ge­ben: Ich hal­te Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler und Art­ver­wand­te sowie­so für moder­ne Scha­ma­nen. Ich wäre nicht im Min­des­ten über­rascht, wenn man im Kel­ler des ifo-Insti­tuts (bekannt durch sei­nen monat­lich ermit­tel­ten „Geschäfts­kli­ma­in­dex“, einer Art Gefühls­ba­ro­me­ter der Wirt­schaft) groß­flä­chi­ge Krei­de­krei­se und Hüh­ner­kno­chen fän­de oder bei den soge­nann­ten Rating­agen­tu­ren Glas­kol­ben mit ver­schie­den­far­bi­gen Flüs­sig­kei­ten. Ich habe also auch nicht näher ver­folgt, was es mit dem aktu­ell statt­fin­den­den Öko­no­men­streit auf sich hat – mut­maß­lich eine Art His­to­ri­ker­streit ohne Nazis, also für Außen­ste­hen­de sehr, sehr lang­wei­lig.

Ges­tern berich­te­te „Han­dels­blatt Online“ unter der ange­mes­sen unauf­ge­regt Über­schrift „Der Krieg der Öko­no­men eska­liert“ über den Dort­mun­der Sta­tis­tik­pro­fes­sor Wal­ter Krä­mer:

Nichts zeigt die Zer­strit­ten­heit deut­scher Öko­no­men so dra­ma­tisch, wie ein Inter­view mit dem Öko­no­mie­pro­fes­sor Wal­ter Krä­mer in der Dort­mun­der Stu­den­ten­zei­tung „Pflicht­lek­tü­re“. „Was von unse­ren Geg­nern an Gehäs­sig­keit in die Tin­te geflos­sen ist, das ist ja kaum zu glau­ben, Leu­te wie Herr Bofin­ger der übri­gens eine aka­de­mi­sche Null­num­mer ist.“ Kei­ner neh­me Herrn Bofin­ger ernst, wet­tert Krä­mer. Die­ser sei nur in den Rat der Wirt­schafts­wei­sen gekom­men, weil die Gewerk­schaf­ten ihn dort rein koop­tiert hät­ten. Han­dels­blatt Online kon­fron­tier­te Bofin­ger mit der har­ten Kri­tik, eine Reak­ti­on gab es auf die Email-Anfra­ge aber bis­her nicht.

Mit man­geln­dem Exper­ten­tum muss sich Krä­mer aus­ken­nen wie kaum ein Zwei­ter, ist der Öko­no­mie­pro­fes­sor doch Vor­sit­zen­der des „Ver­eins Deut­sche Spra­che“, der mit ernst­zu­neh­men­der Ger­ma­nis­tik unge­fähr so viel gemein hat wie Krea­tio­nis­ten mit der Evo­lu­ti­on.

Vor ein paar Wochen hat Krä­mer einen Appell ver­öf­fent­licht. Bei der Bericht­erstat­tung dar­über fühl­te er sich miss­ver­stan­den, wie „Han­dels­blatt Online“ wei­ter schreibt:

Im Inter­view mit der Dort­mun­der Stu­den­ten­zei­tung ver­sucht Krä­mer nun, auf­zu­klä­ren. [Hans-Wer­ner] Sinn sei an dem Auf­ruf nicht betei­ligt gewe­sen, sagt er. Der „Spie­gel“ stel­le ihn aber als medi­en­gei­len Dumm­schwät­zer da. „Die­sen Redak­teur könn­te ich erwür­gen und an die Wand klat­schen“, so Krä­mer.

Der Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Gus­tav Horn ver­link­te den „Handelsblatt“-Text bei Face­book und kom­men­tier­te, Krä­mer habe sich „für wei­te­re wirt­schafts­po­li­ti­sche Debat­ten als unge­eig­net erwie­sen“. Dann bekam Horn offen­bar Post von Krä­mer, die er „der Korekt­heit wegen“ eben­falls auf Face­book ver­öf­fent­lich­te:

Sehr geehr­te Damen und Her­ren,
ich fal­le gera­de aus allen Wol­ken, im Han­dels­blatt einen nicht auto­ri­sier­ten Mit­schnitt einer flap­si­gen Neben­be­mer­kung wäh­rend eines Inter­views zu fin­den.
Den von Ihnen zitier­ten Text hat­te ich bis heu­te Mit­tag nicht gese­hen.
Sie dür­fen ger­ne in der Redak­ti­on der Pflicht­lek­tü­re nach­fra­gen.
Die auto­ri­sier­te Fas­sung des Inter­views fin­den Sie hier:

http://www.pflichtlektuere.com/

Wie Sie dar­in sehen, bemü­he ich mich nach Kräf­ten um das Gegen­teil des­sen, was Sie mir vor­wer­fen.
Näm­lich die Gemein­sam­kei­ten der ver­schie­de­nen Ansät­ze her­aus­zu­stel­len.
Und bei dem Kol­le­gen Bofin­ger wer­de ich mich für die­sen faux pas ent­schul­di­gen.
Was treibt eigent­lich das Han­dels­blatt, mit aller Gewalt eine allen­falls auf per­sön­li­cher, aber kaum auf wis­sen­schaft­li­cher Ebe­ne exis­tie­ren­de Fron­ten­bil­dung zwi­schen deut­schen Öko­no­men zu erfin­den?

Mit irri­tier­ten Grü­ßen Wal­ter Krä­mer

PS: Bit­te lei­ten Sie die­se Nach­richt auch an den zustän­di­gen Redak­teur wei­ter, ich habe die elek­tro­ni­sche Anschrift lei­der nicht

(„Faux pas“ ist offen­bar okay für den „Ver­ein Deut­sche Spra­che“.)

Wenn man nun das Inter­view auf pflichtlektuere.com liest, fin­det man dort tat­säch­lich kei­ne Erwäh­nung Bofin­gers und kei­ne Gewalt­phan­ta­sien gegen­über „Spiegel“-Redakteuren.

Man fin­det sie nicht mehr.

Rund eine Woche stand das Inter­view offen­bar in sei­ner ursprüng­li­chen Form online, ges­tern wur­de es über­ar­bei­tet und die ent­spre­chen­den Pas­sa­gen wur­den ohne einen Hin­weis ent­fernt.

Bei scribd.com oder im Goog­le-Cache kann man aber noch ein­mal nach­le­sen, wie Krä­mer ande­ren vor­warf, sich im Ton zu ver­grei­fen:

Neben der Kanz­le­rin gab es aber auch noch deut­li­che­re Wor­te, bei­spiels­wei­se von Wolf­gang Schäub­le. Man­che Kri­ti­ker wer­fen Ihnen unter ande­rem Pathos und inhalt­li­che Armut vor…

Krä­mer: Also, wenn sich hier jemand im Ton ver­greift, dann sind das die ande­ren. Was von unse­ren Geg­nern an Gehäs­sig­keit in die Tin­te geflos­sen ist, das ist ja kaum zu glau­ben. Leu­te wie Herr Bofin­ger (Anmerk. Der Red.: Peter Bofin­ger, VWL-Pro­fes­sor an der Uni Würz­burg und einer der fünf Wirt­schafts­wei­sen) der übri­gens eine aka­de­mi­sche Null­num­mer ist. Kei­ner nimmt ihn ernst, er ist nur in den Rat gekom­men, weil von den Gewerk­schaf­ten rein koop­tiert wor­den ist. Wenn hier jemand auf Stamm­tisch­ni­veau argu­men­tiert, dann die Gegen­sei­te.

An fast 20 Stel­len unter­schei­den sich die Ver­sio­nen mal mehr, mal weni­ger stark von­ein­an­der. Die Leser von „Pflicht­lek­tü­re“ erfuh­ren davon bis zum heu­ti­gen Nach­mit­tag nichts, nur der Hin­weis „[Update 24.7.2012]“ im Vor­spann deu­te­te vage eine Über­ar­bei­tung an.

