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Til Schweiger, die Guttenbergs und „Bild“

In der nicht enden wol­len­den Debat­te über den Betrug Karl-Theo­dor zu Gut­ten­bergs beim Ver­fas­sen sei­ner Dok­tor­ar­beit hat sich ein wei­te­rer Exper­te zu Wort gemel­det: der Schau­spie­ler und Regis­seur Til Schwei­ger.

„Ich habe, als ich noch stu­diert habe, auch abge­schrie­ben“, sag­te Schwei­ger im Radio-Ham­burg-Inter­view. Des­we­gen jetzt Gut­ten­bergs Rück­tritt zu for­dern, hal­te er für über­trie­ben, „weil ich fin­de, dass er eigent­lich bis jetzt einen super Job gemacht hat als Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter“.

Nun möch­te ich nicht ver­heim­li­chen, dass mei­ne Mei­nung über Schwei­ger seit lan­gem sehr viel schlech­ter ist als mei­ne Mei­nung über Gut­ten­berg nach den Ereig­nis­sen der letz­ten Tage. Bei allen Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten und Zwei­feln an sei­nen Metho­den wuss­te der Minis­ter zumin­dest bis­her wenigs­tens mit sou­ve­rä­nen Auf­trit­ten zu über­zeu­gen, bei denen ich dach­te: „Ich mag die­sen Kerl nicht, aber er macht das schon ver­dammt gut!“ Wann immer ich Til Schwei­ger sehe (und vor allem höre), ver­flu­che ich den Tag, an dem Paul Nip­kow das Fern­seh­ge­rät erfun­den hat.

Jeden­falls ist es nicht das ers­te Mal, dass die Namen „Schwei­ger“ und „zu Gut­ten­berg“ gemein­sam in der Pres­se ste­hen: Von diver­sen Preis-Ver­lei­hun­gen und „Ein Herz für Kinder“-Galas ab, ist vor allem das Pass-Spiel, das Schwei­ger seit eini­ger Zeit via „Bild“ mit Ste­pha­nie zu Gut­ten­berg betreibt, bemer­kens­wert.

Als die Minis­ter­gat­tin sich im ver­gan­ge­nen Herbst als Gast-Mode­ra­to­rin der umstrit­te­nen RTL-2-Sen­dung „Tat­ort Inter­net“ ver­such­te und dafür viel Kri­tik erhielt, mel­de­te sich Schwei­ger in „Bild“ zu Wort:

Til Schwei­ger, selbst Vater von vier Kin­dern, sag­te BILD: „Ich ver­fol­ge seit 2 Wochen den media­len Auf­schrei über das For­mat ‚Tat­ort Inter­net‘ und den Hohn und Spott, der über Frau zu Gut­ten­berg aus­ge­schüt­tet wird, das macht mich erst sprach­los und dann vor allen Din­gen wütend! In was für einer Gesell­schaft leben wir denn?“

Der Schau­spie­ler fragt: „Wo bleibt der Bei­fall? Wo ist der empör­te Auf­schrei über die­se wider­li­chen, arm­se­li­gen Schwei­ne? Hab ich noch nichts von gele­sen, ich lese nur von ‚an den Pran­ger stel­len‘, ‚Hexen­jagd‘ usw… War­um macht man sich mehr Gedan­ken um die Pri­vat­sphä­re von einem Mann, der Kin­dern por­no­gra­fi­sche Fotos von sich schickt und sich dann mit ihnen ver­ab­re­det? So naiv kann doch nie­mand sein, oder doch? All denen, die in den letz­ten zwei Wochen ihre hämi­schen Kom­men­ta­re ver­fasst haben, rufe ich zu: Redet mit euren Kin­dern, klärt auf und warnt sie, denn es könn­te euer Kind als nächs­tes betrof­fen sein!“

Das war schon eine ganz gute Gene­ral­pro­be für Schwei­gers Stamm­tisch-Auf­tritt bei Mar­kus Lanz, wo er sich über das „deut­sche Gut­men­schen­tum“ und „intel­lek­tu­el­le Men­schen“ empör­te und Sexu­al­straf­tä­tern ihre Men­schen­rech­te abspre­chen woll­te, was ihm das erwart­ba­re Lob von „Bild“ ein­brach­te:

Kinderschänder-Debatte: Til Schweiger: Wut-Ausbruch im TV!
Aber nicht nur von „Bild“ selbst:

Auch Ste­pha­nie zu Gut­ten­berg (34), Prä­si­den­tin der deut­schen Sek­ti­on von „Inno­cence in Dan­ger“, hat den TV-Auf­tritt von Til Schwei­ger (47) ver­folgt. Gut­ten­berg zu BILD: „Es ist toll, dass Til Schwei­ger unbe­que­me Wahr­hei­ten aus­spricht und sei­ne Popu­la­ri­tät dafür ein­setzt, Men­schen wach­zu­rüt­teln! Ich weiß, dass ihm vie­le Men­schen zu die­sem Mut gra­tu­lie­ren.“

Doch die Minis­ter­gat­tin und der Krea­tiv­wirt­schaft­ler kom­mu­ni­zie­ren nicht nur indi­rekt:

Schwei­ger: „(…) Sogar Ste­pha­nie zu Gut­ten­berg hat mir eine SMS geschickt.“
BILD: Was hat die Minis­ter­gat­tin geschrie­ben?
Schwei­ger: „Sie hat sich bei mir bedankt!“

Falls Karl-Theo­dor zu Gut­ten­berg doch noch sei­nen Hut neh­men muss, wäre Schwei­ger womög­lich der Wunsch-Nach­fol­ger der „Bild“-Redaktion. Wobei die Sol­da­ten das ver­mut­lich nicht so gut fän­den …

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Fakin’ It

In der aktu­el­len Debat­te um aka­de­mi­sche und wis­sen­schaft­li­che Ehre ist mir eine Geschich­te wie­der in den Sinn gekom­men, die sich vor eini­ger Zeit an mei­nem ehe­ma­li­gen Gym­na­si­um ereig­net haben soll und an deren Wahr­heits­ge­halt ich kei­nen Grund zu Zwei­feln habe:

In einem Eng­lisch-LK war eine Schü­le­rin am Tag der Klau­sur krank gewe­sen und muss­te die­se nach­schrei­ben. Wie all­ge­mein üblich wur­de sie dafür allei­ne in einen unge­nutz­ten Raum (ich glau­be, es war der Erd­kun­de-Kar­ten­raum) gesetzt, wo ihr die Auf­ga­ben­stel­lun­gen vor­ge­legt wur­den. Ent­ge­gen der übli­chen Vor­ge­hens­wei­se und ver­mut­lich auch ent­ge­gen zahl­rei­cher Vor­schrif­ten gab ihr der Leh­rer exakt die glei­chen Arbeits­an­wei­sun­gen, die er schon dem Rest der Klas­se kurz zuvor bei der „ech­ten“ Klau­sur aus­ge­hän­digt hat­te.

