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25 Jahre „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“

Dieser Eintrag ist Teil 4 von bisher 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Ben Folds Five - The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner (abfotografiert von Lukas Heinser)

Bisher spielten die Geschichten dieser Reihe ja allesamt nicht im Jahr 1999 und ich denke, ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass die meisten weiteren Kapitel über die wichtigsten Alben dieses Jahres auch später spielen werden. Schon in dieser Hinsicht ist das heutige Album ein besonderes. Aber auch in fast jeder anderen.

Man kann das jungen Menschen ja nur noch schwer vermitteln, aber es gab eine Zeit, da standen einem das Wissen und die Kulturgüter dieser Welt nicht jederzeit kostenlos von zuhause aus zur Verfügung — man musste dafür während der Öffnungszeiten die örtliche Stadtbibliothek aufsuchen. Weil meine Mutter immer in solchen Einrichtungen gearbeitet hatte (erst in Mülheim an der Ruhr, dann in Dinslaken), bin ich quasi dort aufgewachsen und mit den Büchern, Zeitschriften, VHS-Kassetten, Audiokassetten und später auch CDs.

Ich weiß nicht mehr das genaue Datum, aber der 26. April war es nicht (da kam das Album in Deutschland ja gerade erst in die Läden, ich war nachmittags mit Stefan T. in der Lichtburg „The Faculty“ gucken und montags hat die Stadtbibliothek Dinslaken seit jeher geschlossen), als ich in der durchaus beeindruckenden CD-Abteilung bei den Neuerscheinungen dieses Album mit dem merkwürdigen, sperrigen Namen sah. Ben Folds Five hatte ich im Jahr zuvor auf dem Soundtrack zu Roland Emmerichs „Godzilla“ kennengelernt (der Hype war damals enorm gewesen, der Film eher egal, aber das Soundtrack-Album stellte auch noch meinen Erstkontakt mit den Wallflowers, Jamiroquai, Rage Against The Machine und Michael Penn dar), also nahm ich „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“ mit nach Hause. Ich erinnere mich nicht unbedingt an die allererste listening session (die Chancen stehen gut, dass es nach der Schule während des Mittagessens war, das – seit meine Eltern eine Mikrowelle mit einer sogenannten Crunch-Funktion hatten – gefühlt jeden Tag aus Tiefkühlpizza Capricciosa aus dem Aldi bestand), aber es ist in der Rückschau schon erstaunlich, dass mich der jazzige, manchmal Kammerpop-artige Sound dieser Band nicht überraschte oder gar abschreckte. Ich wusste noch nicht viel über Musik und das musste wohl so.

Ich wusste auch noch nicht viel über Ben Folds Five. Dass es sich trotz des Bandnamens um ein Trio handelte, konnte ich mir aufgrund der Credits und des Bandfotos im Booklet zusammenreimen. Dass da gar keine Gitarren zu hören waren, auch (ich wusste, wie gesagt, wirklich noch nicht viel über Musik und beim Hören allein wäre es mir wohl nicht aufgefallen). Auf dem Bandfoto begutachteten zwei der Bandmitglieder (Sänger/Pianist Ben Folds und Bassist Robert Sledge) ihre Fingernägel, was mir ausgesprochen gut gefiel, und im Booklet erklärte die Band ebenfalls, dass sie (Amerikaner!) gar nicht gewusst hätten, dass Reinhold Messner ein berühmter Bergsteiger sei — dieser exotisch klingende Name sei einfach das gewesen, was Schlagzeuger Darren Jessee und seine Freunde im Feld “name:” auf ihren gefälschten Führerscheinen (also dem amerikanischen Äquivalent zum Personalausweis) stehen gehabt hätten, als sie noch zu jung waren, um mit echten Dokumenten in eine Bar gehen zu dürfen.

Ich hörte das Album viel in diesem Summer of ’99. Sehr viel. Ich hatte noch nicht sehr viele eigene CDs; neben Film-Soundtracks waren „Maybe You’ve Been Brainwashed Too“ von den New Radicals, „Synkronized“ von Jamiroquai und „TUBORM“, wie wir Ben-Folds-Fans es später in den Online-Foren nennen sollten, im Wesentlichen das, woraus ich zu dieser Zeit auswählen konnte.

Im zweiwöchigen Sommerurlaub in – natürlich! – Domburg entwickelte ich die Angewohnheit, meine Tage allabendlich im Bett mit drei Songs aus meinem Discman zu beschließen: „Changes“ von 2Pac, das damals ein ziemlicher Hit und auf dem 2Pac-Best-Of enthalten war, das mir mein bester Freund für den Urlaub geliehen hatte, zweimal hintereinander und dann „Lullabye“, der closer dieses Reinhold-Messner-Albums. In den Herbstferien in einer Jagdhütte im Hunsrück wuchs mir darüberhinaus „Your Redneck Past“ ans Herz, einer der rockigeren Songs, dessen genaue lyrische Bedeutung sich mir bis heute nur unzureichend erschließt. Auch das musste wohl so.

Wenn ich mir „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“ heute anhöre, bin ich erstaunt, wie melancholisch, geradezu depressiv das Album klingt. Zwar hat Ben Folds zuvor und danach bewiesen, dass er sich ganz großartig Geschichten ausdenken kann, aber auf diesem Album handeln fast alle Songs vom Scheitern, Versagen oder Sterben und das Lyrische Ich zieht sich selbst derart durch den Staub, dass da schon mehr dahinterstecken musste. Musikalisch ist das zweifelsohne ganz große Songwritingkunst, handwerklich gekonnt umgesetzt, aber eigentlich nicht das, womit 16-Jährige zu einer Band finden sollten. Wie „anders“ das Album auch für die Band selbst war, verstand ich erst, als ich mir ihr sonstiges Schaffen erschlossen hatte, aber es ist eines dieser Alben, von denen ich jeden einzelnen Ton kenne, jedes Knarren des Schlagzeughockers, jeden Bläsersatz und jede Zeile Text. Ich wohne seit acht Jahren in meiner Wohnung und laufe immer noch mindestens einmal pro Woche gegen einen Türrahmen, aber in meinem Elternhaus kann ich zur Not betrunken im Dunkeln die Treppe hochgehen und finde problemlos den Weg in mein altes Kinderzimmer. Genau so fühlt sich dieses Album für mich an. Selbst der „Hospital Song“, der nur eine Strophe hat, und das ausufernde Quasi-Instrumentalstück „Your Most Valuable Possession“, das die Band im Studio zu einer Art spoken word performance improvisierte, die Ben Folds’ Vater Dean seinem Sohn zu nächtlicher Stunde auf dem Anrufbeantworter (googelt das, GenZ!) hinterlassen hatte, müssen genau so.

Die CD aus der Stadtbibliothek („Leihfrist: vier Wochen, Verlängerung zwei Mal möglich“) begleitete mich eigentlich durch den Rest des Jahres, bis ich bei der Erstellung meines weihnachtlichen Wunschzettels „Alle bisher erschienenen Alben von Ben Folds Five“ schrieb. Weil das Booklet der Bücherei-Version so viele Reisen mit mir unternommen hatte, regelte meine Mutter das auf der Arbeit sogar so, dass dieses Booklet gelöscht und durch die in der für mich als Geschenk gekauften CD-Hülle enthaltene Version ersetzt wurde. Ich durfte also das Booklet behalten, mit dem ich schon so viel Zeit verbracht hatte.

Als ich meine eigene Version des Albums zu Weihnachten bekam, war die „Rolling Stone Roadshow“ schon Geschichte: Im Namen des Musikmagazins waren Ben Folds Five, Travis und Gay Dead durch die Bundesrepublik getourt und hatten am 29. November 1999 in der Kölner Live Music Hall gespielt. Ich hatte es mir notiert und dann gedacht: „Ach, mit dem Zug abends alleine nach Köln und zurück — die werden schon noch mal wiederkommen!“ Ich hatte endlich eine Lieblingsband. Weniger als ein Jahr später lösten sich Ben Folds Five auf, aber das habe ich schon ein paar mal aufgeschrieben.

„The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“ hat keine Hits im eigentlichen Sinne. Der Song „Army“ ist – vor allem wegen des vom Publikum gesungenen Bläser-Arrangements – auch heute noch ein Ereignis bei jedem Konzert von Ben Folds. Aber der Song, der mich von Anfang an am Meisten gepackt hat, ist „Magic“: ein schleppender Walzer; das einzige Lied auf dem Album, das Schlagzeuger Darren Jessee geschrieben hat, und in dem sich die Trauer um einen verstorbenen Menschen und das Wissen, dass diese Person es hinter sich hat, auf ganz wunderbare Weise vermischen. Dieser Song hat, bevor überhaupt irgendjemand aus meinem näheren Umfeld gestorben war, mir immer Hoffnung gegeben. Und nachdem meine Omi vor anderthalb Jahren gestorben war, wusste ich plötzlich ganz genau, welchen Songtext ich auf Instagram zitieren würde.