Ich habe mich an die Redak­ti­on gewandt und unter ande­rem gefragt, ob die Über­ar­bei­tung des Inter­views, gera­de wenn es beim „Han­dels­blatt“ zitiert und ver­linkt wird, nicht kennt­lich gemacht wer­den müss­te. Der Redak­ti­ons­lei­ter erklär­te mir dann, dass es meh­re­re Nach­fra­gen gege­ben habe und man dar­auf nun reagie­ren wer­de.

Seit dem spä­ten Nach­mit­tag steht nun unter dem Arti­kel:

Hin­weis der Redak­ti­on:

Das ver­schrift­li­che Inter­view mit Wal­ter Krä­mer vom 17. Juli 2012 lag dem Befrag­ten vor der Ver­öf­fent­li­chung nicht vor. Die aktua­li­sier­te Fas­sung ent­hält die Ände­run­gen, die Herr Wal­ter Krä­mer am 24. Juli 2012 ergänzt hat.

Tobi­as Schweig­mann
Lei­ter der Lehr­re­dak­ti­on Online

„Ergänzt“, soso. Wenn der „Ver­ein Deut­sche Spra­che“ von die­ser Bedeu­tungs­ver­schie­bung erfährt …

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„Haha“, said the clown

Wenn sich der Mann, der in der Nacht zum Frei­tag in einem Kino in Colo­ra­do 12 Men­schen erschos­sen und 58 wei­te­re ver­letzt hat, für eine ande­re Vor­stel­lung ent­schie­den hät­te, wäre alles anders: „Ice Age 4“, der Katy-Per­ry-Kon­zert­film, schon „The Ama­zing Spi­der-Man“ hät­te alles geän­dert, aber der Mann ging in die Mit­ter­nachts­vor­stel­lung von „The Dark Knight Rises“ – ob gezielt, ist noch nicht klar.

dapd schreibt:

Der Poli­zei­chef von New York, Ray­mond Kel­ly, sag­te, der Ver­däch­ti­ge habe sei­ne Haa­re rot gefärbt und gesagt, er sei der „Joker“, ein Böse­wicht aus den „Batman“-Filmen und ‑Comic­bü­chern. „Das ist mei­nes Wis­sens nach nicht wahr“, sag­te hin­ge­gen der ört­li­che Poli­zei­chef Dan Oates, erklär­te aber mit Kel­ly gespro­chen zu haben.

Der Poli­zei­chef einer 2.800 Kilo­me­ter ent­fern­ten Stadt sagt etwas, was der ört­li­che Poli­zei­chef nicht bestä­ti­gen kann oder will – das kann man auf­schrei­ben, wenn man die ohne­hin ins Kraut schie­ßen­den Spe­ku­la­tio­nen wei­ter anhei­zen will, muss es aber sicher nicht.

Das heißt: Als Nach­rich­ten­agen­tur im Jahr 2012 muss man es wahr­schein­lich schon, weil die Kun­den, allen vor­an die Online­diens­te, ja sonst selbst anfan­gen müss­ten, irgend­wel­che mut­maß­li­chen Details aus dem Inter­net zusam­men­zu­tra­gen. Dabei gibt es kaum wel­che!

„Spie­gel Online“ kom­men­tiert den Umstand, dass der Mann offen­bar nicht bei „Face­book, Twit­ter, irgend­ein Social Net­work her­kömm­li­cher Strick­art“ ange­mel­det war, dann auch ent­spre­chend so:

Bei den Fahn­dern wirft das Fra­gen auf, wäh­rend es bei jün­ge­ren Inter­net­nut­zern für Fas­sungs­lo­sig­keit sorgt. Ihnen erscheint [der Täter] wie ein Geist. Wie kann das sein, dass ein 24 Jah­re jun­ger ame­ri­ka­ni­scher Aka­de­mi­ker nicht ver­netzt ist? Mit nie­man­dem kom­mu­ni­ziert, Bil­der tauscht, Sta­tus-Aktua­li­sie­run­gen ver­öf­fent­licht, sich selbst öffent­lich macht?

Man hät­te es also wie­der ein­mal kom­men sehen müs­sen:

Dass [der Täter] im Web nicht prä­sent ist, macht ihn heu­te genau­so ver­däch­tig, wie er es als exzes­si­ver Nut­zer wäre. Im Janu­ar 2011 ver­öf­fent­lich­te ein Team um den Jugend­psy­cho­lo­gen Richard E. Bélan­ger eine Stu­die, die exzes­si­ve Inter­net­nut­zung genau wie Inter­net- und Ver­net­zungs-Abs­ti­nenz bei jun­gen Leu­ten zu einem Warn­si­gnal für men­ta­le Erkran­kun­gen erklär­te.

Erst an die­ser Stel­le, in den letz­ten Absät­zen, wen­det sich Autor Frank Pata­long gegen die von ihm bis­her refe­rier­ten The­sen:

Man muss sich ein­mal vor­stel­len, was es für uns alle bedeu­ten wür­de, wenn das Kon­sens wür­de: Dann wäre nur noch der unver­däch­tig, der ein „nor­ma­les“ Online-Ver­hal­ten zeigt, Selbst­ver­öf­fent­li­chung per Social Net­work inklu­si­ve.

Doch viel­leicht braucht man aus […] feh­len­der Online-Prä­senz kein Mys­te­ri­um zu machen. Viel­leicht ist […] ein­fach nur ein ehe­ma­li­ger Über­flie­ger, der mit sei­nem eige­nen Schei­tern nicht zurecht­kam. Ein Nie­mand, der jemand wer­den woll­te, und sei es mit Gewalt auf Kos­ten unschul­di­ger Men­schen.

Es gibt aller­dings berech­tig­te Hoff­nung dar­auf, dass die Tal­soh­le bereits erreicht wur­de – womög­lich gar bis zum Ende des Jah­res oder dem der Welt.

Beim Ver­such, mög­li­che Zusam­men­hän­ge zwi­schen den „Batman“-Filmen und dem Mas­sen­mord im Kino als halt­lo­se Spe­ku­la­ti­on zurück­zu­wei­sen, lehnt sich Hanns-Georg Rodek bei „Welt Online“ näm­lich der­art weit aus dem Fens­ter, dass er fast schon wie­der im Nach­bar­haus auf der gegen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te (vier­spu­ri­ge Stra­ße mit Park­buch­ten am Rand und Grün­strei­fen in der Mit­te) ankommt.

Aber lei­der nur fast:

[Der Täter] flüch­te­te durch den Not­aus­gang und wur­de, ohne Wider­stand zu leis­ten, bei sei­nem Auto gefasst. Dabei soll er „Ich bin der Joker, der Feind von Bat­man“ gesagt haben.

Dar­aus lässt sich eine ers­te wich­ti­ge Fol­ge­rung zie­hen: Der Atten­tä­ter hat den Film nicht gese­hen, auch nicht im Netz, weil dort kei­ne Raub­ko­pien kur­sier­ten, und er kann sich den Inhalt nur bruch­stück­haft zusam­men­ge­reimt haben, wobei aller­dings All­ge­mein­wis­sen war, dass der Joker gar nicht auf­tritt.

Laut Rodek war der Joker also da, wo sich die Leser sei­nes Arti­kels wäh­nen: im fal­schen Film. Er hät­te nicht die ers­te Vor­stel­lung von „The Dark Knight Rises“ stür­men müs­sen, son­dern eine der (zum Start des Films zahl­reich ange­bo­te­nen) Wie­der­auf­füh­run­gen des zwei­ten „Batman“-Films von Chris­to­pher Nolan, „The Dark Knight“. Denn da hät­te ja der Joker mit­ge­spielt.

Aber das ist eh alles egal, so Rodek:

Auf jeden Fall hät­te [der Täter], wäre sei­ne Sti­li­sie­rung ernst gemeint gewe­sen, sich die Haa­re nicht rot fär­ben müs­sen, son­dern grün. Der Joker trägt grü­nes Haar, weil er ein­mal in ein Fass mit Che­mi­ka­li­en fiel, das weiß in Ame­ri­ka jedes Kind.