Inter­es­san­ter­wei­se hat­te die Schü­le­rin in ihrem Ruck­sack die bereits kor­ri­gier­te und zurück­ge­ge­be­ne Klau­sur eines Mit­schü­lers, die sie nun über die nächs­ten Stun­den aus­führ­lich abschrieb – ent­ge­gen aller schu­li­schen Regeln und jed­we­der Moral, ver­steht sich.

Theodor-Heuss-Gymnasium

Dem Leh­rer scheint das Kom­plett-Pla­gi­at nicht auf­ge­fal­len zu sein, jeden­falls wer­te­te er die Klau­sur nicht als Täu­schungs­ver­such, son­dern kor­ri­gier­te sie ganz nor­mal. Oder: fast, denn er hat­te die Ori­gi­nal-Arbeit des Schü­lers deut­lich bes­ser (die genau­en Details sind nie­man­dem mehr erin­ner­lich, aber die Rede war von min­des­tens sechs Punk­ten, was zwei Noten ent­sprä­che) bewer­tet als die der Schü­le­rin.

Die Schü­le­rin, die sich die gan­ze Zeit von dem Leh­rer unge­recht behan­delt gefühlt hat­te, konn­te natür­lich nicht zum Rek­tor gehen, um sich über ihre Note zu beschwe­ren. Aber eine bemer­kens­wer­te Geschich­te war es doch.

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Menschenraub

„Ein Pla­gi­at (von lat. pla­gi­um, „Men­schen­raub“) ist das bewuss­te Aneig­nen frem­der geis­ti­ger Leistungen.“(aus Wiki­pe­dia, der frei­en Enzy­klo­pä­die)

„Was im wah­ren Leben der Mord, ist in der Wis­sen­schaft das Pla­gi­at!“, sagt der Dozent, für den ich vier Jah­re lang an der Uni gear­bei­tet habe. Vie­le, vie­le Stun­den mei­ner Tätig­keit als Stu­den­ti­sche Hilfs­kraft habe ich damit zuge­bracht, ver­dutzt zu schau­en, wenn ich Haus­ar­bei­ten oder Essays vor­kor­ri­giert habe. Ob man Pla­gia­te über­haupt erken­nen kön­ne, dach­te ich. Vor vier Jah­ren stand ich rela­tiv rat­los vor der Auf­ga­be, die mir zuge­teilt wur­de. „Ver­trau­en Sie auf ihr Gespür!“, wur­de mir ange­ra­ten, und das war tat­säch­lich der bes­te Rat­schlag in die­ser Geschich­te (wie in vie­len ande­ren Geschich­ten übri­gens auch). Das mit den Pla­gia­ten ver­hielt sich näm­lich so: Ein abge­ge­be­ner Text hol­pert vor sich hin, und auf ein­mal wird er bril­lant. Huch? Goog­le. Tref­fer.
Oder, wenn ich mich belei­digt füh­len soll­te: Auf ein­mal änder­ten sich Schrift­art oder gar Zei­len­um­brü­che. Flick­ar­bei­ten, Wiki­pe­dia-Zita­te, hausarbeiten.de-Zitate; die Abgrün­de der Inter­net­sei­ten, Sei­ten, die man nie besu­chen wür­de, der wis­sen­schaft­li­che Anspruch meis­tens mau, die Quel­len, aus denen abge­schrie­ben wur­de: kuri­os.

Den paar Malen, wenn ich Pla­gia­te gefun­den hat­te und mich danach so schmut­zig fühl­te, dass ich mich am liebs­ten gehäu­tet hät­te, folg­ten erns­te Gesprä­che mit den Stu­die­ren­den, geführt vom Dozen­ten selbst. Immer mit der Mög­lich­keit für die Stu­die­ren­den, sich zu recht­fer­ti­gen, aber auch mit der Ansa­ge, dass man die­sen Fall auch an die Rechts­ab­tei­lung der Uni­ver­si­tät wei­ter­lei­ten kön­ne (was wir nie getan haben). Eben weil der Klau von Gedan­ken das schlimms­te ist, was man in der Wis­sen­schaft tun kann. Höchst­stra­fe. Die Gesprä­che ende­ten immer mit Trä­nen auf Sei­ten der Stu­die­ren­den, es folg­te immer die Schil­de­rung eines per­sön­li­chen Schick­sals, das die Stu­die­ren­den zum Pla­gi­at getrie­ben hat. Auch hin­ter dem selbst­herr­lichs­ten, smar­tes­ten Grin­sen steck­ten Trä­nen und Rat­lo­sig­keit. Meis­tens war es Über­for­de­rung, die zum Pla­gi­at getrie­ben hat­te, das Gefühl, schlicht­weg zu dumm zu sein für einen phi­lo­so­phi­schen Essay, das Gefühl, dass die eige­nen Gedan­ken nicht aus­reich­ten, dem The­ma adäquat zu ent­spre­chen. Und dann waren meis­tens noch Todes­fäl­le und Krank­hei­ten in der Fami­lie auf­ge­tre­ten, Schei­dun­gen wur­den ange­droht und der­glei­chen mehr. All die­se Fäl­le waren tra­gisch, all die­se Fäl­le pas­sie­ren täg­lich an der Uni­ver­si­tät.

Wenn nun in der Geschich­te um Gut­ten­berg abge­wie­gelt wird, dann empört mich das zunächst, weil ich in den letz­ten vier Jah­ren stets in die ande­re Rich­tung auf­ge­wie­gelt habe und dies für rich­tig hielt. Und natür­lich ging es im Fall klei­ner phi­lo­so­phi­scher Essays nicht um die Welt, meis­tens ja nicht mal um die Wahr­heit, son­dern um einen ver­damm­ten Schein. In Zei­ten, in denen Erkennt­nis durch Workload ersetzt wird, ist das Nach­den­ken den meis­ten nur läs­tig. Aber wenn dann ein Gespräch folgt, weil ein Pla­gi­at gefun­den wur­de, dann wird den meis­ten auch klar, was ihnen an der Uni­ver­si­tät in die­ser Zeit fehlt: Ein Sinn, war­um sie ihre Zeit hier ver­brin­gen. Die meis­ten stu­die­ren, weil ihnen gesagt wird, dass es berufs­qua­li­fi­zie­rend ist, unter Berufs­qua­li­fi­zie­rung den­ken die meis­ten aber eher an Ange­bo­te, die (noch) eher an Berufs­schu­len und Volk­hoch­schu­len ange­bo­ten wer­den (des­we­gen auch die per­ma­nen­te Erset­zung des Wor­tes „Semi­nar“ durch „Kurs“ im Stu­den­ten-Jar­gon), es ent­steht ein Loch der Sinn­lo­sig­keit über die Zeit an der Uni­ver­si­tät, weil durch das vie­le Arbei­ten auf 30 unter­schied­li­chen Bau­stel­len kei­ne Zeit bleibt, mal in Ruhe über ein The­ma nach­zu­den­ken. Pla­gia­te und Über­for­de­rung gab es schon immer, aber sie sind auch das, das durch die Ba/­Ma-Reform beför­dert wer­den könn­te.