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Saw you last night
Stars in the sky
Smiled in my room

Ben Folds Five – The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner
(550/Caroline Music; 26. April 1999)
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25 Jahre „Equally Cursed And Blessed“

Dieser Eintrag ist Teil 3 von bisher 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Catatonia - Equally Cursed And Blessed (abfotografiert von Lukas Heinser)

Radio Bohlen, jedenfalls, schloss im Sommer 2001 für immer seine Türen. Der Ort, an dem meine Eltern (und Großeltern) nahezu alle Fernseher, Videorecorder und Stereoanlagen gekauft hatten, und an dem ich auch ein paar CDs erstanden hatte (ein ganz paar: R&K und Karstadt waren meist günstiger gewesen — und ich hatte die Preise natürlich oft verglichen), machte nach Jahrzehnten dicht. Der Verkaufsraum war eine dieser 1950er-Jahre-Extravaganzen gewesen, die man zu ebener Ebene betrat (Kasse, Kopfhörer und anderes Zubehör), um dann wahlweise eine halbe Etage hinab- (Fernseher, Stereoanlagen, Boxen, Laserdisc-Player) oder hinaufzusteigen (CDs, Band-T-Shirts, Poster und letzte Vinyl-Schallplatten, die damals wirklich out waren). Absolut nicht barrierefrei (dabei hatte Deutschland in den 1950er Jahren über einen außergewöhnlich hohen Bevölkerungsanteil von Menschen mit fehlenden Gliedmaßen verfügt) und beim anschließenden Umbau zu einem DM ordentlich nivelliert (schöne 50er-Jahre-Treppengeländer kann man sich schließlich auch woanders anschauen).

Die letzte CD, die ich bei einer dieser für alle Beteiligten immer etwas entwürdigenden, Ausverkauf geheißenen, Leichenfleddereien erstand (und das ungehört), war „Equally Cursed And Blessed“, das dritte Album der walisischen Band Catatonia. Die hatte ich, wie schon die Stereophonics, als Gäste auf dem Tom-Jones-Karriere-Revitalisierungswerk „Reload“ kennengelernt und es muss, wenn ich mich nicht sehr irre, der erste Act mit weiblicher Stimme gewesen sein, der seinen Weg in meine CD-Sammlung fand. Kostete glaub ich auch nur noch acht Mark oder so.

Was mich zuhause beim ersten Hören erwartete war das, was ich mir als Noch-nicht-18-Jähriger unter „Musik für Erwachsene“ vorstellte: ein bisschen überdrehter, ein bisschen cooler und ein bisschen cleverer als das, was meist auf 1Live und WDR2 lief. Ich malte mir aus, dass Menschen um die 30, die in schicken Apartments in London wohnten und in den Medien arbeiteten, solche Musik bei ihren dinner parties auflegen würden. Aus irgendeinem Grund stellte ich mir ziemlich genau das Setdesign der „About A Boy“-Verfilmung vor, ein Jahr, bevor der Film rauskam.

Sängerin Cerys Matthews hatte eine Stimme, die klang, als hätte Tiffy aus der „Sesamstraße“ mit dem Trinken und Rauchen angefangen, und sie sang bissige, gelangweilte Gesellschaftskommentare; manche Textzeilen überraschen auch Jahrzehnte später („The ad begs, ‘Buy bottled water‘ / But we know that it tastes of piss / Should be getting our tampons free / DIY gynecology“). Das Album wurde Teil meines Sommer-Soundtracks und tatsächlich klingen die meisten Songs für mich auch heute noch nach dem leichten Wind, der an heißen Sommertagen über die niederrheinische Landschaft kriecht: Könnte auch noch schwül werden, könnte noch gewittern, aber wir würden bei irgendwelchen Schulfreunden, deren Eltern ohne sie in den Urlaub gefahren waren, unter der Markise sitzen.

Track 2 – und damit traditionell das klare Highlight, die klare Single – ist ein Hassliebeslied auf London: „Londinium“ beklagt die hohen Lebenshaltungskosten, den dichten Verkehr und den verlogenen Showbiz-Glamour mit einem unfassbar eingängigen Refrain, der Bahnhöfe und Taxen zusammenbringt. In meiner lebhaften Phantasie entstand eine romantische Komödie um Menschen, die bei einem Stadtmagazin namens „Londinium“ arbeiteten. (Fuck, vielleicht habe ich aus Versehen „Tatsächlich Liebe“ erfunden!)

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Catatonia veröffentlichten im gleichen Sommer ihr viertes Album, das ich nie gehört habe; die Band löste sich kurz darauf auf. Ich habe „Equally Cursed And Blessed“ mehr als zehn Jahre lang nicht gehört, aber die Musik erschafft immer noch farbenfrohe Bilder in meinem Kopf. Nur die Menschen sind inzwischen Mitte Fünfzig und zum zweiten Mal geschieden.

Catatonia – Equally Cursed And Blessed
(Blanco y Negro; 12. April 1999)
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That’s how I remember it

Kurt Cobain war tot, damit wollen wir beginnen. Grieselige TV-Bilder einer Garage in Seattle haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, wann.

Ich habe ein sehr merkwürdiges Gedächtnis. Ein „gutes“, würden viele sagen, weil ich mich an so vieles erinnern kann: Daten, Namen, Begebenheiten, Dialoge — alles semantisch miteinander verknüpft und immer auch verbunden mit Bildern. Letzte Woche fielen mir die Namen von Freunden meiner Eltern wieder ein, die ich vor 35 Jahren zwei-, dreimal getroffen hatte. Ich fände es aber hilfreicher und mithin „gut“, mir die Namen von Menschen merken zu können, die ich aktuell brauche.

Die TV-Bilder, also: Ich bin mir absolut sicher, dass ich sie auf dem Grundig Monolith im sogenannten „Bauernzimmer“ meines Großelternhauses sah. Meine Großeltern hatten – die Sentenz von Harald Schmidt bestätigend, dass Geld und Geschmack nur selten Hand in Hand einhergehen – sich in den 1970er Jahren durchaus hochwertige, massivste Bauernmöbel andrehen lassen: einen Esstisch, an dem die Ritter der Tafelrunde alle Platz gefunden hätten, nebst passender Stühle; ein Buffet, in das rund die Hälfte der Teller des Hausstandes passten (und das waren viele); darüber ein Hängeregal, das zur Präsentation von Ziertellern gedacht war (was Bauern halt so tun) und sogar ein Beistelltischchen, auf dem immer die „Kirche + Leben“ und die „Hörzu“ der nächsten Woche lagen (die „Hörzu“ der aktuellen Woche lag meist im richtigen Wohnzimmer, da wo auch die Sofas und Sessel um einen tonnenschweren Couchtisch standen). In diesem „Bauernzimmer“, wo meist zu Abend gegessen wurde, stand der treffend so betitelte Monolith, damit mein Großvater während des Abendessens die „Heute“-Nachrichten und/oder die „Tagesschau“ sehen und so nebenbei die essenden, bitte schweigenden Enkelkinder mit Bildern des hingerichteten Nicolae Ceaușescu, aus den Jugoslawienkriegen und anderen Krisenregionen verstören konnte.

Dort hatte ich, seit wir nebenan wohnten (I’m glad you asked: meine Eltern waren mit uns am 30. Januar 1993 umgezogen — das „Zeitzeichen“ auf WDR 2, das ich an jenem Morgen im besagten Bauernzimmer im Radio gehört hatte, hatte das Thema „60 Jahre Machtergreifung“ gehabt), viele Stunden vor dem Fernseher verbracht. Meine Großeltern hatten nämlich ,anders als meine Eltern, damals schon Satellitenfernsehen gehabt — wobei sich meine Fernseh-Diät, von MTV Europe mal ab, eigentlich auf die Programme beschränkte, die ich auch bei meinen Eltern hätte gucken können: „Hit-Clip“, das WDR-Surrogat für MTV, und „Elf 99“, ein Jugendmagazin, das im September 1989 ursprünglich im Fernsehen der DDR gestartet war, sich dort als durchaus regierungskritisch erwiesen und nach dem Ende des DFF eine kleine Odyssee durch die westdeutschen Sender hinter sich hatte. „Elf 99“ lief seit Mitte November 1993 auf Vox, dem kleinen, sympathischen Privatsender, der mit seinem erratischen, oft anspruchsvollen Programm (allem voran das Medienmagazin „Canale Grande“ mit dem damals noch Dieter genannten Max Moor) wie geschaffen war für einen zehnjährigen Jungen, der sich medial gerne zwei, drei Gewichtsklassen über der eigenen bewegte.

Dafür, dass „Elf 99“ nur wenige Monate auf Vox lief, habe ich wirklich viele Erinnerungen daran — womöglich habe ich fast alle Ausgaben dort gesehen. Ich erinnere mich, dass ein dicker, langhaariger, damals mutmaßlich noch junger Dieter Gorny zu Gast war, um das Konzept seines bald startenden Musiksenders Viva vorzustellen (den wir allerdings noch nicht mal bei unseren Großeltern sehen konnten, weil er anfangs per Kabel ausgestrahlt wurde); an Sendungen, in denen man per Anruf so lange für oder gegen den aktuell laufenden Act abstimmen konnte, bis die Negativstimmenstimmen in der Mehrheit waren (am Längsten liefen – in einer Jugendsendung im Jahr 1993 – Phil Collins und Genesis); an die Ausgabe mit den größten Hits des Jahres 1993, die zwar ausgiebig mit „Go West“ von den Pet Shop Boys betrailert worden war, das dann aber in der schlussendlichen Sendung gar nicht vorkam (auf Platz 1 landeten, wenn ich mich recht erinnere, die damals schon von mir für schrecklich befundenen Ace Of Base).