Die Leu­te von dpa wuss­ten es nicht, aber die sind ja auch kei­ne ame­ri­ka­ni­schen Kin­der. Und das, wo Rodek den Jugend- und Teen­ager-Begriff schon aus­ge­spro­chen weit fasst:

US-Teen­ager – [der Täter] ist 24 – wis­sen ziem­lich gut über die­se Figur Bescheid.

Rodek hin­ge­gen weiß über Mas­sen­mor­de ziem­lich gut Bescheid:

Das Cen­tu­ry-Kino war die per­fek­te Büh­ne – Hun­der­te Men­schen, zusam­men­ge­pfercht, ihm in Dun­kel und Gas­ne­bel aus­ge­lie­fert. Ein Ort, bes­ser noch für sein Vor­ha­ben als eine Schu­le, ein Ein­kaufs­zen­trum oder eine bewal­de­te Insel.

Ein Kino ist beim Amok­lauf-Quar­tett also unschlag­bar, qua­si der … äh: Joker.

Viel kann man zum jet­zi­gen Zeit­punkt aber eh noch nicht sagen:

Genaue Grün­de für sei­ne Mord­lust wer­den die Psy­cho­lo­gen erfor­schen, sie dürf­ten irgend­wo zwi­schen per­sön­li­cher Ver­ein­sa­mung und der Unfä­hig­keit der Gesell­schaft lie­gen, ihm trotz sei­ner anschei­nen­den Intel­li­genz mehr als einen McDonald’s‑Job zu bie­ten.

Das steckt natür­lich ein wei­tes Spek­trum ab. Der Satz „Alles ande­re wäre zum jet­zi­gen Zeit­punkt rei­ne Spe­ku­la­ti­on“ ist an die­ser Stel­le mut­maß­lich dem Lek­to­rat zum Opfer gefal­len.

Tat­säch­lich geht es aber um etwas ganz ande­res:

Sich mit allen Mit­teln in Sze­ne zu set­zen, ist heu­te ers­te Bür­ger­pflicht, in der Schu­le, in der Cli­que, bei der Super­star-Vor­auswahl, bei der Bewer­bung um eine Arbeits­stel­le. [Der Täter] hat die­se Lek­ti­on her­vor­ra­gend gelernt.

Er hat also nicht nur die „per­fek­te Büh­ne“ gewählt, son­dern auch die Selbst­dar­stel­lungs­lek­ti­on „her­vor­ra­gend gelernt“. Da ist es doch tat­säch­lich frag­lich, war­um so ein offen­kun­dig bril­lan­ter Mann wie die­ser Mas­sen­mör­der bei McDonald’s arbei­ten muss­te.

Gera­de, wo er auch bei der Wahl des rich­ti­gen Kino­films die rich­ti­ge Ent­schei­dung (gegen „Ice Age 4“, wir erin­nern uns) getrof­fen hat:

Er hat den Abend der ers­ten Vor­füh­rung des meis­ter­war­te­ten Films des Jah­res gewählt (zwei Wochen spä­ter hät­te er genau­so vie­le umbrin­gen kön­nen, nur der Auf­merk­sam­keits­ef­fekt wäre gerin­ger gewe­sen), und er hat sich das Label „Joker“ selbst ver­passt, das die Medi­en von nun an ver­wen­den wer­den.

Ja, man­che mensch­li­che Gehir­ne wären an die­ser Stel­le auf Not­aus gegan­gen. Der Ver­such zu erklä­ren, war­um der Täter nichts mit dem Joker zu tun hat (er hat ja offen­bar nicht mal die Fil­me gese­hen!), ist an die­ser Stel­le jeden­falls end­gül­tig geschei­tert. Selbst beim Anschrei­ben gegen den media­len Wahn­sinn ist Rodek in eine der klas­si­schen Fal­len getappt, die sol­che Mas­sen­mör­der ger­ne aus­le­gen um dar­in schlag­zei­len­gei­le Jour­na­lis­ten im Rudel zu fan­gen: Die Medi­en bege­hen die fina­le Bei­hil­fe zur Selbst­in­sze­nie­rung. Es ist also so wie immer.

„Spie­gel Online“ hat das auch beein­dru­ckend unglück­lich hin­be­kom­men: Der Arti­kel dar­über, dass der Gou­ver­neur von Colo­ra­do sich wei­gert, den Namen des Täters aus­zu­spre­chen, und dass US-Prä­si­dent Oba­ma sag­te, spä­ter wer­de man sich nur an die Opfer, nicht aber an den Täter erin­nern, beginnt mit dem Namen des Täters, der im wei­te­ren Arti­kel noch gan­ze 21 Male vor­kommt.

Doch zurück zu „Welt Online“, zum „Joker“, der nicht der Joker ist:

Wäre er wirk­lich auf merk­wür­di­ge Art vom Joker beses­sen, hät­te er sich ihm auch nach­kos­tü­miert. Aber nein, er war „pro­fes­sio­nell“ ein­ge­klei­det, mit schuss­si­che­rer schwar­zer Wes­te und Atem­mas­ke, wie die gru­se­li­gen Gestal­ten der Son­der­ein­satz­teams von Poli­zei und Armee. Viel­leicht soll­te man eher dort nach ver­häng­nis­vol­len Vor­bil­dern suchen.

Na, viel Spaß dabei!

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Mein Fan-Problem

Es mag so die 82. Minu­te im WM-Vier­tel­fi­nal­spiel Deutsch­land gegen Kroa­ti­en gewe­sen sein, als ich den Fern­se­her im Wohn­zim­mer mei­nes Eltern­hau­ses zurück­ließ, in den Gar­ten ging und mei­nen Fuß­ball immer wie­der gegen die Wand des Gar­ten­hau­ses drosch. „So geht das, Ihr Ver­sa­ger“, rief ich an die Adres­se der deut­schen Mann­schaft, die gera­de in Lyon 0:2 zurück­lag. Mei­ne Mut­ter trat auf die Ter­ras­se, beob­ach­te­te skep­tisch mein wüten­des Gebol­ze und ver­kün­de­te, es ste­he jetzt 0:3.

In der deut­schen Mann­schaft spiel­ten damals so klang­vol­le Namen wie Chris­ti­an Wörns, Jörg Hein­rich, Diet­mar Hamann, Micha­el Tar­nat und Olaf Mar­schall.

* * *

Ich bin jetzt seit 22 Jah­ren Fuß­ball­fan – und das hat viel mit Miss­ver­ständ­nis­sen zu tun:

Das ers­te Fuß­ball­spiel, an das ich mich erin­nern konn­te, war das Ach­tel­fi­na­le Deutsch­land gegen die Nie­der­lan­de bei der Ita­lia 90. Zuvor waren wir im Som­mer­ur­laub in den Nie­der­lan­den gewe­sen, wo damals alle der Mei­nung waren, dass ihr Team Welt­meis­ter wer­den wür­de. Alles war in Oran­je deko­riert und seit­dem bin ich Hol­land-Fan. Hol­land ver­lor gegen Deutsch­land, Deutsch­land wur­de Welt­meis­ter und ich muss­te – eben­so wie Franz Becken­bau­er – anneh­men, dass Deutsch­land auf Jah­re unbe­sieg­bar sein wer­de. Dann ver­lor Deutsch­land das EM-Fina­le 1992 gegen Däne­mark ((Das sich nicht mal regu­lär qua­li­fi­ziert hat­te und in mei­nem Pani­ni-Sam­mel­al­bum nur mit einem zwei­tei­li­gen Mann­schafts­fo­to gewür­digt wur­de, nicht mit einer Dop­pel­sei­te vol­ler Ein­zel­por­träts!)) und ich wein­te als Acht­jäh­ri­ger hei­ße Trä­nen der Ent­täu­schung.