Ich schrei­be gera­de mei­ne Examens­ar­beit. Und ich weiß, wenn ich hier nicht Quel­len kor­rekt ange­be und dabei erwischt wer­de, dann kann ich mich nicht hin­set­zen und wei­nen und sagen, dass ich mich über­for­dert füh­le und dass es in mei­ner Fami­lie einen Todes­fall gab. Selbst wenn es zumin­dest im ers­ten Teil stimm­ten soll­te: Natür­lich füh­le ich mich über­for­dert, natür­lich habe ich bei­na­he jede Woche einen erneu­ten Qua­si-Ner­ven­zu­sam­men­bruch. So ist das Leben. Wenn ich bei einem Pla­gi­at erwischt wer­de, folgt zumin­dest eine Nicht-Aner­ken­nung mei­nes Abschlus­ses, und, je nach Schwe­re der Tat, auch eine Straf­an­zei­ge, viel­leicht die Unmög­lich­keit der Ver­be­am­tung. Das ist nicht der Haupt­grund, der gegen ein Pla­gi­at spricht, aber von Ehre möch­te ich an die­ser Stel­le gar nicht erst reden.

In mei­nem Fall geht es nur um ein Staats­examen. Wenn Gut­ten­berg sei­nen Dok­tor behal­ten darf, obwohl sich jeder sel­ber ein Bild vom Aus­maß der Abkup­fe­rei schon in der Ein­lei­tung sei­ner Diss machen kann, dann ist das unge­fähr das unge­rech­tes­te, was mir in mei­ner Zeit an der Uni­ver­si­tät unter­ge­kom­men ist.

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No one’s laughing at God, we’re all laughing with God

Ich habe mit dem von „Bild“ her­bei­ge­kreisch­ten „Schwuch­tel-Skan­dal“ bei der Köl­ner Stunk­sit­zung, über den ich ges­tern im BILD­blog geschrie­ben habe, ver­schie­de­ne Pro­ble­me.

Da ist zunächst ein­mal ein ger­ma­nis­ti­sches: Da stellt sich ein Kaba­ret­tist hin und sagt in sei­ner Rol­le als Ex-Bischof Wal­ter Mixa fol­gen­de Wor­te:

Aber der Höhe­punkt war der Welt­ju­gend­tag hier in Köln: Bene­dikt und Joa­chim, der zum-Lachen-in-den-Kel­ler-geht-Meis­ner, lie­ßen sich wie zwei frisch­ver­mähl­te Schwuch­teln über den Rhein schip­pern.

Nun wäre es ver­ständ­lich, wenn sich Homo­se­xu­el­len­ver­bän­de über die Ver­wen­dung der despek­tier­li­chen Voka­bel „Schwuch­tel“ beklag­ten (wobei man nicht weiß, wie der ech­te Wal­ter Mixa im pri­va­ten Rah­men über die­se Bevöl­ke­rungs­grup­pe spricht), aber es wür­de wohl kaum jemand aus­schlie­ßen, dass sich nicht irgend­wo zwei Schwu­le fin­den lie­ßen, die nach ihrer Ver­part­ne­rung in gro­tes­ken Gewän­dern auf einem Schiff fei­ern wol­len.

Man muss schon Poli­ti­ker sein, um aus dem obi­gen Ver­gleich etwas ande­res zu machen, wie die Katho­li­sche Nach­rich­ten Agen­tur (kna) zusam­men­fasst:

Die Dar­stel­lung von Papst und Kar­di­nal als „Schwuch­teln“ sei „niveau­los und abso­lut pri­mi­tiv“, sag­te Mar­tin Loh­mann, Chef des Arbeits­krei­ses enga­gier­ter Katho­li­ken in der CDU, der in Düs­sel­dorf erschei­nen­den „Rhei­ni­schen Post“ (Diens­tag).

Der frü­he­re bay­ri­sche Wis­sen­schafts­mi­nis­ter (!) Tho­mas Gop­pel geht gleich einen Schritt wei­ter und bemüht sei­ner­seits einen Ver­gleich:

Der Spre­cher der „Christ­so­zia­len Katho­li­ken in der CSU“, Tho­mas Gop­pel, hat­te den WDR vor einer Fern­seh­aus­strah­lung gewarnt. Den betrof­fe­nen Kaba­ret­tis­ten Bru­no Schmitz nann­te er einen „degou­tan­ten Ver­sa­ger“, der sich „im geis­ti­gen Sinn wie die U‑Bahn-Ran­da­lie­rer“ ver­hal­te. CSU-Rechts­po­li­ti­ker Nor­bert Geis erklär­te, der Kar­ne­vals-Bei­trag sei ein „Aus­druck von Bos­heit und Dumm­heit“. Das sei „nicht ein­mal unters­tes Niveau: boden­los,“ kri­ti­sier­te Geis.

Immer­hin: Mit Gewalt im öffent­li­chen Per­so­nen­nah­ver­kehr ver­bin­det die Bay­ern fast so eine lan­ge Tra­di­ti­on wie mit der katho­li­schen Kir­che.

* * *

Was mich eben­falls ver­wirrt ist die Empö­rung, die sich unter bis­lang eher unbe­kann­ten Ver­ei­nen und Ver­bän­den Raum bricht:

Der Bun­des­ver­band der Katho­li­ken in Wirt­schaft und Ver­wal­tung (KKV) hat den WDR auf­ge­for­dert, eine Papst Bene­dikt XVI. und Kar­di­nal Joa­chim Meis­ner ver­un­glimp­fen­de Sze­ne aus der „Stunk­sit­zung“ nicht aus­zu­strah­len. Der Sen­der sol­le Flag­ge zei­gen und auf die Gefüh­le von Chris­ten Rück­sicht neh­men, for­der­te der KKV-Vor­sit­zen­de Bernd‑M. Weh­ner am Frei­tag in Köln. Die­se mach­ten „immer­hin etwa zwei Drit­tel der Rund­funk­ge­büh­ren­zah­ler“ aus, sag­te er.