Anfang des Jahres 1994 war „Elf 99“ vom spätnachmittäglichen Sendeplatz auf einen längeren am Samstagvormittag gewechselt. Hier erinnere ich mich vage an ein Take-That-Special, aber nicht viel mehr. Es ging auch nur einige Wochen gut, dann wurde „Elf 99“ in „Saturday“ umbenannt. Und ab hier wird es kompliziert.

In der Wikipedia steht:

Schließlich wurde der Sendeplatz auf den Samstagnachmittag gelegt und im März 1994 eine Umbenennung in Saturday beschlossen. Tatsächlich lief nur eine Ausgabe unter dem neuen Namen am 26. März 1994. Denn im März 1994 hatten sämtliche Anteilseigner des Senders VOX ihre Beteiligungen gekündigt und eine Finanzierung des Programmbetriebs über den 31. März hinaus in Frage gestellt. Somit fiel neben mehreren Sendungen auch Elf 99/Saturday der VOX-Krise zum Opfer. Ein Neustart auf einem anderen Sender erfolgte nicht mehr.

Ich bin mir absolut sicher (im Sinne von: „ich könnte schwören“), dass ich die grieseligen TV-Bilder in den VOX-Nachrichten sah, die vor „Saturday“ liefen, und dort vom Tode Kurt Cobains hörte. Ich meine mich zu erinnern, dass ich einigermaßen geschockt war, denn Nirvana waren mir natürlich ein Begriff gewesen: Das Video zu „Smells Like Teen Spirit“ hatte ich – auch Jahre nach Veröffentlichung – häufig bei „Hit-Clip“ gesehen, wo die Grunge-Band aus Seattle einigermaßen gleichberechtigt zwischen East 17, 2 Unlimited und Billy Joel vorgekommen war, und auch an das Anton-Corbijn-Video zu „Heart-Shaped Box“ meine ich mich aus jener Zeit erinnern zu können. Mir war wohl auch als 10-Jährigem schon klar gewesen, dass es sich um „andere“, irgendwie sperrigere Musik gehandelt hatte als bei den meisten anderen Videos, die bei „Hit-Clip“ liefen, aber von dem Nihilismus, der Verzweiflung und dem ganzen „Generation X“-Vibe, von dem die deutschen Medien dann nach Cobains Suizid berichteten, hatte ich keine Vorstellung, als ich die Nachricht zum ersten Mal hörte — bei Vox. Und ich könnte schwören, dass zu Beginn der dann folgenden „Saturday“-Ausgabe, deretwegen ich Fernseher und Sender ja eingeschaltet hatte, zwei Moderatoren vor ein Studiopublikum traten, von denen der eine seine Nirvana-Konzertkarte (ich glaube, sie war gelb) vor laufender Kamera zerriss, was der andere mit der Frage kommentierte, ob er eigentlich bescheuert sei, diese Karte hätte doch einmal sehr wertvoll werden können. Aber all das würde ja keinerlei Sinn ergeben, wenn die Wikipedia Recht hätte und die Sendung am 26. März eingestellt worden wäre — Kurt Cobains Leiche wurde bekanntlich am 8. April 1994 entdeckt.

Der hier klaffende Widerspruch beschäftigt mich seit einiger Zeit, aber zum 30. Jahrestag wollte ich ihn endlich in Angriff nehmen. Mein erster Kontakt galt der Vox-Pressestelle, wobei ich eigentlich schon in meiner Anfrage die Segel strich, als ich schrieb, ich wisse, dass bei Vox damals chaotische Zustände geherrscht hätten und vermutlich auch einiges aus dieser Zeit nicht sehr gut dokumentiert sei, was mir die nette Pressesprecherin in weniger als 24 Stunden bestätigte.

Also schrieb ich allen Menschen, die ich kenne und die mal irgendwas mit Musikfernsehen zu tun hatten. Nilz Bokelberg, der damals beim Viva-Start dabei war, brachte mich auf die (zugegebenermaßen nicht soooo abseitige) Idee, nach zeitgenössischen Quellen zu suchen — und lieferte gleich einen online verfügbaren Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 16. März 1994 mit, in dem stand:

Nach viereinhalb Jahren kommt das Aus für das ELF-99-Magazin. Wie die ELF-99-Medienproduktion und Vermarktung GmbH gestern mitteilte, wird das Jugendmagazin am 26. März zum letzten Mal bei VOX zu sehen sein. Am 2. April soll als Nachfolger die Sendung ‘saturday’ auf VOX starten.

Ha! Das ist natürlich etwas ganz anderes, als die Wikipedia behauptet! Und die „Frankfurter Rundschau“ schrieb noch am 28. April 1994:

Seit Ostern produziert die Berliner Firma Elf 99 für Vox das Jugendmagazin “saturday”. Nur bis Ende April ist die Planung sicher. Danach sieht es für “saturday” nach Sonntag aus. Bertram Schwarz, Geschäftsführer von Elf 99, hält den Wechsel eines eingeführten “Produkts” von einem Sender zum anderen für zu schwierig.

[Ostersonntag war 1994 am 3. April]

Okay. Also liegt die Wikipedia falsch. Aber das bestätigt ja immer noch nicht meine Erinnerungen.

Ich habe versucht, Kontakt zum damaligen Redaktionsleiter von „Saturday“ aufzunehmen. Ich habe Menschen (bzw. deren Management) kontaktiert, die laut eigener Aussage „Saturday“ moderiert haben — erfolglos.

Je länger ich über diesen Samstagvormittag nachdenke, desto eindringlicher erscheinen mir meine Erinnerungen: Ich bin mir sicher, dass ich noch ganz nah vor dem Fernseher stand, den ich gerade erst eingeschaltet hatte, und mich noch nicht hingesetzt hatte. Ich sehe das Licht durch die Terrassentür fallen und spüre die Fernbedienungen des Fernsehers in meiner Hand. Klar: Die habe ich ja auch hunderte Male in der Hand gehalten — aber auch am 9. April 1994? Man hört ja immer wieder von falschen Erinnerungen, von Zeugenaussagen, die nicht stimmen können. Aber wo kommen wir hin, wenn wir unseren eigenen Erinnerungen nicht mehr trauen können? Und ist eine Erinnerung, die wir nicht mit Quellen belegen können, überhaupt real?

Eines der legendärsten Zeitdokumente ist dieser Ausschnitt aus den „Tagesthemen“ vom 9. April 1994 (die – wenig hilfreich – in der YouTube-Beschreibung als „Tagesschau“ vom 8. April bezeichnet werden):

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Als man noch auf Facebook war und dort lustige Links teilte, tat dieses Video mindestens einmal im Jahr das, was man damals „viral gehen“ nannte, weil es auf so beeindruckende Art die geballte Ahnungslosigkeit und Bräsigkeit deutscher Medien zusammenzufassen scheint — und das nicht 1968, sondern 1994: Da ist die konsequent falsche Aussprache von Cobains Nachnamen (die ARD-Aussprachedatenbank empfiehlt inzwischen – ich weiß aber nicht, seit wann – /koʊʹbeɪn/), die falsche „Übersetzung“ der „Lithium“-Textzeilen und dann die Zusammenfassung „Kurt Cobains Lieder sind Ausdruck einer jugendlichen Subkultur; einer Jugend ohne Hoffnung, ohne Job, drogenabhängig und kriminell“, die nicht nur grammatikalisch auf dünnem Eis unterwegs ist. Sowohl der damalige Washington-Korrespondent der ARD, Jochen Schweizer (Jahrgang 1938), als auch Moderatorin Sabine Christiansen (Jahrgang 1957) bemühen sich, so etwas wie Emphase und Faszination auszudrücken, aber der ganze Beitrag strahlt gleichzeitig so viel Alarmismus und Verachtung für „Jugendkulturen“ (falls es irgendjemand vergessen haben sollte: Cobain war 27, als er starb) aus, dass es denkbar erscheint, dass Tausende deutsche Eltern danach Tipper-Gore-mäßig in die Jugendzimmer ihrer Kinder rannten und sicherheitshalber die Nirvana-CDs in den Müll warfen.

Nachdem ich diesen Ausschnitt für diesen Text hier zum wiederholten Male gesehen hatte, beschlich mich das Gefühl, jene „Tagesthemen“-Ausgabe damals, am 9. April 1994, womöglich selbst gesehen zu haben — mit meiner Mutter in ihrem Nähzimmer, in dem sie damals abends oft saß, im Anschluss an „Geld oder Liebe“ mit Jürgen von der Lippe. Es scheint zumindest plausibel.

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Musik Leben

25 Jahre „Performance And Cocktails“

Dieser Eintrag ist Teil 2 von bisher 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.
Stereophonics - Performance And Cocktails (abfotografiert von Lukas Heinser)

Zum ersten Mal gehört habe ich von den Stereophonics auf „Reload“, jenem Tom-Jones-Album von 1999, mit dem der „Tiger“ den dritten oder vierten Frühling seiner Karriere einleitete, indem er mit jungen, angesagten Acts der Gegenwart Songs coverte, die allesamt jünger waren als seine eigenen ersten Hits. (Das Album war auch mein Erstkontakt mit The Divine Comedy, Barenaked Ladies, Catatonia und Portishead und es ist mir genau gerade aufgefallen, dass es eigentlich ungewöhnlich ist, dass sich ein 16-Jähriger das Spätwerk eines damals nur halbherzig als „Kult“ bezeichneten Crooners gekauft und darüber zeitgenössische Acts kennengelernt hat, aber ich war glühender Tom-Jones-Verehrer, seit ich ihn in „Mars Attacks!“ als nur halbherzig als „Kult“ zu bezeichnende Version seiner Selbst gesehen hatte.) Mit den Stereophonics sang der Waliser damals eine recht drängende Version von Randy Newmans „Mama Told Me Not To Come“, die bei mir so viel Eindruck machte, dass ich mich der Band selbst in der Folgezeit näherte.