Da mei­ne Begeis­te­rung für Sport (genau­so wie mei­ne Begeis­te­rung für den Euro­vi­si­on Song Con­test) von Anfang an vor allem von mei­ner Begeis­te­rung für Zah­len und Sta­tis­ti­ken geprägt wur­de, tipp­te ich vor der WM 1994 alle Spie­le des Tur­niers, errech­ne­te die Grup­pen­sie­ger und Ach­tel­fi­nal­paa­run­gen und kam zu dem Schluss, dass Deutsch­land sei­nen Titel ver­tei­di­gen wür­de. Dar­aus wur­de nichts, ich war wie­der ein­mal bit­ter ent­täuscht, aber der Gedan­ke, dass die­ser Final­sieg 1990 nicht die Regel, son­dern die Aus­nah­me gewe­sen sein könn­te, kam mir erst vie­le Jah­re spä­ter. Ich hat­te mich unter­des­sen in die schwe­di­sche Mann­schaft ver­liebt, die mit offen­kun­di­gen Welt­klas­se­spie­lern wie Tho­mas Ravel­li, Patrik Anders­son, Tho­mas Bro­lin, Hen­rik Lars­son, Ken­net Anders­son und Mar­tin Dah­lin WM-Drit­ter wur­de. Als ansons­ten ahnungs­lo­ser Jun­ge muss­te ich davon aus­ge­hen, dass Schwe­den eine inter­na­tio­na­le Top-Mann­schaft sei.

* * *

End­gül­tig vom Fuß­ball ange­fixt, brauch­te ich natür­lich auch eine eige­ne Bun­des­li­ga­mann­schaft. Mei­ne Wahl fiel auf Borus­sia Mön­chen­glad­bach, was nicht so will­kür­lich wahr, wie es sich im ers­ten Moment anhö­ren mag: Ste­fan Effen­berg, der wegen sei­nes Mit­tel­fin­ger-Ein­sat­zes gegen deut­sche Fans bei der WM aus dem Kader geflo­gen war, woll­te nach dem Tur­nier in die Bun­des­li­ga wech­seln. Aus irgend­ei­nem früh­pu­ber­tä­ren Grund fand ich die „Stinkefinger“-Aktion als Zehn­jäh­ri­ger cool und dach­te mir: „Hey, wo der hin­geht, das ist mein Ver­ein: Bre­men oder Mön­chen­glad­bach!“ Für Glad­bach spra­chen dann aber auch noch die schwe­di­schen Natio­nal­spie­ler Patrik Anders­son und Mar­tin Dah­lin und mein Paten­on­kel, der in Mön­chen­glad­bach wohn­te.

Vor dem Beginn der Bun­des­li­ga­sai­son 1994/​95 hat­te ich kei­ne Ahnung, wie erfolg­reich die­se Borus­sia aus Mön­chen­glad­bach sein könn­te, ein Jahr spä­ter waren „wir“ Fünf­ter in der Bun­des­li­ga und DFB-Pokal­sie­ger gewor­den. ((Das Pokal­fi­na­le in Ber­lin hat­te ich als mein zwei­tes Fuß­ball­spiel über­haupt sogar live im Ber­li­ner Olym­pia­sta­di­on ver­folgt.)) Ich muss­te wie­der ein­mal anneh­men, mich für eine Top-Mann­schaft ent­schie­den zu haben.

Am letz­ten Spiel­tag der Sai­son 1997/​98 ret­te­te sich Glad­bach ((Mit Schüt­zen­hil­fe von Han­sa Ros­tock!)) vor dem Abstieg, ein Jahr spä­ter stieg mein Ver­ein dann doch in die zwei­te Liga ab. Ich beschloss, mich eher auf Musik zu kon­zen­trie­ren, wo ich auf weni­ger Ent­täu­schun­gen hoff­te. Nach einem Jahr lös­ten sich zwei mei­ner dama­li­gen Lieb­lings­bands auf.

Als ich gera­de nach Bochum gezo­gen war, qua­li­fi­zier­te sich der VfL für den UEFA-Cup, ein Jahr spä­ter stieg er ab. Glad­bach ent­ließ 2006, nach der erfolg­reichs­ten Sai­son seit zehn Jah­ren, den Trai­ner und ging 2007 wie­der in die zwei­te Liga. Letz­tes Jahr tra­fen bei­de Mann­schaf­ten in der Rele­ga­ti­on auf­ein­an­der, ich konn­te mich kaum ent­schei­den – und ein Jahr spä­ter been­de­te Glad­bach die Sai­son in der ers­ten Liga auf Platz 4, Bochum Elf­ter in Liga Zwei.

Man lernt als Fuß­ball­fan viel fürs Leben, denn es gilt das glei­che, was Jason Lee in „Vanil­la Sky“ über die Lie­be sagt:

You can do wha­te­ver you want with your life, but one day you’ll know what love tru­ly is. It’s the sour and the sweet. And I know sour, which allows me to app­re­cia­te the sweet.

* * *

Was mei­ne Lie­be zum Fuß­ball, aber auch die zur Musik, immer etwas schwie­rig gestal­tet hat, waren die ande­ren Fans. Ich hat­te immer Schwie­rig­kei­ten damit, Teil einer Grup­pe zu sein. Ich den­ke dann immer: „Wir mögen ja gemein­sa­me Inter­es­sen haben, aber ich bin doch ganz anders als Ihr!“

Wenn ich wäh­rend der zwei Wochen Euro­vi­si­on den­ke, so lang­sam sei es aber auch mal gut, mit den Kli­scheeschwu­len, die da blon­diert und nasal flö­tend um mich rum­tu­cken, muss ich mich nur dran erin­nern, wie es im Fuß­ball­sta­di­on aus­sieht: Homo­pho­bie statt Homo­se­xua­li­tät, plum­pes Gebrüll statt ent­zück­tem Gekrei­sche und gene­rell null Takt­ge­fühl. Natür­lich: Nicht alle Fuß­ball­fans sind so, aber in der Sum­me ist es für mich dann doch schwer erträg­lich. Schon in der Knei­pe sind mir die­se Typen ein Graus, die immer hin­ter einem ste­hen und in jeder ver­damm­ten Sze­ne die Spie­ler laut­stark anbrül­len – dabei kön­nen Men­schen im Fern­se­hen einen nun wirk­lich nicht hören.

* * *

Schlim­mer als die­se Fans, die es mit ihrer Begeis­te­rung für den Sport dann viel­leicht doch ein biss­chen über­trei­ben, sind aber jene Leu­te, die sich zu inter­na­tio­na­len Tur­nie­ren in schwarz-rot-gol­de­ne Scha­le wer­fen und gemein­sam mit der Bou­le­vard­pres­se dar­auf hof­fen, dass „wir“ den Titel holen.

Natür­lich kann man inter­na­tio­na­le Fuß­ball­tur­nie­re ver­fol­gen, ohne die Abseits­re­gel oder die FIFA-Welt­rang­lis­te zu ken­nen. Auch habe ich in den letz­ten sechs Jah­ren ver­stan­den, dass die Men­schen, die ihre Häu­ser und Autos mit Deutsch­land­flag­gen schmü­cken, in den aller­we­nigs­ten Fäl­len Neo­na­zis sind. Aber die­se Schön­wet­ter­fans sind schon schwer erträg­lich.

Wenn man von den unglück­li­chen Vogts-Welt­meis­ter­schaf­ten 1994 und ’98 und den EM-Total­aus­fäl­len 2000 und 2004 absieht, zählt Deutsch­land seit 26 Jah­ren kon­ti­nu­ier­lich zu den vier bes­ten Mann­schaf­ten Euro­pas bzw. der Welt. Wer Fuß­ball nur guckt, weil er auf einen Titel­ge­winn der eige­nen Mann­schaft ((Oder schlim­mer noch: der eige­nen Nati­on.)) hofft, ist kein Fan der Sport­art, son­dern ein­fach nur jemand, der sein Ver­hält­nis zu die­ser Sport­art von einem ein­zi­gen Fak­tor abhän­gig macht: dem Titel. Mit die­ser Ein­stel­lung kann man die­ser Tage nicht mal mehr Fan des FC Bay­ern Mün­chen wer­den – und sel­ber Sport trei­ben sowie­so nicht.