An die­sen Aus­füh­run­gen ist so gut wie alles empö­rens­wert: Zunächst ein­mal ver­bit­te ich mir als Christ die Ver­ein­nah­mung und Ent­mün­di­gung durch Herrn Weh­ner und sei­nen Ver­ein. Als Pro­tes­tant tan­giert es mei­ne reli­giö­sen Gefüh­le null­kom­ma­gar­nicht, wenn irgend­wel­che Kar­di­nä­le und Bischö­fe ver­spot­tet wer­den. Und das hat nichts mit der Kon­fes­si­on zu tun: Auch mög­li­che Wit­ze über die Trun­ken­heits­fahrt von Mar­got Käß­mann las­sen mei­ne reli­giö­sen Emp­fin­dun­gen unbe­rührt. Ich mag sie schlecht und unlus­tig fin­den (wie den unsäg­li­chen Käß­mann-Stan­dup von Harald Schmidt), aber sie rich­ten sich gegen – Ent­schul­di­gung, lie­be Katho­li­ken – Men­schen und nicht gegen mei­ne Reli­gi­on. Und selbst wenn, wür­de ich den Sketch ger­ne selbst sehen und mich not­falls von allein dar­über echauf­fie­ren – eine Bevor­mun­dung durch den WDR im Namen irgend­wel­cher Ver­bän­de ist da wenig sach­dien­lich.

„Bild“ räum­te Gop­pel in der Mün­che­ner Regio­nal­aus­ga­be eben­falls Raum für sei­ne Empö­rung ein und freu­te sich in der Köl­ner Aus­ga­be (zu früh, s. BILD­blog), dass der WDR auf eine Aus­strah­lung des Sket­ches ver­zich­ten wer­de. Dabei han­delt es sich um die glei­che Zei­tung, die Kurt Wes­ter­gaard, den Zeich­ner der umstrit­te­nen Moham­med-Kari­ka­tu­ren, als „mutig“ und Ange­la Mer­kels Lau­da­tio auf ihn als „gro­ßes Bekennt­nis zur Frei­heit der Pres­se und der Mei­nun­gen“ bezeich­net hat­te.

Ich bin mir sicher, dass ein guter Teil der Men­schen, die nun den Mixa-Dar­stel­ler Bru­no Schmitz beschimp­fen und bedro­hen, ande­rer­seits der Mei­nung sind, dass die Reak­tio­nen auf Wes­ter­gaards Zeich­nun­gen in Tei­len der mus­li­mi­schen Welt völ­lig über­trie­ben und bar­ba­risch waren. Da kann man ja noch froh sein, dass es im Islam kei­ne kalen­da­risch ver­ord­ne­ten Pha­sen der Wit­zig­keit gibt, in denen sich irgend­wel­che Men­schen mit einem etwas ande­ren Humor­ver­ständ­nis über Jesus oder Maria lus­tig machen.

* * *

Damit sind wir bei einem Reli­gi­ons­ver­ständ­nis ange­kom­men, das mich als gläu­bi­ger Christ ver­wirrt und das auf einer ratio­na­len Ebe­ne allen­falls „irra­tio­nal“ zu nen­nen ist: Mir ist völ­lig schlei­er­haft, war­um Men­schen, die an einen all­mäch­ti­gen Gott glau­ben, mei­nen, die­sen ver­tei­di­gen zu müs­sen.

Wenn sich die­ser Gott von Men­schen belei­digt fühlt, soll­te er doch selbst genug Mög­lich­kei­ten haben, dies den Betref­fen­den kurz­fris­tig (Sint­flut, beim Kacken vom Blitz getrof­fen) oder lang­fris­tig (an der Him­mels­pfor­te abge­wie­sen) mit­zu­tei­len. Auf gar kei­nen Fall braucht er pope­li­ge Men­schen, die in sei­nem Namen sau­er sind und ihn somit ent­mün­di­gen.

Ich mag mich da irren (und wer­de das sicher noch früh genug erfah­ren), aber ein Gott, der Wesen wie das Nil­pferd, den Nasen­bä­ren oder Sarah Palin erschaf­fen hat, hat doch offen­bar einen ziem­lich guten Humor und bedarf dem­nach nicht der (mut­maß­lich unver­lang­ten) Für­spra­che von humor­frei­en Men­schen wie Eva Her­man oder Tho­mas Gop­pel.

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Digital Gesellschaft

Und Normal gibt’s nicht mal mehr an der Tankstelle

Lie­be Autoren, Ihr könnt die Arbeit ein­stel­len: Das Ren­nen um den dümms­ten Text des Jah­res ist ent­schie­den. David Baum hat ihn ver­gan­ge­ne Woche auf „The Euro­pean“ ver­öf­fent­licht, einem kon­ser­va­ti­ven Inter­net­ma­ga­zin, des­sen erklär­tes Ziel es ist, inner­halb der nächs­ten Jah­re so wich­tig zu wer­den, wie es sich selbst seit dem ers­ten Tag nimmt.

In wel­che Rich­tung es gehen wird, erkennt man schon an der Fra­ge, die Baum sei­ner „Kolum­ne“ vor­an­ge­stellt hat: „Wie abar­tig ist eigent­lich nor­mal?“. Die Über­schrift zeigt, dass hier einer die Kon­tro­ver­se, die Pro­vo­ka­ti­on, das Bro­dern sucht: „Lie­be Nege­rIn­nen“.

Doch was will Baum eigent­lich sagen?

HÖREN SIE – sehr geehr­te Damen, sehr geehr­te Her­ren “und alle, die sich nicht mit die­sen Kate­go­rien iden­ti­fi­zie­ren kön­nen oder wol­len”: Ich kom­me mir manch­mal vor wie Ronald Rea­gan, der ver­se­hent­lich an den Nackt­ba­de­strand des Wood­stock-Fes­ti­vals gera­ten ist.
Zum Bei­spiel, wenn ich die­se inzwi­schen heiß umfeh­de­te Rede des Chefs der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung, Tho­mas Krü­ger, lese, die er tat­säch­lich mit genau jener eben zitier­ten Anre­de ein­ge­lei­tet hat. Das erin­nert mich an die hin­rei­ßend idio­ti­sche Afri­kare­de von Hein­rich Lüb­ke, bloß dass der zum Kar­ne­va­lis­ti­schen nei­gen­de Bun­des­prä­si­dent heu­te nicht nur über die böse ras­sis­ti­sche For­mel stür­zen wür­de, son­dern auch noch, weil er nicht “lie­be Nege­rIn­nen” gesagt hat.