Als wir im Juni 2000 mit unserem Lateinkurs eine Exkursion nach Köln unternahmen und nach Besuch des Doms und des Römisch-Germanischen Museums noch Zeit zur freien Verfügung hatten, überredete ich meine Freunde, mit mir zum Saturn-Stammhaus am Hansaring zu laufen, um dort nach CDs zu gucken. Das war damals angeblich der größte Plattenladen Deutschlands mit zahlreichen Etagen, Zwischen- und Kellergeschossen, in denen es kein Tageslicht gab, und jedes Mal, wenn die S-Bahn vorbeifuhr, vibrierten der Boden und die Regale voller CDs und Schallplatten. Und dort habe ich mir an jenem Tag die „Performance und Cocktails“ der Stereophonics gekauft.

Wenn man erstmal ca. 30 D-Mark in ein Album investiert hatte, hörte man es damals sehr intensiv für die nächsten Monate — meine CD-Sammlung war ja auch noch im Aufbau und so viel Auswahl hatte ich gar nicht, wenn ich den ganzen Tag Musik hören wollte. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die Stereophonics damals zu mir gesprochen hätten, aber ich mochte die energetischen Rocksongs, von denen es auf diesem Album nur so wimmelte, und die etwas ruhigeren Midtempo-Nummern und Balladen. Die Songs klangen alle, als hätten der Band beim Schreiben und Aufnehmen ein bisschen mehr als die üblichen 230 Volt zur Verfügung gestanden, und über die Stimme von Sänger Kelly Jones konnte man eigentlich nicht schreiben oder sprechen, ohne ein „Reibeisen-“ davor zu setzen. Wichtig war mir aber auch, dass die Musik, die ich hörte, in meiner Klassenstufe ansonsten eher unbekannt war — und die Stereophonics verkauften im Vereinigten Königreich und vor allem in ihrer Heimat Wales zwar Stadien aus, liefen in Deutschland aber weder bei Einslive noch bei Viva, was ich immer als gutes Zeichen betrachtete.

So wurde „Performance And Cocktails“ zum Soundtrack eines Sommers; als einzelne Songs auf Mixtapes und in voller Länge in meinem Discman, zum Beispiel an diesem einen Abend im Sommerurlaub, als ich mit meiner Familie ein Picknick am Strand von Domburg machte und die ganze Zeit einen Stöpsel im Ohr hatte. „The Bartender And The Thief“ hat mich gelehrt, wie man Uptempo-Nummern schreibt, „I Stopped To Fill My Car Up“, wie man Geschichten erzählt. „Just Looking“ mochte ich schon immer, aber ich habe erst mit zunehmendem Alter verstanden, worum es in diesem Lied ging und wie sehr es von mir handelte: „There’s things I want / There’s things I think I want“, beginnt der Erzähler, um sich dann zu fragen, was er eigentlich will — und zwar vom Leben. Daneben stehen, beobachten, lächeln, später davon berichten, aber nie aktiv Teil des Geschehens sein (wollen) — das hat lange einen großen Teil meines Lebens ausgemacht: „I’m just looking, I’m not buying / I’m just looking, keeps me smiling“.

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Ein paar Lebenskrisen und eine Therapie später weiß ich heute sehr viel besser, was ich will — und vor allem, was nicht. Wenigstens meistens. „You said that life is what you make of it / Yet most of us just fake“ soll nicht für mich gelten. Schon wegen dieses kathartischen Songs mittendrin wird „Performance And Cocktails“ immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen haben.


Stereophonics – Performance And Cocktails
(V2 Music; 8. März 1999)
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Unterwegs Gesellschaft

Als man damals nach Hamburg kam

Ich wünschte wirklich, es würde nicht stimmen, aber natürlich musste sich die „Du und wieviel von Deinen Freunden“ von kettcar in meinem Sony-Discman drehen, als ich heute vor 20 Jahren mit der U3 vom Hauptbahnhof nach St. Pauli fuhr und über den Spielbudenplatz ging. Mit meiner damaligen Freundin hatte ich mich auf den Weg nach Hamburg gemacht; die erste gemeinsame Reise, ein Besuch bei Internetfreunden, vor allem aber natürlich im Mythos Hamburg.

Das Grand Hotel van Cleef und seine Acts, Bands wie Tocotronic und Die Sterne und „Absolute Giganten“ — die Stadt und vor allem die Gegend um St. Pauli, Karolinenviertel und Sternschanze waren durch die Popkultur der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit so aufgeladen, dass sie zumindest für uns eigentlich schon den gleichen touristischen Stellenwert hatten wie Michel, Fischmarkt und Landungsbrücken (die natürlich gleich doppelt): hingehen, Foto machen, abhaken, dort gewesen sein. Ich war gerade erst auf dem Sprung von Dinslaken nach Bochum, aber so, wie diese coolen Menschen in Cordhosen und Trainingsjacken mit einem Stadtnamen-Schriftzug drauf, die die entscheidenden paar Jahre älter waren als ich mit 20 und irgendwas „Kreatives“ machten, so wollte ich auch einmal sein und leben: Platten kaufen bei Zardoz, abends einfach vor die Tür gehen und ein Konzert besuchen; Miles in der Tanzhalle St. Pauli, Ash im Logo, mit der Bierflasche in der Hand vorm Molotow stehen.

Wenn ich die Fotos von damals betrachte, sehe ich vor allem, was nicht mehr da ist: die Esso-Hochhäuser und die Tankstelle davor, der Astra-Turm, der Kaispeicher A ohne Elbphilharmonie drauf — ich war, wie bei meinem ersten Berlin-Besuch 1995, rechtzeitig dagewesen, um heute nostalgisch zu sein. Dabei sind die wahren Opfer natürlich die, die da jahrzehntelang gewohnt haben. Die Gentrifizierung ist über Hamburg hinweggerauscht, alles ist voll mit Bio-Supermärkten, Lastenrädern, Cafés und alternden Hipstern, die jetzt Eltern sind und aussehen wie ich und meine peer group hier in Bochum — nur, dass wir viel weniger Miete zahlen. Wir sind alle Teil des Problems; die Investoren folgen den Kreativen wie Geier; am Ende wollen wir alle eine lichtdurchflutete Altbauscheiße. Aber sowas wie die Hafen City, das haben wir doch nie gewollt!

2009 hatte ich überlegt, nach Hamburg zu ziehen, aber es war mir damals schon zu teuer. Ich liebe die Stadt noch immer: das Licht, die Luft an der Elbe, das Schanzenviertel, trotz all der Gentrifizierung, und der schönste Regiolekt, den das Deutsche zu bieten hat. In meiner DNA bin ich zu zwei Achteln Hamburger und ich bilde mir ein, dass sich das bemerkbar macht (die zwei Achtel Aachener Revier spüre ich nullkommanull). Einige der besten Menschen, die ich kenne, leben in Hamburg. Falls ich Bochum jemals verlasse, dann nur für Hamburg, Wien oder San Francisco. I’d like to thank the academy (academy, academy).

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Musik Leben

25 Jahre „Clarity“

Dieser Eintrag ist Teil 1 von bisher 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

Jimmy Eat World - Clarity (abfotografiert von Lukas Heinser)

So richtig gildet das ja gar nicht: „Clarity“ von Jimmy Eat World kam in Deutschland ja erst Ende Januar 2001 auf den Markt, fast zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung in den USA — auch etwas, was jungen Menschen heute nur noch schwer zu vermitteln ist, wo Musik einfach um Mitternacht Ortszeit bei den Streaming-Diensten auftaucht.

1999 wäre ich aber auch noch gar nicht bereit gewesen: ein 15-jähriges Kind, dessen sehr überschaubare CD-Sammlung überwiegend mit Film-Soundtracks und Radiopop von Phil Collins bis Lighthouse Family bestückt war. 2001 war das anders: Ich hatte inzwischen ein recht ordentlich gefülltes CD-Regal, eine Festplatte voller MP3s und Viva II und „Visions“ boten Ein- und Ausblicke auf all das, was musikalisch noch existierte. Und an Jimmy Eat World und ihrer Single „Lucky Denver Mint“ kam man dort nicht vorbei:

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Dieser Song klang gleichermaßen catchy und erwachsen. Wie die Musik vom „American Pie“-Soundtrack, aber ein ganz kleines bisschen sperriger. Ich weiß, dass ich das Album an einem Freitagnachmittag bei Radio Bohlen gekauft habe, jenem Unterhaltungselektronik- und Tonträgerhändler in der Dinslakener Innenstadt, bei dem schon mein Vater Stereoanlage und Schallplatten erworben hatte, und der kein halbes Jahr später seine Pforten für immer schließen sollte. (Seitdem ist ein DM an dieser Stelle.) Ich erinnere mich, dass ich noch schnell eine Kassette aufnahm, die ich am nächsten Tag hören konnte, während ich mit Schulfreund*innen bei der Inventur in der Filiale eines großen niederländischen Bekleidungskonzern aushalf, wie wir es zu jener Zeit öfter taten. Und ich weiß, dass die Songs von Jimmy Eat World in der Folge auf zahlreichen Mixtapes für mich und angehimmelte Mitschülerinnen landeten.