* * *

Das EM-Vier­tel­fi­na­le gegen Grie­chen­land war sicher kein bril­lan­tes Spiel. Die deut­sche Mann­schaft hat sich gegen eine eher dritt­klas­si­ge Mann­schaft zwei Gegen­to­re ein­ge­fan­gen, das Spiel letzt­lich inner­halb einer sehr guten Vier­tel­stun­de gewon­nen.

„Bild“ titel­te am nächs­ten Mor­gen:

Uns stoppt keiner mehr!

Die „Bild“-Schlagzeilen vor und nach dem Halb­fi­nal-Aus, die mein Kol­le­ge Mats Schö­nau­er im BILD­blog gesam­melt hat, stam­men aller­dings noch aus einer ganz ande­ren Welt: Ich fin­de es eh schwie­rig, wenn Jour­na­lis­ten (oder in die­sem Fall: „Bild“-Mitarbeiter) „wir“ sagen und damit die deut­sche Mann­schaft mei­nen. Wenn ein klei­ner Jun­ge und viel­leicht auch älte­rer Fuß­ball­fan ent­täuscht und wütend sind, ist das mensch­lich – aber Medi­en soll­ten nicht mensch­lich, son­dern sach­lich berich­ten. Was „Bild“ da macht, geht über den nor­ma­len Wahn­sinn eines ent­täusch­ten Fans hin­aus. Da arbei­tet eine gan­ze Redak­ti­on an Schlag­zei­len, die all dem ent­ge­gen­ste­hen, was sie selbst weni­ge Tage zuvor erar­bei­tet hat. Ein mensch­li­ches Gehirn müss­te eigent­lich implo­die­ren, wenn sich sein Besit­zer der­art selbst wider­spricht.

„Bild“ reagiert wie ein trot­zi­ger Drei­jäh­ri­ger, der sei­ner Mut­ter „Ich has­se Dich!“ ent­ge­gen schleu­dert, wenn sie ihm kein zwei­tes Eis mehr kau­fen mag, oder wie ein Stal­ker – in jedem Fall wie nie­mand, dem man ratio­na­les Den­ken unter­stel­len könn­te.

Die Mann­schaft sei „zu soft“ für den Titel, so urteilt „Bild“. Die neo­li­be­ra­le Moral der Cas­ting-Shows der „Bild“-Freund Die­ter Boh­len und Hei­di Klum wird so wei­ter im Bewusst­sein jun­ger Men­schen ver­an­kert: „Du musst es nur hart genug wol­len! Wenn Du es nicht schaffst, hast Du nicht hart genug gewollt!“

Hier wer­den Men­schen so behan­delt, als sei­en sie Maschi­nen, die man nur rich­tig opti­mie­ren muss, damit sie Erfolg haben. Und Erfolg heißt immer nur, Ers­ter zu sein. Es geht nie dar­um, für sich selbst das Bes­te her­aus­zu­ho­len, son­dern aus­schließ­lich dar­um, „Bes­ter“ zu sein. Alles ande­re ist immer eine Ent­täu­schung. Wer so denkt, wird fast immer ein Leben vol­ler Ent­täu­schun­gen füh­ren.

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Es spricht eh wenig dafür, dass im Sport­jour­na­lis­mus irgend­je­mand arbei­tet, der Fuß­ball liebt: Spie­le wer­den in so vie­le sta­tis­ti­sche Wer­te (gelau­fe­ne Meter, gespiel­te Päs­se, gewon­ne­ne Zwei­kämp­fe, etc.) zer­legt, dass nicht mal ich als Sta­tis­tik-Freund irgend­ei­nen Sinn dar­in sehe – und ich weiß, dass Hei­ko Herr­lich und Mario Bas­ler in der Bun­des­li­ga­sai­son 1994/​95 mit jeweils 20 Tref­fern Tor­schüt­zen­kö­ni­ge der Bun­des­li­ga wur­den.

Der Sta­tis­tik­wahn der aktu­el­len Sport­be­richt­erstat­tung ist so, als ob man eine CD nach ihrer Spiel­zeit, der Beat­zah­len der ein­zel­nen Tracks und der Anzahl der Har­mo­nie­wech­sel bewer­ten wür­de. Man möch­te sich nicht vor­stel­len, wie sol­che Men­schen ihre Ehe­part­ner aus­su­chen. Wer die gan­ze Welt in angeb­lich objek­ti­ve Zah­len zer­legt, wird irgend­wann über­rascht fest­stel­len, dass er sie trotz­dem nicht ver­steht.

Und dann immer die­se Beno­tun­gen nach Fuß­ball­spie­len! Natür­lich hat Lukas Podol­ski am Don­ners­tag schlecht gespielt, aber was hat man davon, wenn man ihm dafür eine „6“ geben kann?

Wirt­schafts­ver­bän­de und Leh­rer kri­ti­sie­ren die Noten­ver­ga­be an Schu­len in ihrer aktu­el­len Form als wenig aus­sa­ge­kräf­tig. Ich habe es immer schon für Unfug gehal­ten, dass jemand, der Medi­zin stu­die­ren möch­te, dafür gute Schul­no­ten in Geschich­te, Eng­lisch, Sport und Reli­gi­on braucht. Und wenn Sie jetzt sagen: „Ja, aber irgend­wie muss man so eine Stu­di­en­platz­zu­las­sung ja regeln“, dann ent­geg­ne ich Ihnen: „Wenn unser Bil­dungs­sys­tem es nicht ein­mal auf die Ket­te bekommt, gerech­te und logi­sche Zulas­sungs­ver­fah­ren zu ent­wi­ckeln, dann brau­chen wir mit dem Ver­such, künf­ti­ge Eli­ten aus­zu­bil­den, ja gar nicht erst anzu­fan­gen!“

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Im Novem­ber 2009 war aus einem Volk von 82 Mil­lio­nen poten­ti­el­len Bun­des­trai­nern kurz­zei­tig eine Nati­on von 82 Mil­lio­nen Psy­cho­lo­gen gewor­den: Nach dem Sui­zid des depres­si­ven Natio­nal­tor­hü­ters Robert Enke erklär­ten Funk­tio­nä­re, Fans und Medi­en, es müs­se ein soge­nann­tes Umden­ken ein­set­zen.

Wal­ter M. Stra­ten, damals stell­ver­tre­ten­der Sport­chef bei „Bild“, hat­te sich damals von der „Süd­deut­schen Zei­tung“ so zitie­ren las­sen:

„Wir wer­den wohl mit extre­men Noten etwas vor­sich­ti­ger sein“, sagt der stell­ver­tre­ten­de Bild-Sport­chef. Man wer­de sich ein­mal mehr über­le­gen, „ob der Spie­ler, der eine kla­re Tor­chan­ce ver­ge­ben hat, oder der Tor­wart, der den Ball hat durch­flut­schen las­sen, eine Sechs bekommt oder eine Fünf reicht“.

Schnell zeig­te sich, dass Stra­tens Aus­sa­ge exakt so ernst zu neh­men war, wie ande­re Aus­sa­gen der „Bild“-Chefredaktion.

In der Zwi­schen­zeit ist ein Bun­des­li­ga­trai­ner wegen Burn­outs zurück­ge­tre­ten, hat ein Schieds­rich­ter einen Sui­zid­ver­such unter­nom­men, wird einem Bun­des­li­ga­pro­fi vor­ge­wor­fen, sein Haus in Brand gesetzt zu haben.

Jedes Mal zei­gen sich alle ent­setzt und jedes Mal geht es danach wei­ter: Fuß­bal­ler sind ent­we­der Hel­den oder Luschen, es gibt nur hop oder top.