Zuge­ge­ben: Das ist schon sehr viel zer­schmet­ter­ter Satz­bau und sehr viel Unfug für einen ein­zel­nen Absatz. Aber wir kom­men da durch. Zunächst also mal das Offen­sicht­li­che: In White Lake, NY gab es nach allem, was wir wis­sen, kei­nen Strand – also auch kei­nen „Nackt­ba­de­strand des Wood­stock-Fes­ti­vals“. Was soll­te man da auch schon sehen außer Schlamm?

Aber viel­leicht ist das auch wit­zig gemeint. So wie die Anre­de „lie­be Neger“, die sehr wahr­schein­lich frei erfun­den ist und die Baum mit der Anre­de in Tho­mas Krü­gers Rede beim Kon­gress „Das fle­xi­ble Geschlecht. Gen­der, Glück und Kri­sen­zei­ten in der glo­ba­len Öko­no­mie.“ ver­gleicht wie ande­re Leu­te Äpfel mit Schrau­ben­zie­hern: „Sehr geehr­te Damen und Her­ren, lie­be Neger“ klingt für unse­re Ohren, als ob es neben den Damen und Her­ren auch noch die „Neger“ gebe, die (ähn­lich wie bei „lie­be Kin­der“) von den Damen und Her­ren abge­grenzt wer­den müs­sen, weil sie nicht dazu­ge­hö­ren. Beim Kon­gress der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung hin­ge­gen wer­den auch die Men­schen adres­siert, die sich selbst weder den Damen, noch den Her­ren zurech­nen kön­nen oder wol­len. Die drit­te Kate­go­rie ver­sucht also eine Abgren­zung auf­zu­he­ben, nicht eine her­zu­stel­len.

Wie bei jedem ordent­li­chen Pole­mi­ker, der sich völ­lig in der Lebens­wirk­lich­keit ver­fah­ren hat, ist man auch bei David Baum gut bera­ten, ihn zwecks Demon­ta­ge aus­gie­big zu zitie­ren:

Herr Krü­ger, der Mann, der samt Ehe­gat­tin und sei­nem gan­zen Klün­gel vom Staat gespon­sert wird, “um inter­es­sier­te Bür­ge­rin­nen und Bür­ger dabei zu unter­stüt­zen, sich mit Poli­tik zu befas­sen”, doziert all­zu gern über das The­ma “Das fle­xi­ble Geschlecht”. Er ver­tritt also jene lau­ni­ge The­se – die zur Folk­lo­re der hei­mi­schen Links­extre­men gehört –, dass kein Mensch als Jun­ge oder Mäd­chen gebo­ren wird und des­halb die Kin­der­lein geschlechts­neu­tral auf­wach­sen sol­len, um sich schließ­lich frei ent­schei­den zu kön­nen. Der Ver­weis auf gewach­se­ne Geschlechts­or­ga­ne gilt in die­sen Krei­sen als lächer­li­cher Volks­glau­be aus der fins­te­ren Vor­mo­der­ne, den­ken sie erst gar nicht dar­an. Ich weiß nicht, was die­se Kama­ril­la in den 70ern geraucht hat, jeden­falls macht es bis heu­te so high, dass sie die Unter­schei­dung von Mäd­chen und Jun­gen für eine zutiefst reak­tio­nä­re und rechts­ra­di­ka­le Ange­le­gen­heit hält.

Mal davon ab, dass es in Krü­gers Rede nur am Ran­de um jene „lau­ni­ge The­se“ und gar nicht um Geschlechts­or­ga­ne und Geschlechts­neu­tra­li­tät geht, offen­bart sich in die­sem Absatz auch wie­der ein erschüt­ternd schlich­tes Welt­bild: Mann oder Frau, schwarz oder weiß, dafür oder dage­gen. Wenn Anders­den­ken­de für David Baum „Links­extre­me“ sind, müss­te er in sei­ner eige­nen bipo­la­ren Welt ja eigent­lich ein Rechts­ra­di­ka­ler sein. Das hat er natür­lich selbst schon aus­for­mu­liert und womög­lich wit­zig gemeint.

Aber ganz so ein­fach, wie es Baum ger­ne hät­te mit Pim­mel und Mumu, macht es ihm die Natur schon nicht. Hin­zu kommt, dass er – wie so vie­le Ande­re an bei­den Enden des poli­ti­schen Spek­trums – aus­schließ­lich inner­halb bestehen­der Kate­go­rien den­ken will.

Dazu ein kur­zer Exkurs: Das Volk der Sets­wa­na in Afri­ka kennt nur weni­ge Farb-Grund­wör­ter (im Prin­zip nur schwarz, weiß, rot, und blau/​grün, aber kein Wort für gelb, braun, oran­ge, oder ähn­li­ches), die Dani in Papua-Neu­gui­nea haben (wie ande­re Sprach­ge­mein­schaf­ten auch) über­haupt nur zwei Farb­wör­ter, die in etwa „hell“ und „dun­kel“ bedeu­ten. Sie hät­ten bei der Beschrei­bung eines Regen­bo­gens sicher eini­ge Schwie­rig­kei­ten, aber der Regen­bo­gen blie­be (für unse­re Augen) der glei­che. Die Geschich­te, nach der Eski­mos hun­dert ver­schie­de­ne Wor­te für Schnee hät­ten, ist zwar unge­fähr genau­so falsch wie Hein­rich Lüb­kes berüch­tig­tes Zitat, aber die Idee dahin­ter ist ja ein­fach, dass man alles noch mal aus­dif­fe­ren­zie­ren kann.

Aber das ist natür­lich nicht so geil kra­wal­lig wie die For­mu­lie­rung „an den Scham­haa­ren her­bei Gezo­ge­nes“ oder der Ruf nach dem Ver­fas­sungs­schutz, um den „beson­de­ren Schutz“ der Ehe und der Fami­lie im Grund­ge­setz zu gewähr­leis­ten.

Und über­haupt:

Nor­ma­li­tät gibt es ja nicht, wie der Mensch von mor­gen jetzt schon weiß.

Womög­lich denkt Baum ein­fach nur vom fal­schen Ende aus, denn es geht in der Debat­te ja gera­de dar­um, Schwu­le, Les­ben, Bise­xu­el­le, Trans­se­xu­el­le, Trans­gen­der, usw. usf. nicht mehr als Exo­ten wahr­zu­neh­men, die wahl­wei­se lus­tig oder krank sind, son­dern als nor­mal.

Für Baum eine offen­bar uner­träg­li­che Vor­stel­lung:

Das Ziel einer gesun­den Gesell­schaft soll­te sein, Min­der­hei­ten zu schüt­zen und ihnen zu ihren Rech­ten zu ver­hel­fen. Aber jede Lau­ne der Natur zum all­ge­mei­nen Leit­bild zu erhe­ben sicher nicht. Sie geht näm­lich dar­an kaputt.