Vielleicht projiziere ich im Nachhinein zu viel in dieses Album hinein, vielleicht dachte ich aber auch schon mit 17, dass es mehr nach Studentenwohnheim als nach Jugendzimmer klang. Neben den klaren, eingängigen Singles „Lucky Denver Mint“ und „Blister“ war da ein Song wie „A Sunday“, wo sich tieftönende Gitarren mit Streichern und Glockenspiel mischten; das siebenminütige „Just Watch The Fireworks“, das sich immer wieder steigerte und die Richtung wechselte, wie irgendsoein Progrock-Song der 1970er, nur ohne dessen gleich mitgedachtes Kiffer-Publikum; die perlenden Klavier- und Gitarrensoli in „For Me This Is Heaven“, die sich spiegelten und vereinten wie eine Beethoven-Sonate, und natürlich der mehr als 16-minütige closer „Goodbye Sky Harbor“.

Ich kenne kein anderes Album, dessen Lyrics so gut in die Zeit gepasst hätten, in dem ich es fast jeden Tag gehört habe, ohne es zu merken. Fast jeder Song enthält mindestens eine Zeile, die ich mit Edding (oder wenigstens Bleistift) auf die Schultische hätte schreiben können, aber erst jetzt, mehr als 20 Jahre später, erfasse ich beim Hören, was uns die Band damals mitteilen wollte. Wie die Texte das Konzept „Emo“, schon Jahre vor My Chemical Romance und Fall Out Boy, auf eine Art ausreizten, die in der Rückschau bis an die Grenze der Selbstparodie reicht. Wie sehr dieses Album nur am Ende eines in jeder Hinsicht einzigartigen Jahrzehnts erscheinen konnte, etwa in einem Song, der sich explizit mit der Todsünde der so auf Authentizität bedachten 1990er Jahre beschäftigt, dem sell-out („Your New Aesthetic“).

Womöglich liegt irgendein tieferer Sinn in dem absurden Unterhaltungsindustrieprozess, der dafür sorgte, dass uns „Clarity“ nicht schon 1999 vor die Füße fiel, sondern wir bis 2001 darauf warten mussten. In der Rückschau, die ja vieles umdeutet und in sogenannte Narrative zwängt, war „Clarity“ jedenfalls der zwingende Soundtrack zu dem einen, letzten sorgenfreien Sommer: fast jedes Wochenende saßen wir am Rheinufer, machten illegale Lagerfeuer und hörten betont bedeutungsvolle Musik. Mindestens einmal im Monat waren irgendjemandes Eltern weg, was in einer sogenannten Stumrfrei-Party resultierte. „Unglücklich verliebt“ war die Default-Einstellung bei fast allen. Mein Sony-Walkman und die daran angeschlossenen In-Ear-Kopfhörer waren Teil meines Körpers.

Und Jim Adkins und Tom Linton sangen sich die Seele aus dem Leib:

When the time we have now ends
When the big hand goes round again
Can you still feel the butterflies?
Can you still hear the last goodnight?

Am 20. August begann dann für uns das letzte Schuljahr und drei Wochen später krachten die Flugzeuge ins World Trade Center und ins Pentagon. Aber das ist die Geschichte des Nachfolge-Albums „Bleed American“.

Jimmy Eat World – Clarity
(Capitol Records; 23. Februar 1999/29. Januar 2001)
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Musik

Neue Musik von Joy Denalane, Philine Sonny, Sincere Engineer, The Libertines

Es sind anstrengende Zeiten, aber Lukas sagt, mit ein bisschen Sonne und viel Musik wird das allermeiste ein bisschen besser. Deswegen gibt es heute energetischen Indierock von Bilbao, anrührenden Soul von Joy Denalane, Indiepop von Philine Sonny, ein ordentliches Brett von Sincere Engineer und mehr!

Und dann wollen wir noch wissen, was Eure Songs, Acts und Alben des Jahres 2023 sind! Schreibt uns eine E-Mail oder bei Instagram oder Facebook!

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Alle Songs:

  • Bilbao – Calling
  • Joy Denalane feat. Ghostface Killah – Happy
  • Philine Sonny – Drugs
  • Adam Melchor – Garment Bag
  • Paenda – Get Tough
  • The Last Dinner Party – My Lady Of Mercy
  • Sincere Engineer – California King
  • The Libertines – Run Run Run

Shownotes:

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Politik Musik

US-Bands auf Harte-Tour

Krieg sei Gottes Weg, den Amerikanern Geographie beizubringen, hat Jon Stewart mal in der „Daily Show“ gesagt. Dass es nicht genug wäre, die Lage und Umrisse irgendwelcher Länder auf einer Weltkarte wiederzufinden, müssen gerade einige US-Bands lernen. Wie das dann halt so oft der Fall ist: auf die harte Tour.

Die von mir immer noch sehr verehrten Killers haben am Dienstagabend in Batumi an der georgischen Schwarzmeerküste gespielt. Wie es Bands manchmal tun, holten sie für den Song „For Reasons Unknown“ einen Fan auf die Bühne, der bei dem Lied Schlagzeug spielen sollte. Sänger Brandon Flowers hatte wohl eine gewisse Vorahnung, als er ins Mikrofon sprach: „We don’t know the etiquette of this land but this guy’s a Russian. You OK with a Russian coming up here?“

[Video bei Twitter anschauen.]

Man könnte es als nahezu klassische amerikanische Unbedarftheit beschreiben, in einem Land, das zu 20 Prozent von Russland besetzt ist, mit der Verve eines Ferienclub-Animateurs zu fragen, ob es okay sei, einem Staatsbürger der Besatzungsmacht eine buchstäbliche Bühne zu bieten.

Offenbar nach dem Auftritt des Russen versuchte sich Flowers an einem völkerverbindenden Appell, indem er das Publikum fragte, ob es den Mann nicht als seinen „Bruder“ akzeptieren könne, und mit einer Mischung aus ca. zwei Drittel Unverständnis und einem Drittel Benzin nachhakte: „We all separate on the borders of our countries? Am I not your brother, being from America?”

Ein weiteres Video bei Twitter zeigt recht beeindruckend, wie die Stimmung in der Arena hin und her kippt.

Das Publikum verließ offenbar in größeren Teilen die Black Sea Arena, die Band spielte das Konzert aber zu Ende — wobei sich die durch „For Reasons Unknown“ schon anmoderierte Ironie in den folgenden Titeln „Runaway Horses“ und „Runaways“ endgültig Raum brach.

Nun kann man natürlich darüber diskutieren, ob es in Ordnung ist, einen Mann auszubuhen, von dem man außer seiner Staatsbürgerschaft nichts weiß — dies aus dem wohl temperierten, ungefährdeten Wohnzimmer in Deutschland oder den USA zu tun, wäre aber wohlfeil. Als die russische Sängerin Polina Gagarina 2015 beim ESC in Wien ausgebuht wurde, als ob sie persönlich im Jahr zuvor die Krim annektiert hätte, konnte man das mit einiger Begründung ungerecht finden — aber eigentlich auch nur, weil es in Österreich geschah und nicht in der Ukraine oder in Georgien.

Dass er mit seinem theoretisch vorbildlich humanistischen „Sind wir nicht alle Brüder und Schwestern?!“-Vortrag in einem teilweise besetzten Land praktisch leider die intellektuelle Flughöhe von „Jetzt stimmt doch endlich Friedensverhandlungen zu!“-Appellen von einigen deutschen Kulturszenefiguren, AfD-Mitgliedern und Sahra Wagenknechts an die Adresse der Ukraine (also: unterhalb des Radars des Faktischen) gestreift hatte, ist Flowers immerhin schnell aufgefallen. Am Mittwoch veröffentlichte die Band ein Statement auf Twitter (oder wie der Bums jetzt heißt), in dem die Band ihr Bedauern ausdrückte:

The Killers bei Twitter: Good people of Georgia, it was never our intention to offend anyone! We have a longstanding tradition of inviting people to play drums and it seemed from the stage that the initial response from the crowd indicated that they were okay with tonight

(Bonuspunkte für die sonst bei öffentlichen Abbitten eher selten anzutreffende Gabe, einerseits auf fehlende Absicht zu verweisen, sich andererseits aber trotzdem zu entschuldigen — und zwar ohne einen blöden Zusatz wie „sollte sich jemand betroffen fühlen“!)

Den Lernprozess noch vor sich haben Imagine Dragons, die lustigerweise wie die Killers aus Las Vegas, Nevada kommen, angeblich ähnliche Musik machen, für mich aber eine der schlimmsten Bands der Welt sind. Ihre Musik soll hier aber keine Rolle spielen, denn sie haben ganz anderen Ärger an der Backe: Serj Tankian, Sänger der armenischstämmigen amerikanischen Rockband System Of A Down, hat sie öffentlich aufgefordert, ihr für September geplantes Konzert in der aserbaidschanischen Haupstadt Baku abzusagen.