Als Fan fand ich den Satz „Es ist doch nur ein Spiel“, immer schlimm. Er kann nur von Men­schen kom­men, die selbst nie mit­ge­fie­bert und mit­ge­lit­ten haben. Aber an etwas ande­res soll­te man immer mal wie­der erin­nern: Die­se Göt­ter oder Ver­sa­ger, die da Tore schie­ßen oder Chan­cen ver­ge­ben, die bril­lant auf­spie­len oder gran­di­os ver­ge­ben, das sind letzt­end­lich auch nur Men­schen. Also: „nur“.

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Septemberkinder

Eine Jury in New Jer­sey hat ges­tern den 20-jäh­ri­gen Dha­run Ravi für schul­dig befun­den, ein hate crime an sei­nem Mit­be­woh­ner Tyler Cle­men­ti began­gen zu haben. „Spie­gel Online“ beschreibt die Aus­gangs­la­ge so:

Es war der 19. Sep­tem­ber, an dem Cle­men­ti laut Zeu­gen­aus­sa­gen Ravi bat, den gemein­sa­men Raum zu ver­las­sen, er wol­le einen Gast emp­fan­gen. Ravi twit­ter­te: „Mit­be­woh­ner woll­te den Raum bis Mit­ter­nacht haben. Ich bin in Mol­lys (eine Freun­din, Anm. d. Redak­ti­on) Zim­mer gegan­gen und habe mei­ne Web­cam ange­schal­tet. Ich habe gese­hen, wie er mit einem Kerl rum­mach­te. Juhu.“

So fing es an. Am Ende war Cle­men­ti tot.

Die „New York Times“ führt wei­ter aus:

The case was a rare one in which almost none of the facts were in dis­pu­te. Mr. Ravi’s lawy­ers agreed that he had set up a web­cam on his com­pu­ter, and had then gone into a friend’s room and view­ed Mr. Cle­men­ti kis­sing a man he met a few weeks ear­lier on a Web site for gay men. He sent Twit­ter and text mes­sa­ges urging others to watch when Mr. Cle­men­ti invi­ted the man again two nights later, then dele­ted mes­sa­ges after Mr. Cle­men­ti kil­led hims­elf.

That account had been estab­lished by a long trail of elec­tro­nic evi­dence — from Twit­ter feeds and cell­pho­ne records, dor­mi­t­ory sur­veil­lan­ce came­ras, dining hall swi­pe cards and a “net flow” ana­ly­sis show­ing when and how com­pu­ters in the dor­mi­t­ory con­nec­ted.

Die digi­ta­len Bewei­se waren dann wohl auch aus­schlag­ge­bend für die sehr dif­fe­ren­zier­ten Ent­schei­dun­gen der Jury.

Ravis Anwäl­te hat­ten argu­men­tiert, ihr Man­dant sei „ein Kind“, das wenig Erfah­rung mit Homo­se­xua­li­tät habe und in eine Situa­ti­on gera­ten sei, die ihn geängs­tigt habe. In ent­schul­di­gen­den SMS-Nach­rich­ten an Cle­men­ti habe Ravi geschrie­ben, dass er kei­ne Pro­ble­me mit Homo­se­xua­li­tät habe und sogar einen engen Freund habe, der schwul sei.

Die „New York Times“ notiert:

(At almost the exact moment he sent the apo­lo­gy, Mr. Cle­men­ti, 18, com­mit­ted sui­ci­de after pos­ting on Face­book, „jum­ping off the gw bridge sor­ry“).

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Der Selbst­mord von Tyler Cle­men­ti war einer von meh­re­ren im Spätsommer/​Herbst 2010. Min­des­tens neun Schü­ler und Stu­den­ten zwi­schen 13 und 19 Jah­ren glaub­ten, kei­nen ande­ren Aus­weg mehr zu haben, als ihrem Leben ein Ende zu set­zen, weil sie Opfer von Dis­kri­mi­nie­run­gen und Angrif­fen wur­den, nur weil sie schwul waren oder man sie dafür hielt.

Als Reak­ti­on auf die­se Selbst­mor­de wur­de das sehr bewe­gen­de Pro­jekt „It gets bet­ter“ ins Leben beru­fen, bei der Pro­mi­nen­te und Nicht­pro­mi­nen­te, Künst­ler und Poli­ti­ker, TV-Mode­ra­to­ren und Poli­zis­ten homo­se­xu­el­len Jugend­li­chen – ach, eigent­lich allen Jugend­li­chen – Mut mach­ten, dass ihr Leben bes­ser wer­de.

Ste­fan Nig­ge­mei­er hat damals geschrie­ben:

Dem Pro­jekt ist vor­ge­wor­fen wor­den, gefähr­lich unter­am­bi­tio­niert zu sein, weil es nicht auf die Besei­ti­gung der Ursa­chen von Dis­kri­mi­nie­rung zielt, son­dern bloß ihre Opfer zum Über­le­ben auf­for­dert. Die­se Kri­tik ist nach­voll­zieh­bar, aber sie trifft nicht. Zum einen hat Dan Sava­ge recht, wenn er sagt, dass es zunächst ein­mal dar­um geht, akut bedroh­ten Jugend­li­chen unmit­tel­bar Hoff­nung zu geben und auf Ansprech­part­ner hin­zu­wei­sen. Zum ande­ren belas­sen es die Mit­wir­ken­den kei­nes­wegs immer bei dem Ver­spre­chen, dass es nach der Schu­le, nach der Puber­tät, über­haupt in Zukunft schon bes­ser wer­den wird. Vie­le grei­fen, wie Ellen, den Skan­dal an, dass die Dis­kri­mi­nie­rung immer noch zuge­las­sen wird. Dass es ein Kli­ma der Into­le­ranz gibt, das die Ver­höh­nung von Schwu­len zulässt und för­dert.

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Die Chi­ca­go­er Band Rise Against hat einen Song über die „September’s Child­ren“ geschrie­ben, mit dem die Musi­ker auch „It gets bet­ter“ unter­stüt­zen wol­len, und Sie soll­ten sich das Video unbe­dingt in vol­ler Län­ge anse­hen:

Rise Against – Make It Stop (September’s Child­ren) from LGBTQI Geor­gia on Vimeo.

Die Namen, die Front­mann Tim McIl­rath nennt, sind neben Tyler Cle­men­ti die von Bil­ly Lucas, Har­ri­son Cha­se Brown, Cody J. Bar­ker und Seth Walsh.

Jedes Mal, wenn ich die­ses Video sehe, den­ke ich vor der Mar­ke von 3:05 Minu­ten: „Das kön­nen die nicht wirk­lich so zei­gen“, und dann kommt die­ser Bruch und ich habe jedes ver­damm­te Mal wie­der Gän­se­haut und bin gerührt, auf­ge­wühlt und völ­lig fer­tig. So ein Video hät­te ver­dammt schief gehen kön­nen, aber ich fin­de, es ist der Band und ihrem Regis­seur Marc Klas­feld erstaun­lich gut gelun­gen.

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Im Text heißt es „What God would damn a heart? /​ And what God dro­ve us apart? /​ What God could /​ Make it stop /​ Let this end“, und Reli­gi­on rückt in den USA auch nach Dha­run Ravis Schuld­spruch in den Fokus.

Brent Child­res schreibt im Reli­gi­ons-Blog der „Washing­ton Post“:

The­re are many more Tyler Cle­men­ti tra­ge­dies wai­ting to unfold if we con­ti­nue to clo­se our minds to the harm cau­sed by reli­gious teaching’s bias and inti­mi­da­ti­on toward gay. les­bi­an bise­xu­al and trans­gen­der indi­vi­du­als, espe­ci­al­ly youth and fami­lies.

The sto­ry of Tyler Clementi’s death has been one of the most publi­ci­zed teen sui­ci­des in recent memo­ry. Unfort­u­na­te­ly, a review of media inter­views and print news artic­les over the last 18 months pro­du­ces only a few hints to the role reli­gious tea­ching may have play­ed in Clementi’s emo­tio­nal and psy­cho­lo­gi­cal distress.