Das ist genau die Logik der Leu­te, die wol­len, dass Mus­li­me ihre Moscheen in irgend­wel­chen Hin­ter­hö­fen und Indus­trie­ge­bie­ten errich­ten, und die dann hin­ter­her dar­über schimp­fen, wie schlecht „inte­griert“ die­se Men­schen in einer Gesell­schaft sei­en, die sie selbst an den Rand gedrängt hat. Schwul ja, aber bit­te nicht der eige­ne Sohn, nicht öffent­lich und nicht mit den glei­chen Rech­ten wie Hete­ro-Paa­re. Deko­ra­ti­ve Anders­ar­ti­ge in einer sonst uni­for­mier­ten Gesell­schaft. Aber immer beto­nen, dass man doch eigent­lich („Jedem Tier­chen sein Plä­sier­chen“) tole­rant sei – was natür­lich im Zwei­fels­fall auch wie­der iro­nisch gemeint sein könn­te.

All die­se Aus­brü­che Baums haben wenig bis gar nichts mit der Rede Tho­mas Krü­gers zu tun. Er will nichts „zum all­ge­mei­nen Leit­bild erhe­ben“, er will viel­mehr bestehen­de Leit­bil­der abbau­en:

Um Gerech­tig­keit und einen Aus­tausch auf Augen­hö­he zu errei­chen, kann die eige­ne Posi­ti­on, die eige­ne Erfah­rung, der eige­ne Kör­per und die eige­ne Sexua­li­tät nicht län­ger zur Norm erklärt wer­den, von der alle ande­ren Ver­sio­nen als min­der­wer­ti­ge Abwei­chun­gen gel­ten, die es allen­falls zu tole­rie­ren gilt.

Baum reißt ein­zel­ne Schlag­wor­te aus dem Kon­text der (zuge­ge­be­ner­ma­ßen nicht ganz kur­zen) Rede und erweckt so den Ein­druck, Krü­ger und die Bun­des­zen­tra­le woll­ten Sodom und Gomor­rha als gesell­schaft­li­ches Ide­al (oder gleich als Zwang) eta­blie­ren. Dabei geht es um ganz kon­kre­te Lebens­wirk­lich­kei­ten und Unge­rech­tig­kei­ten in ganz durch­schnitt­li­chen hete­ro­se­xu­el­len Part­ner­schaf­ten, wenn Krü­ger etwa die „klas­si­sche Ernäh­rer-Ehe, an der sich immer noch steu­er­li­che Pri­vi­le­gi­en fest­ma­chen“ kri­ti­siert.

Aber das ist wohl alles zu viel für einen Mann wie David Baum, der die Gren­ze des­sen, was nicht mehr „nor­mal“ ist, unmit­tel­bar hin­ter sich zieht.

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Warum Erwachsene immer beim Versteckspiel verlieren

Seit heu­te also sind 20 deut­sche Städ­te end­lich bei Goog­le Street View online – oder das, was von ihnen übri­ge geblie­ben ist, nach­dem mehr als 244.000 Haus­hal­te (von 40,2 Mil­lio­nen) Wider­spruch gegen das Abfo­to­gra­fie­ren ihrer Fas­sa­de von einer öffent­li­chen Stra­ße aus ein­ge­legt haben. Ana­tol Ste­fa­no­witsch hat im Sprach­log eigent­lich schon alles gesagt, was es zu den „ein­ge­trüb­ten Vier- und Viel­ecke, die einem alle paar Schrit­te die Sicht ver­sper­ren“ zu sagen gibt.

Auch das Haus, in dem ich seit Janu­ar woh­ne, ist ver­pi­xelt und das ist wenigs­tens ein net­ter Grund, mal wie­der mit allen Nach­barn ins Gespräch zu kom­men, um „Cluedo“-mäßig her­aus­zu­fin­den, wer auf die­se Idee gekom­men ist.

Doch damit nicht genug: Auch auf das Stu­den­ten­wohn­heim, in dem ich zuvor sechs Jah­re lang gewohnt habe, muss ich auf mei­nem vir­tu­el­len Rund­gang durch Bochum (bzw. durch das Bochum von vor zwei Jah­ren) ver­zich­ten:

Wohnheim Girondelle 6 (verpixelt bei Google Street View)

Dabei wären so ein paar Fotos wohl kaum so detail­liert gewe­sen wie die Infor­ma­tio­nen, die das Stu­den­ten­werk so lie­fert:

Wohnheim Girondelle 6 (als Modell bei Google Earth)

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Diesseits der Bannmeile

Ich bin vor acht Mona­ten umge­zo­gen. Seit Anfang Juli haben sich in Wurf­wei­te ((Ich war immer unfass­bar schlecht im Schlag­ball-Weit­wurf, aber ich bin sicher, dass Men­schen mit kör­per­li­cher Koor­di­na­ti­on die Ent­fer­nung schaf­fen wür­den. Auf frei­er Flä­che.)) mei­ner Woh­nung fol­gen­de Din­ge ereig­net: Prof. Die­ter Gor­ny gab eine Pres­se­kon­fe­renz zum The­ma Krea­tiv­wirt­schaft, Revol­ver­held spiel­ten ein Kon­zert und heu­te kam das Team von „ ‚Bild‘ kämpft für Sie“ vor­bei.

Es ist schwer, das nicht per­sön­lich zu neh­men.

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Siehste!

Hin­ter­her hat man es ja sowie­so immer gewusst. Im Nach­hin­ein ist jedem klar, dass es die rich­ti­ge Ent­schei­dung gewe­sen war, die Love­pa­ra­de 2009 in Bochum abzu­sa­gen. Aber was haben wir damals auf den Stadt­obe­ren rum­ge­hackt …

Gut, die Art und Wei­se der Absa­ge war pein­lich gewe­sen: Nach Mona­ten plötz­lich fest­zu­stel­len, dass die Stadt dann doch irgend­wie zu klein ist, deu­te­te ent­we­der auf erstaun­lich schwa­che Orts­kennt­nis­se hin – oder auf einen besorg­nis­er­re­gen­den „Das muss doch irgend­wie zu schaf­fen sein“-Aktionismus, der die Augen vor der Rea­li­tät ver­schließt. Letzt­lich haben sie es in Bochum noch gemerkt, die Schuld an der Absa­ge der Deut­schen Bahn in die Schu­he gescho­ben und Häme und Spott ein­fach aus­ge­ses­sen. Dass der dama­li­ge Poli­zei­prä­si­dent, der sich laut­stark gegen die Durch­füh­rung der Love­pa­ra­de aus­ge­spro­chen hat­te, neun Mona­te spä­ter in den vor­zei­ti­gen Ruhe­stand ver­setzt wur­de, hat­te ja ganz ande­re Grün­de.