Tankian, der auch schreibt, die Band zunächst direkt kontaktiert zu haben (auch hier: Bonuspunkte für anständiges Verhalten!), führt in seinem Facebook-Post aus, dass Aserbaidschan (genauer: das „petro-oligarchic dictatorial regime“ des Landes, eine rundherum angemessene Formulierung) im Gebiet Nagorny Karabach, dessen Zugehörigkeit zu wahlweise Armenien oder Aserbaidschan seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten umstritten ist, gerade einen Völkermord an den dort lebenden Armenier*innen verübe: Die Menschen sollen systematisch und buchstäblich ausgehungert werden; seit Juli darf nicht mal mehr das Rote Kreuz zur humanitären Hilfe in die Region (mehr zu der aktuellen Lage hier). Dabei verweist Tankian auch auf eine Online-Petition, die die Band zum Umdenken bewegen soll.

Auch hier könnte man jetzt über das Für und Wider einer solchen Petition sprechen: Man könnte sich auf die Position zurückziehen: „Don’t mix pop with politics“. Man könnte auf Bruce Springsteen in Ost-Berlin verweisen oder westliche Rockbands, die in den 1980er Jahren in der Sowjetunion gespielt haben. Aber auch hier wäre das einzig passende Adjektiv wieder: „wohlfeil“. Alles, wirklich alles, was an öffentlichkeitswirksamen Ereignissen in Aserbaidschan geschieht, kommt dem Regime um Machthaber Ilham Alijev zugute — jedes Konzert von Rihanna oder Shakira, jedes Autorennen, jedes international bedeutsame Fußballspiel, jede sonstige Sportveranstaltung. Und natürlich auch ein wohlwollender Empfang beim deutschen Bundeskanzler.

Aserbaidschan, 2012

Ich war vor elf Jahren in Baku, als die Lage im Land schon sehr, sehr schlimm war — und alle, die sich mit der Situation dort auskennen, sagen, dass alles seitdem noch viel, viel schlimmer geworden ist. Es tut mir leid für die Menschen im Land, die ich als wahnsinnig gastfreundlich und stolz erlebt habe, und ich wünsche ihnen alle Kraft, um die Verhältnisse in ihrem Land zu ändern (and the choir goes: „wohl-feil!“), aber angesichts des Elends der Armenier*innen in Nagorny Karabach scheint mir der Verzicht auf ein Rockkonzert mehr als akzeptabel. Und Imagine Dragons könnten ihre Popularität nutzen, um auf die Missstände im Land aufmerksam zu machen.

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Wie der Scorpions-Song

Man vergisst das angesichts immer neuer Verfahren gegen Donald Trump, angesichts von sich überschlagenden und ineinander verkeilender Krisen, schnell, aber es gab mal einen US-Präsidenten, der Barack Obama hieß. Sein (erfolgreicher) Wahlkampf 2008 gründete unter anderem auf dem von Bob, dem Baumeister, entlehnten Slogan „Yes, we can“, der als Mem eine zeitlang die digitale und vor allem analoge Welt beherrschte.

Bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ haben sie ein gutes Gedächtnis (oder Archiv), denn so sah am Montag der Sportteil aus:

Grafik in der F.A.Z.: „Yes we Kane?“

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Gesellschaft Fernsehen

Wo Hafer und Korn verloren sind

In den letzten Wochen ging ein kurzes Video viral, das die beiden Medienpersönlichkeiten Markus Lanz (* 1969) und Richard David Precht (* 1964) auf dem „Kongress Zukunft Handwerk“ zeigt — ansonsten aber ganz in ihrem Element, der gegenseitigen Zustimmung:

Lanz: „[…] so ‘ne gefühlige Gesellschaft geworden. Ja, so ‘ne Hafermilch-Gesellschaft, so ‘ne Guavendicksaft-Truppe, die wirklich die ganze Zeit auf der Suche nach der idealen Work-Life-Balance ist.“

[Schnitt.]

Precht: „Also, ich würde sogar noch etwas radikaler sein. Ich würde sagen: In der Generation meiner Eltern, erst recht meiner Großeltern, haben sich 90 Prozent aller Menschen, wenn sie gearbeitet haben, die Sinnfrage gar nicht erst gestellt. Jetzt sieht es natürlich so aus, dass nahezu alle jungen Menschen ins Leben gehen unter der Vorstellung, das Leben ist ein Wunschkonzert. Was ist die Folge? Ja, Du fängst was an und beim ersten leisen Gegenwind denkst Du: Nee, nee, das war das Falsche; schmeißt die Flinte wieder ins Korn.“

Dieser Ausschnitt hat zu einer ganzen Reihe öffentlicher Äußerungen geführt, hier ist die nächste:

Ich habe natürlich nicht den ganzen Auftritt der beiden gesehen, denn wenn ich zwei Männer sehen will, die einander, vor allem aber sich selbst, geil finden, gucke ich mir weichgezeichnete Schwulen-Pornos an.

Als erstes muss man Lanz vermutlich dankbar sein, dass er nicht von „Algarven-Dicksaft“ gesprochen hat.

Dann muss man anerkennen, dass er seinen Barth ziemlich genau studiert hat. „Hafermilch“ ist in gewissen Kreisen schließlich das, was „Schuhgeschäft“ in anderen ist: eine Abkürzung zum Gelächter, die mechanische Auslösung eines Reflexes anstelle einer ausgearbeiteten Pointe. Der Dumme August tritt dem Weißclown in den Hintern und Grundschulkinder quieken entzückt auf — wobei wir noch klären müssen, wer in diesem Ausschnitt eigentlich welche Rolle einnimmt (ich persönlich würde sagen: Es gibt außerhalb von Tierquälerei im Circus nichts Schlimmeres als den Weißclown, von daher sind einfach beide einer).

Ich möchte eigentlich nicht den gleichen Fehler begehen wie Lanz, Precht und die Leute, die ihnen zustimmen, und gleich ad hominem gehen. Nur: So viel anderes als ihre Persönlichkeiten (oder zumindest ihre öffentlichen personae) haben die beiden ja gar nicht zu bieten. Beide wirken wie die Personifizierungen des Aphorismus (und falschen Karl-Kraus-Zitats), wonach bei niedrig stehender Sonne der Kultur auch Zwerge lange Schatten würfen. Sie sind – ob aus Zufall, Kalkül, Patriarchat oder schlichtem Versehen – im Laufe der Zeit zu dem geworden, was sich sprichwörtliche Durchschnittsdeutsche unter einem Journalisten und einem Philosophen vorstellen. Schon allein das ist ungefähr so absurd, als ob diese Prototypen in den 1990er Jahren mit Hans Meiser und Helmut Markwort besetzt worden wären.

Wenn man sich den Ausschnitt ganz genau anguckt, wird man den Eindruck nicht los, dass der Sit-Down-Comedian Lanz die Begriffe „Hafermilch-Gesellschaft“ und „Guavendicksaft-Truppe“ von langer Hand vorbereitet hat (oder vorbereiten hat lassen) und das stolze Grinsen unterdrücken muss, als sie beim Publikum den erhofften Erfolg erzielen. Er ist da ganz wie in seiner Fernsehsendung: wahnsinnig gut vorbereitet und deshalb so natürlich wie ein Versicherungsmakler kurz nach Beginn der Ausbildung. Es ist mir ein Rätsel, wieso Annalena Baerbock ständig vorgeworfen wird, wie eine „Schülersprecherin“ aufzutreten, Markus Lanz aber immer so eilfertig rumamthoren darf, ohne dass seine Gesprächspartner*innen ihn einfach anschreien (bzw. natürlich kein Rätsel, sondern ein Patriarchat).

„Hafermilch“ ist dabei das, was „Sojamilch“ vor zwölf Jahren war und davor „Latte Macchiato“: ein angeblich suspektes Getränk, das von Menschen getrunken wird, die man irgendwie ablehnt.

Schon diese Milch-Obsession schreit ja eigentlich direkt nach einer Freudianischen Einordnung — gerade bei einem Mann mit so einer Kondensmilch-Mentalität wie Lanz. Da will man direkt kontern: „Echte Männer sind für mich nur die, die von einer Wölfin gesäugt und aufgezogen wurden!“ Oder: „Wenn Du morgens um fünf aufstehst, um oben auf der Alm die Kühe zu melken, können wir über meinen Hafermilch-Konsum sprechen, aber ansonsten sei einfach still!“ Unlustiger kann’s eigentlich nur noch werden, wenn als nächstes jemand sagt: „Bielefeld gibt’s ja gar nicht!“

Humortheoretisch steht die Hafermilch dabei in der Tradition des Dinkel-Bratlings, mit dem Komiker*innen in den 1980er und 90er Jahren reüssieren konnten. Man könnte jetzt erwidern, dass vegetarische oder vegane Ersatzprodukte im Laufe der Jahrzehnte eine Entwicklung durchgemacht haben, die man auch dem deutschen Humor gönnen würde, aber da würde man schon wieder den grundsätzlichen, kapitalen Fehler begehen und sich in ein argumentatives Gespräch stürzen, wo von der Gegenseite nun wirklich keines gewünscht ist.

Lanz hat aber nicht nur seinen Barth studiert, sondern auch seinen Schmidt: Der einstige deutsche Groß-Humorist Harald Schmidt, dessen Lebenswerk man auch noch mal neu betrachten müsste, seit man weiß, dass es relativ unmittelbar zu Jan Böhmermann geführt hat, war 2019 in einem ORF-Interview auffällig geworden, in dem er moderne Väter als „Familientrottel“ bezeichnete (damals sehr schön dokumentiert und gekontert von Martin Benninghoff im F.A.Z.-Familienblog). Wenn Schmidt von „Daddy Weichei“ spricht und Lanz mit hörbarer Distanzierung von „Work-Life-Balance“, wüsste man gerne, was deren Kinder dazu sagen — und hat den Verdacht, dass es interessanter sein könnte als das, was ihre Väter seit Jahren so von sich geben.