Es ist für Euro­pä­er kaum zu ver­ste­hen, was für christ­li­che Split­ter­grup­pen die­se Evan­ge­li­ka­len, Metho­dis­ten, Pres­by­te­ria­ner und Luthe­ra­ner eigent­lich sind, aber ihre Hal­tung zur Homo­se­xua­li­tät lässt die meis­ten deut­schen Kar­di­nä­le wie libe­ra­le Akti­vis­ten aus­se­hen. Und, was noch viel schlim­mer ist, die­se Grup­pie­run­gen wer­den von ihren Mit­glie­dern ernst genom­men:

Grace Church of Rid­ge­wood, New Jer­sey, is the church that Tyler Cle­men­ti atten­ded with his fami­ly. It was not an affir­ming and wel­co­ming place for a young per­son pro­ces­sing a same-sex sexu­al ori­en­ta­ti­on, accor­ding to some pas­tors in that com­mu­ni­ty. The church is a mem­ber of the Wil­low Creek Asso­cia­ti­on, a group of churches hea­ded by Bill Hybels, who as recent­ly as last year said that God desi­gned sexu­al inti­ma­cy to be bet­ween a man and a woman in mar­ria­ge and any­thing out­side of that is sexu­al impu­ri­ty in God’s eyes. The gay youth hears in tho­se words that they are dir­ty, unclean and some­thing for which they should be asha­med. […]

In an Octo­ber 2010 artic­le pos­ted on a church blog at St. Ste­phen Church, [Rev. Clar­ke] Olson-Smith wro­te „In the con­gre­ga­ti­on Tyler grew up in and his par­ents still belong to, the­re was no ques­ti­on. To be gay was to be cut off from God.“

Nach dem Schuld­spruch gab der Fern­seh­pre­di­ger Bill Kel­ler dem CNN-Mode­ra­tor Ander­son Coo­per, Rachel Mad­dow von CNBC, der Mode­ra­to­rin Ellen DeGe­ne­res, den Medi­en und den „fei­gen Pries­tern“ die Schuld am Tod von Tyler Cle­men­ti:

Sui­ci­de is a despe­ra­te and sel­fi­sh act that is ulti­m­ate­ly the sole respon­si­bi­li­ty of the per­son who made the choice to end their life. Ever­yo­ne who com­mits sui­ci­de has reasons that led them to make such a hor­ri­ble decis­i­on. The fact is, sui­ci­de is expo­nen­ti­al­ly hig­her among­st tho­se who choo­se the homo­se­xu­al life­style, and while tho­se in the media want to bla­me peo­p­le like mys­elf who take a Bibli­cal stand on this issue, the fact is, they are the ones most respon­si­ble!

So ein­fach kann man sich das machen: Nicht die Atmo­sphä­re voll Hass und Ableh­nung ist schuld, in der jun­ge Homo­se­xu­el­le auf­wach­sen müs­sen, natür­lich sowie­so nicht die­je­ni­gen, die sich auf die Bibel beru­fen, son­dern die, die sagen, dass es völ­lig okay sei, Men­schen des sel­ben Geschlecht zu lie­ben!

Ich habe die Hoff­nung, dass Hass­pre­di­ger wie Kel­ler der­einst mit einem „Sor­ry, Du hast da was wahn­sin­nig miss­ver­stan­den“ an der Him­mels­pfor­te abge­wie­sen wer­den.

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Kin­der und Jugend­li­che waren immer schon grau­sam zuein­an­der, aber die heu­ti­gen tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten bie­ten denen, die sich über ande­re erhe­ben wol­len, ganz neue Ver­brei­tungs­we­ge und viel grö­ße­re Ziel­grup­pen – und letzt­lich ahmen die Jun­gen vor allem nach, was ihnen die Alten in der Gesell­schaft vor­le­ben. Es gibt unter­schied­li­che Mei­nun­gen, ob es eine gute Idee war, Ravi eines hate cri­mes für schul­dig zu befin­den, also einer aus Vor­ur­tei­len began­ge­nen Straf­tat, oder ob sich die Jury nicht auf die ande­ren Ankla­ge­punk­te hät­te beschrän­ken sol­len.

Der Jura-Pro­fes­sor Paul But­ler schreibt bei CNN.com:

Ravi did not invent homo­pho­bia, but he is being scape­goa­ted for it. Bias against gay peo­p­le is, sad­ly, embedded in Ame­ri­can cul­tu­re. Until last year peo­p­le were being kicked out of the mili­ta­ry becau­se they were homo­se­xu­als. None of the four lea­ding pre­si­den­ti­al can­di­da­tes – Pre­si­dent Oba­ma, Mitt Rom­ney, Rick San­torum, Newt Ging­rich – thinks that gay peo­p­le should be allo­wed to get mar­ried. A bet­ter way to honor the life of Cle­men­ti would be for ever­yo­ne to get off their high hor­se about a 20-year-old kid and ins­tead think about how we can pro­mo­te civil rights in our own lives.

Though a natio­nal con­ver­sa­ti­on about civi­li­ty and respect would have been bet­ter, as usu­al for social pro­blems, we loo­ked to the cri­mi­nal jus­ti­ce sys­tem. The United Sta­tes inc­ar­ce­ra­tes more of its citi­zens than any coun­try in the world. We are an extra­or­di­na­ri­ly puni­ti­ve peo­p­le.

Cle­men­ti died for America’s sins. And now, Ravi faces years in pri­son for the same reason.

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Nach dem Schuld­spruch wand­te sich Tyler Cle­men­tis Vater Joe mit einer Bot­schaft an die Öffent­lich­keit:

To our col­lege, high school and even midd­le-school youngs­ters, I would say this: You’­re going to meet a lot of peo­p­le in your life­time. Some of the­se peo­p­le you may not like. But just becau­se you don’t like them, does not mean you have to work against them. When you see some­bo­dy doing some­thing wrong, tell them, „That’s not right. Stop it.“

You can make the world a bet­ter place. The chan­ge you want to see in the world beg­ins with you.

Es könn­te bes­ser wer­den. Es muss!

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Der Druck steigt

So wie es aus­sieht, wird es mor­gen in Bochum zu Groß­de­mons­tra­tio­nen mit mehr als 30.000 Teil­neh­mern kom­men – und das liegt aus­nahms­wei­se nicht dar­an, dass mal wie­der irgend­ei­ne Pro­duk­ti­ons­stät­te geschlos­sen wer­den soll. Der tür­ki­sche Minis­ter­prä­si­dent Recep Tayyip Erdo­gan soll in der Bochu­mer Jahr­hun­dert­hal­le aus den Hän­den von Ex-Bun­des­kanz­ler Ger­hard Schrö­der den soge­nann­ten „Stei­ger Award“ in der Kate­go­rie „Euro­pa“ erhal­ten, „auch als deut­li­ches Zei­chen für geleb­te deutsch-tür­ki­sche Freund­schaft“.

Nun könn­te man ein­wen­den, ein Minis­ter­prä­si­dent, der die Tür­ken in Deutsch­land vor Assi­mi­la­ti­on warnt und den Völ­ker­mord der Tür­ken an den Arme­ni­ern abstrei­tet, des­sen Regie­rung die Pres­se­frei­heit nicht son­der­lich ernst nimmt und des­sen Land unbe­que­me Jour­na­lis­ten ein­sperrt, so ein Minis­ter­prä­si­dent soll­te viel­leicht bes­ser kei­nen Preis bekom­men, da könn­te man ja auch gleich Bushi­do mit einem Inte­gra­ti­ons­preis aus­zeich­nen. Aber las­sen Sie mich erst mal zu dem Preis selbst kom­men.

In Deutsch­land wer­den vie­le merk­wür­di­ge Prei­se ver­lie­hen, von den meis­ten bekommt man aller­dings nichts mit. Auch der „Stei­ger Award“ war bis­her vor allem sei­nem Ver­an­stal­ter, den loka­len Per­sön­lich­kei­ten, die zur Ver­lei­hung ein­ge­la­den wer­den, und den Mana­gern der Preis­trä­ger ein Begriff.