Erstaun­lich aber: Von der Sicher­heit war in all den Arti­keln, Kom­men­ta­ren und Pres­se­mit­tei­lun­gen kaum die Rede. Das kam nur am Ran­de zur Spra­che:

Ganz ande­re Risi­ken bewe­gen Mar­tin Jan­sen. Dem Lei­ten­den Poli­zei­di­rek­tor wäre die Rol­le zuge­fal­len, den wohl größ­ten Poli­zei­ein­satz aller Zei­ten in Bochum zu koor­di­nie­ren. „Wir hät­ten die Love­pa­ra­de nur unter Zurück­stel­lung erheb­li­cher Sicher­heits­be­den­ken ver­tre­ten.“ Knack­punkt ist nach sei­ner Ein­schät­zung der Bochu­mer Haupt­bahn­hof.

Aber um die Sicher­heit der zu erwar­ten­den Men­schen­mas­sen ging es auch im Vor­feld der Duis­bur­ger Love­pa­ra­de öffent­lich nie, immer nur um die Kos­ten:

Fritz Pleit­gen, Vor­sit­zen­der und Geschäfts­füh­rer der Ruhr.2010, beob­ach­tet mit gro­ßer Sor­ge, wie sehr die Aus­wir­kun­gen der Finanz­kri­se den Städ­ten der Metro­po­le Ruhr zu schaf­fen machen. Beson­ders prä­gnant sei das aktu­el­le Bei­spiel Love­pa­ra­de in Duis­burg. „Hier müs­sen alle Anstren­gun­gen unter­nom­men wer­den, um die­ses Fest der Sze­ne­kul­tur mit sei­ner inter­na­tio­na­len Strahl­kraft auf die Bei­ne zu stel­len.“

Dabei hät­te das Argu­ment „Men­schen­le­ben“ bestimmt auch Dampf­plau­de­rer wie Prof. Die­ter Gor­ny beein­dru­cken kön­nen, der im Janu­ar mal wie­der das tat, was er am Bes­ten kann, und groß tön­te:

„Man muss sich an einen Tisch setz­ten und den Wil­len bekun­den, die Love­pa­ra­de durch­zu­füh­ren, statt klein bei­zu­ge­ben.“ Die Poli­tik müs­se sich dahin­ge­hend erklä­ren, dass sie sagt: „Wir wol­len die Ver­an­stal­tung und alle Kraft ein­set­zen, sie zu ret­ten!“

Gor­ny, der sonst kei­nen öffent­li­chen Auf­tritt aus­lässt, hat sich seit Sams­tag­nach­mit­tag zurück­ge­zo­gen. Er sei „schwer erschüt­tert“, erklär­te die Ruhr.2010 auf Anfra­ge, und füg­te hin­zu:

Wir haben beschlos­sen, dass für die Kul­tur­haupt­stadt aus­schließ­lich Fritz Pleit­gen als Vor­sit­zen­der der Geschäfts­füh­rung spricht und bit­ten, dies zu respek­tie­ren.

Aber es gibt ja immer noch die Jour­na­lis­ten, die sich spä­tes­tens seit der denk­wür­di­gen Pres­se­kon­fe­renz am Sonn­tag­mit­tag als Ermitt­ler, Anklä­ger und Rich­ter sehen. Und als Sach­ver­stän­di­ge:

„We were the only news­pa­per that said: ‚No. Stop it. The city is not pre­pared. We will not be able to cope with all the­se peo­p­le,“

lässt sich Götz Mid­del­dorf von der „Neu­en Ruhr Zei­tung“ in der „New York Times“ zitie­ren.

Bei „Der Wes­ten“ for­der­te Mid­del­dorf bereits am Sonn­tag laut­stark den Rück­tritt von Ober­bür­ger­meis­ter Sau­er­land und kom­men­tier­te:

Auf die Fra­ge der NRZ, ob man nicht gese­hen habe, dass Duis­burg nicht geig­net ist für die Love­pa­ra­de ging der OB nicht ein, sprach von „Unter­stel­lung“ und wies mög­li­ches Mit­ver­schul­den der Stadt zurück.

Ich habe mich lan­ge durch alte Arti­kel gewühlt, aber nichts der­glei­chen gefun­den. Da das auch an der unfass­bar unüber­sicht­li­chen Archiv­su­che bei „Der Wes­ten“ lie­gen kann, habe ich Herrn Mid­del­dorf gefragt, nach wel­chen Arti­keln ich Aus­schau hal­ten soll­te. Eine Ant­wort habe ich bis­her nicht erhal­ten.

Wie kri­tisch die Duis­bur­ger Pres­se war, kann man zum Bei­spiel an Pas­sa­gen wie die­ser able­sen:

Die Orga­ni­sa­to­ren gaben sich am Diens­tag aller­dings sehr opti­mis­tisch, dass es kein Cha­os geben wer­de. „Die eine Mil­li­on Besu­cher wird ja nicht auf ein­mal, son­dern über den Tag ver­teilt kom­men“, so Rabe. Es sei zwar nicht aus­zu­schlie­ßen, dass der Zugang wäh­rend der zehn­stün­di­gen Ver­an­stal­tung kurz­zei­tig gesperrt wer­den müs­se, aber der­zeit gehe man nicht davon aus. Und wenn der Fall doch ein­tre­te, „dann haben wir ganz unter­schied­li­che Maß­nah­men, mit denen wir das pro­blem­los steu­ern kön­nen“, ver­spricht der Sicher­heits­de­zer­nent – bei den Details woll­te er sich nicht in die Kar­ten schau­en las­sen.

(Kri­tisch ist da der letz­te Halb­satz, neh­me ich an.)

Arti­kel wie der Kom­men­tar „Die Love­pa­ra­de als Glücks­fall“ vom 23. Juli oder die groß­spu­ri­gen Über­trei­bun­gen von Ord­nungs­de­zer­nent Rabe und Ver­an­stal­ter Lopa­vent die Kapa­zi­tät des Fes­ti­val­ge­län­des betref­fend sind plötz­lich off­line – „Tech­nik­pro­ble­me“, wie mir der Pres­se­spre­cher der WAZ-Grup­pe bereits am Diens­tag erklär­te.