Auch eine Umfrage in Prechts Familie wirkt verlockend: Vielleicht hätten Eltern und Großeltern „die Sinnfrage“ ja doch ganz gerne mal gestellt? Ich hab sicherheitshalber mal in der Wikipedia nachgeguckt, in was für Verhältnissen der Mann aufgewachsen ist:

Sein Vater, Hans-Jürgen Precht, war Industriedesigner bei dem Solinger Unternehmen Krups; seine Mutter engagierte sich im Kinderhilfswerk Terre des hommes. Richard David Precht hat vier Geschwister; zwei davon sind vietnamesische Adoptivkinder, die seine Eltern 1969 und 1972 als Zeichen des Protests gegen den Vietnamkrieg aufgenommen haben.

Okay, das hätte ich nach der Anmoderation nicht erwartet. (Bonustrack des Wikipedia-Eintrags: Die Antwort auf die Frage, wie man sich eigentlich das Adjektiv „selbstgefällig“ bildlich vorzustellen habe.) Irritierender ist aber noch, dass Precht, der ja gerne als „Philosoph“ wahrgenommen werden will, positiv hervorhebt, dass niemand „die Sinnfrage“ gestellt habe. (Auch das kann natürlich wieder Sinn ergeben: Wenn in seiner Familie wirklich nicht viel gedacht worden wäre, hätte er mit dem bisschen, was er so an Selbstgedachtem präsentiert, natürlich ordentlich auftrumpfen können.)

Eigentlich sollte man Mitleid haben mit Menschen, die so denken. Die gesellschaftlichen Fortschritt nicht als solchen begreifen, sondern als Degeneration. Die eine Art Stockholm-Syndrom entwickelt haben, gegenüber der „Leistungsgesellschaft“ und gegenüber ihren Vorfahren, die sich oft genug derart abgeracktert haben, dass am Ende nicht nur keine balance übrig war, sondern mitunter auch gar kein life mehr. Wer so denkt, befindet sich bereits weit unten auf einer abschüssigen Ebene, die mit Schmierseife eingerieben ist und hinführt zum Satz: „Manchmal haben mir meine Eltern auch eine verpasst, aber das hat mir auch nicht geschadet.“

Von meinem Urgroßvater ist überliefert, dass er als Kind bei Tisch nur sprechen durfte, wenn er angesprochen wurde, und Vater und Mutter zu Siezen hatte. Ihre eigenen Kinder erzog diese Generation dann auf Grundlage des nationalsozialistischen Erziehungsratgebers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, deren größte Sorge es war, dass das Kind „verweichlicht“ — ein Buch, das auch in der Nachkriegszeit noch als Klassiker der Erziehungsliteratur galt, ehe es vom nächsten Bestseller abgelöst wurde, der wieder propagierte, dass man Kinder am Besten alleine lässt, wenn sie Nähe brauchen. Naheliegend, dass man, wenn man so aufgewachsen ist, „gefühlig“ für ein Schimpfwort hält.

Es ist eine Sache, wenn man sich in der Vergangenheit geirrt hat: Als die ersten Zigaretten aufkamen, konnte man allenfalls ahnen, wie schädlich Rauchen sein würde (damals mutmaßlich auch nicht schädlicher als die normale Atemluft einer Industriestadt); Atomstrom galt mal als Versprechen einer „sauberen Zukunft“ und Heroin war mal für kurze Zeit das Wundermedikament der Firma Bayer. Aber eine Idee, die sich im Nachhinein als schlecht herausgestellt hat, noch zu feiern, dafür bedarf es schon einiger Energie, die man besser anderweitig investiert. (Oder man wählt am Ende doch Friedrich Merz zum Parteivorsitzenden.)

Es sind schöne Erwiderungen auf Lanz und Precht geschrieben worden, zum Beispiel von Birgitta Stauber-Klein (Ein Doppelname! Feiertag für alle Hobby-Komiker!) in der „WAZ“ und von Christian Spiller im Sportteil von „Zeit Online“. Aurel Merz hat ein schönes, kurzes Video auf einem Junge-Leute-Portal namens TikTok gepostet. Die Begriffe „Boomer“ (Lanz ist streng genommen Generation X, aber ich sehe bei ihm auch keine Verbindung zu Ethan Hawke) und „deutsch“ tauchen immer wieder auf, aber auch „Generationenkonflikt“.

Und tatsächlich gibt es ja genug ältere Herren, die es als Aufmerksamkeitsgarantie (der Begriff „Alleinstellungsmerkmal“ verbietet sich komplett) erkannt haben, onkelhaft über jüngere Menschen und deren Themen sprechen. Sie gefährden dabei offenbar gerne den eigentlich positiven Ruf, den sie bei den jüngeren Generationen hatten, um noch eine vielleicht letzte Runde Schulterklopfen bei ihren Altersgenossen zu ernten. (Ich verzichte in diesem Absatz auf gendergerechte Sprache — nicht, um die Nerven der Angesprochenen zu schonen, sondern weil es eigentlich fast immer Männer sind. Aus Gründen der Ausgewogenheit möchte ich trotzdem sagen: Alice Schwarzer, Gloria von Thurn und Taxis.) Man kann nun milliardenfach daran erinnern, dass Satire sich ja „eigentlich“ immer gegen „die da oben“ richte, aber für Harald Schmidt, Dieter Nuhr (und im erweiterten Sinne auch: Thomas Gottschalk, Jürgen von der Lippe und am Ende alle Leute, die unter einem Artikel bei Welt.de kommentieren) sieht es so aus, als sei das, was sie irgendwie falsch, lächerlich oder bedrohlich finden, gesamtgesellschaftlich dominant.

Wenn man sich durch bestimmte Gegenden deutscher Großstädte bewegt, wird man dort halt auf „Mitt- bis Enddreißiger mit Struwwelpudelmütze“ (Schmidt; ich fühle mich ertappt, kann damit aber gut umgehen) oder eben „nahezu alle jungen Menschen“ (Precht) treffen, die dort vor allem deshalb Zeit mit ihren Kindern verbringen, weil es ihnen finanziell möglich ist und sie die oft zu erwartenden Widerstände von Seiten der Arbeitgeber auszuhalten bereit sind. Aber schon dieser Eindruck ist ein Zerrbild: 2022 haben Frauen durchschnittlich 14,6 Monate Elternzeit beantragt, Männer nur 3,6. Schon ein paar Straßen weiter kann es ganz anders aussehen. (Wobei ich da auch vor allzu vereinfachenden Gedanken warnen möchte: Vielleicht ist es in einem eher linken, akademischen Milieu weiter verbreitet, auf die eigenen Bedürfnisse und – vor allem – die seiner Kinder zu achten, aber ich erlebe es regelmäßig im Fußballverein des Kindes, dass andere Eltern, die man der „Arbeiterklasse“ zurechnen würde, ebenfalls sehr sensibel auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und die Leistung auf dem Platz nicht im Vordergrund steht. Mario Basler würde es hassen.)

Aber klar: Wenn man in ein urbanes Café geht und da Eltern sitzen, die ihre Kinder nicht durchgehend zurechtweisen, und man dazu vielleicht noch jede Menge Witze zu anti-autoritärer Erziehung (schlag den Unterschied nach, Jürgen!) im Stehsatz hat, sieht man mit jedem Hafermilch-Kaffee den Untergang der Welt – wenn nicht gar den der deutschen Wirtschaft – auf sich zukommen. So, wie die Leute, die mit der Straßenbahn zum Jobcenter fahren, um dort entwürdigende Fragen über sich ergehen lassen zu müssen, auch irgendwann denken, dass das ganze Land voller „Ausländer“ ist, weil sie in ihrem Alltag eben vor allem Menschen sehen, die „anders“ ausschauen, und sehr wenige Rechtsanwälte, die mehrere Mietshäuser haben, BMW fahren und FDP wählen.

Lanz’ Vortrag in dem Ausschnitt erinnert nur an eine unterdurchschnittliche Büttenrede, Prechts verallgemeinerndes „Wunschkonzert“-Geblubber macht mich wirklich wütend. Dafür habe ich zu viele Freund*innen immense Herausforderungen und Tiefschläge überwinden sehen, um mir diese Pauschal-Beleidigungen eines Millionärs anzuhören, der in jungen Jahren sicherlich oft genug gefragt wurde, ob er eigentlich studiere, um dann Taxi zu fahren. Fehlt wirklich nur noch, dass auch er von „Verweichlichlung“ spricht!

Die These, dass „früher“ alles besser gewesen sei, vor allem der Journalismus, wurde nahezu zeitgleich zum Hafermilch-Eklat von einem früheren Journalisten widerlegt, der sich im Ruhestand offenbar so sehr gelangweilt hatte, dass er sich für eine letzte Runde Applaus von Seiten der AfD und anderer Reaktionär-Katastrophen noch einmal in die Manege erbrach. Ich bin ja grundsätzlich bereit, über alles zu diskutieren, aber wenn im zweiten Absatz das Adjektiv „linksgrunzend“ auftaucht wie in einem „Welt“-Leser-Kommentar, was für eine Diskussionsgrundlage soll ich da noch annehmen? Dafür ist mir dann, Hashtag Work-Life-Balance, wirklich meine Lebenszeit zu kostbar.