Der Ver­an­stal­ter beschreibt sein Anlie­gen so:

Der Stei­ger Award ist ent­stan­den aus Pri­vat­in­itia­ti­ve und dem Wunsch der kul­tu­rel­len, sozia­len und gesell­schaft­li­chen För­de­rung der Regi­on.

Das Ruhr­ge­biet in der Mit­te Euro­pas soll­te stär­ker in den Fokus rücken. Der Stei­ger Award ist Preis und Phi­lo­so­phie zugleich. Wir ehren Per­sön­lich­kei­ten, die sich durch Gerad­li­nig­keit, Offen­heit, Mensch­lich­keit und Tole­ranz aus­zeich­nen.
Der Begriff „Stei­ger“ stammt aus dem Berg­bau und dient als Syn­onym für die Gerad­li­nig­keit und Offen­heit der Berg­leu­te, der soge­nann­ten „Stei­ger“. Jähr­lich ent­schei­det eine Jury dar­über, wer die Aus­zeich­nung in den Berei­chen Film, Musik, Kunst, Sport, Cha­ri­ty, Umwelt, Tole­ranz und für sein Enga­ge­ment zur Eini­gung Euro­pas erhält.

Der Ver­an­stal­ter, das ist Sascha Hel­len, ein Mann Mit­te 30, der das soge­nann­te Netz­wer­ken zu sei­nem Beruf gemacht hat. Anders als Cars­ten Maschmey­er, der aktu­ell in „Bild“ erklärt, wie man Kon­tak­te knüpft und nutzt, hat Hel­len nichts mit dem Ver­kauf dubio­sen Finanz­dienst­leis­tun­gen zu tun, denn er ver­kauft: nichts. Er ver­mit­telt Red­ner, orga­ni­siert Ver­an­stal­tun­gen und sorgt so dafür, dass sich irgend­wel­che Leu­te und Ver­ei­ne mit zu viel Geld im Licht von berühm­ten Leu­ten son­nen kön­nen, die auch schon sehr viel Geld haben, jetzt aber noch mehr, weil Hel­len sie an die­se Leu­te und Ver­ei­ne ver­mit­telt. Es ist eine Win-Win-Situa­ti­on, die nie­man­dem weh tut, mit­tel­g­la­mou­rö­se Fotos für die Lokal­zei­tun­gen ab- und nur ganz am Ran­de die Fra­ge auf­wirft, zu was für absur­den Aus­wüch­sen so eine Mensch­heit eigent­lich in der Lage ist.

Nun pas­sen das Ruhr­ge­biet und Gla­mour-Ver­an­stal­tun­gen für die Obe­ren Zehn­tau­send eher nicht zusam­men, aber man kann natür­lich mal ver­su­chen, ob man den Leu­ten hier ihre gene­rel­le Skep­sis gegen­über allem, was sie nicht ken­nen, nicht ein biss­chen aberzie­hen kann. Die Ober­bür­ger­meis­te­rin hält den „Stei­ger Award“ dann auch aus uner­find­li­chen Grün­den für ein Pres­ti­ge­pro­jekt, das wich­tig für das Anse­hen Bochums sei – ganz so, als ob sich Shi­mon Peres, Bob Geldof oder Chris­to­pher Lee mer­ken könn­ten, ob sie einen die­ser merk­wür­di­gen deut­schen Prei­se auf ihrem Kamin­sims jetzt in Bochum oder in Offen­burg in Emp­fang genom­men haben.

Ver­gan­ge­nes Jahr woll­te Hel­len den Bochu­mern einen Abend mit Josef Acker­mann schen­ken – aus­ge­rech­net im Bochu­mer Schau­spiel­haus, das sich tra­di­tio­nell eher den Arbei­tern als irgend­wel­chen Bank­di­rek­to­ren ver­pflich­tet fühlt. Der frü­he­re Inten­dant des Hau­ses, Frank-Patrick Ste­ckel, pro­tes­tier­te öffent­lich dage­gen und irgend­wann sag­te Acker­mann schließ­lich ent­nervt ab. Ober­bür­ger­meis­te­rin Otti­lie Scholz ver­öf­fent­lich­te eine gemein­sa­me Erklä­rung mit Ver­an­stal­ter Sascha Hel­len, in der sie sich „in aller Form für die unwür­di­ge Dis­kus­si­on“ ent­schul­dig­te.

Jetzt also soll Recep Tayyip Erdo­gan den „Stei­ger Award“ bekom­men und unter Umstän­den könn­te man den Quatsch­preis Quatsch­preis sei­en las­sen, wenn die Schirm­her­rin der Ver­an­stal­tung nicht gera­de Ober­bür­ger­meis­te­rin Scholz wäre. Ver­tre­ter der Lan­des­re­gie­rung haben ihre Teil­nah­me inzwi­schen aus ver­schie­de­nen Grün­den (Bun­des­prä­si­den­ten­wahl, ande­re Ter­mi­ne) abge­sagt. Von Ger­hard Schrö­der ist eh kein Anstand zu erwar­ten, der hät­te letz­tes Jahr schon den eben­so schwach­sin­ni­gen Qua­dri­ga-Preis an Wla­di­mir Putin über­rei­chen sol­len, wenn die Ver­an­stal­tung nicht nach har­scher Kri­tik und einem Aus­stieg des Preis­ko­mi­tees abge­sagt wor­den wäre.

Die Kri­tik, die zunächst eher regio­nal zu hören war, ist inzwi­schen bei den natio­na­len Nach­rich­ten­agen­tu­ren ange­kom­men: dpa, AFP und Reu­ters berich­ten über Ralph Giord­a­no, den Deut­schen Jour­na­lis­ten­ver­band und CSU-Gene­ral­se­kre­tär Alex­an­der Dob­rindt, die die Preis­ver­lei­hung an Erdo­gan kri­ti­siert haben (zuge­ge­be­ner­ma­ßen nicht die seriö­ses­ten Kri­ti­ker, die ich mir vor­stel­len könn­te), ges­tern erschien auch bei „Spie­gel Online“ ein Arti­kel zu dem The­ma.

Die Ver­an­stal­ter mel­den sich seit Tagen mit immer staats­tra­gen­de­ren Beschwich­ti­gungs­schrei­ben zu Wort, in denen sie erklä­ren, die Aus­zeich­nung sei „aus­drück­lich kei­ne Bewer­tung der innen- und außen­po­li­ti­schen Akti­vi­tä­ten des tür­ki­schen Minis­ter­prä­si­den­ten“, der Preis sei „stell­ver­tre­tend für 50 Jah­re deutsch-tür­ki­sche Freund­schaft“ gemeint und die Aus­ein­an­der­set­zung mit Erdo­gans Poli­tik sol­le „durch einen kri­ti­schen Dis­kurs erfol­gen, nicht durch Aus­gren­zung“. Dass der Pro­test sol­che Dimen­sio­nen anneh­me, damit habe er nicht gerech­net, sag­te Hel­len der „WAZ“.

Eine Per­son hat sich zu dem gan­zen Dilem­ma noch gar nicht geäu­ßert: Ober­bür­ger­meis­te­rin Dr. Otti­lie Scholz, die Schirm­her­rin des „Stei­ger Awards“. Ver­mut­lich wird sie sich erst mor­gen zu Wort mel­den, wenn sie sich bei Erdo­gan in aller Form ent­schul­digt.

Nach­trag, 17. März: Minis­ter­prä­si­dent Erdo­gan hat sei­ne Teil­nah­me am „Stei­ger Award“ abge­sagt. „Als Grund wur­de der Absturz eines tür­ki­schen Mili­tär­hub­schrau­bers in Afgha­ni­stan mit 17 Todes­op­fern genannt“, wie Reu­ters schreibt.