Den (vor­läu­fi­gen) Gip­fel des Irr­sinns erklomm aber Rolf Hart­mann, stell­ver­tre­ten­der Redak­ti­ons­lei­ter der „WAZ“ Bochum. Anders als sei­ne Kol­le­gen, die sich hin­ter­her als akti­ve Mah­ner und War­ner sahen, schaff­te es Hart­mann in sei­nem Kom­men­tar am Diens­tag, völ­lig hin­ter dem The­ma zu ver­schwin­den:

Mei­ne Güte, war man Anfang 2009 über OB & Co her­ge­fal­len, als die Stadt Bochum die Love­pa­ra­de 2009 in Bochum absag­te.

„Man.“

Nach­trag, 1. August: Ste­fan Nig­ge­mei­er hat in der „Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung“ über das glei­che The­ma geschrie­ben.

Ihm hat Götz Mid­del­dorf auch geant­wor­tet:

Auf Nach­fra­ge räumt Mid­del­dorf ein, dass Sicher­heits­be­den­ken nicht das The­ma waren. „Wir waren immer gegen die Love­pa­ra­de, aber aus ande­ren Grün­den.“ Dann muss die „Inter­na­tio­nal Herald Tri­bu­ne“ ihn mit sei­nem Lob für die eige­ne, ein­zig­ar­ti­ge Weit­sich­tig­keit wohl falsch ver­stan­den haben? „Das ver­mu­te ich mal“, ant­wor­tet Mid­del­dorf. „Das ist nicht ganz rich­tig.“ Er klingt nicht zer­knirscht.

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silence.

Ich woll­te was schrei­ben.

Muss ich jetzt nicht mehr.

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Schuhe verkaufen

Okay, es ist Wer­bung. Aber es ist Wer­bung für ein Pro­dukt, das das infla­tio­när gebraucht „Kult“-Label mehr als ver­dient hat: Con­ver­se-Schu­he sind Teil unse­rer Pop­kul­tur und sie sind cool. Und dann krie­gen sie auch noch einen exklu­si­ven, kos­ten­los her­un­ter­lad­ba­ren Wer­be­song von Kid Cudi (der offen­bar nichts falsch machen kann), Betha­ny Cosen­ti­no (Best Coast) und Ros­tam Bat­man­g­lij (Vam­pi­re Weekend):

Das Ein­zi­ge, was mich an dem Video irri­tiert: Die auf­fal­len­den Par­al­le­len zum Musik­vi­deo des dies­jäh­ri­gen Grand-Prix-Bei­trags aus Est­land:

[via Bam­bi]

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Kolossale Analogie

Screenshot: analogejugend.tumblr.comBei mei­nen Ver­su­chen, wie­der mal der Letz­te zu sein, der einen Inter­net-Hype ent­deckt hat, bin ich auf das Blog „Ana­lo­ge Jugend“ gesto­ßen.

Ver­se­hen mit Über­schrif­ten aus den schöns­ten deutsch­spra­chi­gen Pop­songs der letz­ten 20 Jah­re fin­den sich dort Fotos aus einer fer­nen Welt:

Ana­lo­ge Jugend is a blog about the last gene­ra­ti­on of kids gro­wing up wit­hout social media, digi­tal came­ras and a despe­ra­te force of self-expres­si­on.

Ich weiß nicht, wie die­se Fotos auf … sagen wir mal: heu­te 15-Jäh­ri­ge wir­ken (mut­maß­lich: „antik“), aber ich fand das Blog beim Durch­kli­cken glei­cher­ma­ßen herz­er­wär­mend und beun­ru­hi­gend: Etwa bei jedem zwei­ten Bild war ich mir sicher, frü­he­re Klas­sen­ka­me­ra­den oder mich selbst ent­deckt zu haben.

Mit frap­pie­ren­der Deckungs­gleich­heit krei­sen die Bil­der um Klas­sen­fahr­ten (und damit um Rei­se­bus­se, holz­ver­klei­de­te Par­ty­räu­me und und Regen­ja­cken), um Strän­de an Mee­ren und Bag­ger­seen und um sehr viel Blöd­sinn mit und ohne Alko­hol.

Mit die­sem unschein­ba­ren, aber kul­tur­his­to­risch wich­ti­gen Blog wäre dann auch gleich mal mit dem läs­ti­gen Gerücht auf­ge­räumt, wonach „die Jugend­li­chen“ „ja“ „heut­zu­ta­ge“ alle gleich aus­sä­hen.

Sie taten es immer schon:

Jugendliche, irgendwo in Deutschland, 1997.

Jugendliche, irgendwo in Deutschland, 2000.

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Neu-Trends – jetzt auch in München und im Internet

Wenn Kim­ber­ly Hop­pe nicht gera­de von Beer­di­gun­gen twit­tert, schreibt sie in der „Münch­ner Abend­zei­tung“ über Leu­te und in ihrem Blog über ihr Leben als „LEU­TE-Kolum­nis­tin“.

Das ist alles nicht schön, aber man muss schon dank­bar sein, dass Frau Hop­pe nur über Leu­te schreibt und nicht etwa über Zeit­geist-The­men. Nach­dem sie im ver­gan­ge­nen Sep­tem­ber das Wort „Vor­glü­hen“ für sich ent­deckt (und zum „Wort des Jah­res“ ernannt) hat­te, ist sie nun auf etwas völ­lig neu­es, außer­ge­wöhn­li­ches gesto­ßen:

“Was kann ich tun, um Idio­ten-Män­ner mit dep­per­ten Gefühls­schwan­kun­gen zu ver­ges­sen?”, fra­ge ich sie.

Ihre Ant­wort folgt zackig: “Komm mit in den E‑Garten und lass uns Flun­ky­ball spie­len!”

Watt???

Muss in der Mini-Mar­tin-Pha­se schreck­lichst geal­tert sein und jeg­li­che Neu-Trends ver­passt haben. Hil­fe!!

Was, bit­te, ist Flun­ky­ball!?

Da es schon wie­der um Alko­hol geht, drängt sich natür­lich die Fra­ge auf, ob das dies­be­züg­li­che Gefäl­le zwi­schen mei­ner nie­der­rhei­ni­schen Hei­mat und Mün­chen tat­säch­lich so groß ist. Viel­leicht bekommt, wer Weiß­bier trinkt, auch sonst nur wenig von der Welt mit.

Flunkyball (Symbolfoto)

Mei­ne ers­te Begeg­nung mit die­sem cra­zy … äh: „Neu-Trend“ liegt jeden­falls schon geschmei­di­ge vier Jah­re zurück und fand – wie es sich gehört – auf einem Dins­la­ke­ner Kirch­hof statt.

Freu­en Sie sich also schon jetzt dar­auf, wenn Kim­ber­ly Hop­pe, die Frau, die „Poly­lux“ jung aus­se­hen lässt, nächs­tes Jahr das „Kon­ter­bier“ ent­deckt.