Und dann ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass so ein bisschen Generationenkonflikt vielleicht gar nicht so schlecht ist — wie soll man denn sonst als Gesellschaft weiterkommen? Ich lese gerade endlich mal „Die Palette“ von Hubert Fichte; ein Buch, das 1968 erschienen ist. Und dann fiel mir auf: Dieses mystische Jahr 1968 ist vom Kriegsende so weit entfernt wie wir heute vom Jahr 2000. Das ist einige Krisen (9/11, Finanzkrise, Ukraine-Krieg, COVID-19-Pandemie) her, aber erscheint selbst mir, der ich damals 16 war, gar nicht so weit weg. Die 20-Uhr-„Tagesschau“ vom 14. August 2000 wurde von Jens Riewa verlesen und ihre Themen waren: das russische Militär, ein beleidigter Altkanzler, Rechtsextremisten im Internet, besserer Mobilfunk, Umweltschutz und Nordkorea. (Okay, das war jetzt der Pointe wegen etwas vereinfacht. Es ging um den Untergang des russischen Atom-U-Boots „Kursk“, die Nicht-Teilnahme von Helmut Kohl an der Feier zum Tag der deutschen Einheit, ein geplantes NPD-Verbot, die Versteigerung der UMTS-Lizenzen, die Schließung einer Bleischmelze im Nordkosovo, die Verbindungsbüros zwischen Nord- und Südkorea und noch einige andere Themen wie die vorzeitige Haftentlassung des Kaufhaus-Erpressers „Dagobert“.)

Wenn Menschen und Medien heute – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Anekdote wie dem Auftritt von Lanz und Precht – behaupten, eine solche gesellschaftliche Spaltung habe es noch nie gegeben, bestätigt das einmal mehr meine These, dass wir in Deutschland mehr Geschichtsunterricht brauchen: Stichwort Wiederbewaffnung, Stichwort 1968, Stichwort RAF, Stichwort Umweltbewegung. Oder einfach überhaupt mal: Rock’n’Roll! (Oder, wie Thomas Gottschalk es nennt: „Noch richtige Musik.“) Das waren noch Konflikte, die Familien auseinandertrieben!

Deutschland ist in 16 Jahren unter Angela Merkel so durchschnittlich und lauwarm geworden, dass es manchen Leuten als linksradikal gilt, die Umbenennung fragwürdiger Straßennamen zu fordern, und als rechts, Fleisch zu essen. Auch, weil jede Nischen-Position (von denen es immer schon viele gab) heute medial aufgeblasen und zur Glaubensfrage hochphantasiert wird. Und war nicht meine Generation, die Generation Y, am Ende viel zu nett? Da ist es doch gut, wenn die Generation Z jetzt mal ein bisschen auf den Tisch haut! Für Leute wie Lanz, Precht oder Schmidt sind wir wahrscheinlich eh alle eine uniforme, irgendwie „jüngere“ Masse, die in geschlechtsneutralen Badezimmern mit Asterisken und Hafermilch die deutsche Wirtschaft schwächen.

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Sport

Du und Dein VfL

Trainingsauftakt beim VfL Bochum

Heute Vormittag: Trainingsauftakt beim VfL Bochum. Viel weiter kannst Du im Profifußball nicht von Messi, Ronaldo, Mbappé und den Scheich-Milliarden entfernt sein. Dafür sind die Fans mit ihrer ganzen Familie ganz nah dran, kaufen die (wirklich sehr schönen) neuen Trikots und essen Currywurst.

Vor der dritten Bundesliga-Saison in Folge haben sich die Erwartungshaltung der Anhänger*innen und das Selbstverständnis der Offiziellen ein bisschen verschoben: Diesmal soll es nicht mehr nur um den Klassenerhalt gehen, ein wenig weiter oben erscheint denkbar. Von allen Ruhrgebietsvereinen kommt der VfL jedenfalls mit dem größten Rückenwind aus dem letzten Spieltag der letzten Saison.

Beim Trainingsspiel liefern die rund 1.500 Fans schon mal einen Vorgeschmack, wie es mit 28.000 klingen wird. Von den Neuverpflichtungen ist noch nicht ganz so viel zu sehen, einige Fans müssen die neuen Spieler auch erstmal googeln, bevor sie diese um ein Autogramm bitten, aber: Hey, es geht ja gerade erst los!

Die vor vier Jahren noch so gefürchteten und chronisch unzufriedenen Fans sind optimistisch — was sie natürlich trotzdem nicht davon abhält, auf der Tribüne rumzumeckern. Doch trifft es heute eher die eigenen Kinder oder abwesende Dritte.

Quasi parallel hat Herbert Grönemeyer für den 12. Juni 2024 sein erstes Konzert im Ruhrstadion seit neun Jahren angekündigt. Selbst, wenn es für den VfL nicht so rund laufen sollte: Die Relegationsspiele sind bis dahin über die Bühne gegangen.

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Film Fernsehen

Streaming-Tipps Juni 2023

Bevor ich mich mutmaßlich bald bei Netflix abmelde, habe ich mal ein paar Sachen von meiner „Das wolltest Du Dir irgendwann vielleicht mal angesehen haben“-Liste geschaut: Den Film „Die Schlacht um die Schelde“, die zweitteuerste niederländische Produktion aller Zeiten, hatte ich aus zwei Gründen sehen wollen: zum einen, um mein Niederländisch zu trainieren, zum anderen, weil die titelgebende Schelde bei Walcheren in die Nordsee mündet, also dort, wo ich seit Jahrzehnten am Liebsten meine Urlaube verbringe. Die Schlacht an der Scheldemündung diente der Befreiung des Hafens von Antwerpen, den die Westalliierten für ihre Nachschubversorgung brauchten, und war insofern eine der vielen entscheidenden Schlachten des 2. Weltkriegs. Zwischen „Der Soldat James Ryan“-ähnliche Schlachtenszenen erzählt der Film eher kleine, alltägliche Dramen, die in keinem Geschichtsbuch vorkommen würden, von denen man aber annehmen muss, dass es sie tausendfach gegeben hat. Unter anderem wird der Topos „charismatischer Nazi“ von Justus von Dohnanyi hier noch mal sehr gruselig neu mit Leben gefüllt. Tatsächlich wird in dem Film weniger Niederländische gesprochen als Deutsch und Englisch (in der deutschen Synchronfassung sprechen mutmaßlich wieder alle die ganze Zeit Deutsch, weil das halt immer so ist), aber ich fand ihn schon recht beeindruckend und bedrückend.

Ebenfalls bei Netflix läuft die 40-minütige Dokumentation „The Martha Mitchell Effect“. Martha Mitchell war die Ehefrau von John N. Mitchell, dem Wahlkampfmanager Richard Nixons und späterem US-Justizminister, und als der Watergate-Skandal begann, begann sie sofort, Präsident Nixon selbst zu beschuldigen. Martha Mitchell wurde von den mächtigen Männern in Washington diskreditiert und als alkoholkranke mad woman abgestempelt. Ihr Ruf und ihre Ehe waren ruiniert, sie starb bald darauf — und fast alle Vorwürfe, die sie erhoben hatte, stellten sich im Nachhinein als wahr heraus (die anderen gelten als noch nicht bestätigt). Auch dieser Film ist beeindruckend und bedrückend und auch handwerklich sehr gut gemacht.

Auch der Dokumentarfilm „Circus Of Books“ läuft auf Netflix. Die Regisseurin Rachel Mason erzählt hier die Geschichte ihrer Eltern Karen und Barry, die als jüdisches Hetero-Paar einen der bedeutendsten Läden für schwule Literatur und Pornografie in LA betrieben haben. Wie es dazu kam, ist absurd; wie sich konservative Politik und die AIDS-Epidemie auf die Arbeit und das Leben der Familie auswirkte, ist erschütternd; und welche Folgen das Internet und Dating Apps für das Geschäft haben, kann man sich ausmalen. Dies alles aus nächster Nähe von der Familie geschildert zu bekommen, ist sehr beeindruckend.

Bei Disney+ schließlich habe ich „In & Of Itself“ gesehen. Ich hatte schon einiges darüber gehört, meist verbunden mit dem Hinweis, dass man nicht erklären könne, was das sei. Das stimmt. Formal ist es der Mitschnitt einer Show des Zauberers Derek DelGaudio, die 552 mal in einem kleinen Theater in New York City zur Aufführung gekommen war. DelGaudio zeigt darin Taschenspielertricks, er erzählt Teile seiner Lebensgeschichte und sorgt später für im vielfachen Sinne magische Momente. Es ist für Zauberei in etwa das, was „Nanette“ von Hannah Gadsby für Comedy ist: eine völlige Dekonstruktion und ein Sprung auf die nächste Daseinsstufe (und das exakte Gegenteil von den Ehrlich Brothers bzw. Mario Barth). Ich kann es leider auch nicht erklären, aber darum geht es ja: Im Sinne von Elisabeth Kübler-Ross bin ich recht schnell von denial zu acceptance gesprungen und habe gar nicht mehr versucht, zu verstehen, wie die Tricks funktionieren könnten. Ich war Fox Mulder: I want to believe. Selbst wenn Euch Zauberei gar nicht interessiert, solltet Ihr Euch „In & Of Itself“ anschauen! (Nicht zuletzt, weil es eine wahnsinnig spannende Erfahrung ist, von einer title card aufgefordert zu werden, sein Handy wegzulegen und alle Ablenkung zu unterlassen.)


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