Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat heute in einer – zugegebenermaßen schön bebilderten – Presseerklärung bekanntgegeben, wie ihr „Wort des Jahres 2024“ lautet: „Ampel-Aus“.
Gemeint ist damit das Scheitern der Bundesregierung aus SPD (rot), FDP (gelb) und Grünen (nun …), die im sogenannten Volksmund als „Ampel-Koalition“ oder schlicht als „Ampel“ bekannt war.
Nun zögere ich als studierter Linguist, die GfdS (nicht zu verwechseln mit dem „Verein Deutsche Sprache“, einer Art Vorfeld-Organisation der AfD) zu kritisieren, aber ich bin der Meinung, dass mit dieser Auszeichnung eine zunehmende Infantilisierung der Polit-Kommunikation gewürdigt und damit auch weiter vorangetrieben wird.
Bei dem legendär-öden Pressetermin in der Bayerischen Vertretung in Berlin, auf dem er Friedrich Merz mit einem mittel-enthusiastischen „Ich bin damit fein“ zum Kanzlerkandidaten der Union kürte, sprach Markus Söder mehrfach vom „Ampelschaden“, als sei er ehrenamtlicher Bürgermeister einer Kleinstadt, die über eine einzige Kreuzung verfügt. Dem Adjektiv „staatstragend“ kam der bayerische Ministerpräsident damit so nahe wie der Wachtmeister Dimpfelmoser, aber den würde Söders Kernzielgruppe, der Stammtisch (bzw. dessen Bewohner), wahrscheinlich auch nach zwei Maß Bier noch freundlich grüßen.
Die „Ampel“, das ist für Menschen, die auf Social Media gerne erklären, dass sie „selbst denken“, die Vorstufe zu „rot-grün-versifft“, zum „Kinderbuchautor“ Robert Habeck, zum müffeligen Namenswitz „Greta Thunfisch“: eine vermeintlich originelle Formulierung, die man irgendwo zwischen „Welt“-Kommentarspalte, Gabor Steingarts Lebenswerk und Facebook aufgelesen hat, die man als Erkennungszeichen für Gleichgesinnte vor sich herträgt und die ihre eigene Replik gleich mitbringt: „Okay, Boomer!“
„Ampelzoff“ war schon 2023 unter den „Wörtern des Jahres“ gewesen, was eine gewisse Fixierung auf Wörter der Duden-Kategorie „veraltend“ nahelegt (Kunden, die „zoffen“ kauften, interessierten sich auch für „pennen“, „funzen“ und „bumsen“), andererseits sprechen die meisten weiteren Begriffe aus den Top 10 nicht dafür, dass sich die Gesellschaft für deutsche Sprache an das Luther’sche Diktum hält, dem Volk aufs Maul zu schauen: „Klimaschönfärberei“, „kriegstüchtig“, „Rechtsdrift“, „generative Wende“, „SBGG“, „Life-Work-Balance“, „Messerverbot“, „angstsparen“ und „Deckelwahnsinn“ wirken jedenfalls nicht, als könnten sie – um mal ein beliebiges Wort zu verwenden, das 2024 tatsächlich viel zu hören war – das popular vote gewinnen.
Von Guido Westerwelle ist ein überraschend poetischer (auch Joachim Ringelnatz und Ernst Jandl sind Poesie) Moment überliefert, in dem er einmal erklärte: „Wir gehen in keine Ampel, Schwampel und andere Hampeleien sind mit uns nicht zu machen.“ Das ist allerdings so lange her, dass der Fußballverein, für den Kevin Kampl heute spielt, noch gar nicht gegründet war.
Die allererste Regierungskoalition der Bundesrepublik aus CDU/CSU, FDP und DP hatte keinen Spitznamen, der sich bis heute erhalten hätte, was auch daran gelegen haben mag, dass man die Farben der Deutschen Partei (schwarz-weiß-rot) jetzt vielleicht nicht mehr als unbedingt nötig hervorheben wollte. 1953 wurde diese Koalition noch um den Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten erweitert, wirklich in Erinnerung blieb aber eh nur der Bundeskanzler: Konrad Adenauer. Der konnte von 1957 bis 1961 alleine (also: mit absoluter Mehrheit für die Union) regieren und saß ab 1961 einer Koalition vor, die man heute „schwarz-gelb“ nennen würde (oder, für die Teilzeit-Komiker der Hauptstadtpresse: „BVB“), damals aber nicht, weil die FDP Gelb erst seit 1972 einsetzt. Entsprechend regierte sie mit der SPD zusammen auch als „sozial-liberale Koalition“, was heute geradezu rührend aussagekräftig wirkt, wo man derlei Inhaltsangaben nur noch in bizarren Schwundstufen wie dem „Gute-Kita-Gesetz“ begegnet. Die Regierungen von 1966-1969, 2005-2009 und 2013-2021, die aus Union und SPD bestanden, nannte man „große Koalition“, weil sie – zumindest anfangs – eine erhebliche Mehrheit der Abgeordneten abdeckte.
In den 1980er Jahren begann das Farbenspiel. Das hat wenig mit dem gleichnamigen Album von Helene Fischer zu tun, wohl aber mit ihrem Namensvetter Joschka. Einer der vielen ungeschriebenen Artikel meines Jahres hätte deshalb die Geschichte dieses Begriffs zurückverfolgen sollen (denn ich liebe wenig mehr an meiner journalistischen Arbeit, als mich stundenlang durch Archive zu wühlen, eine erstaunliche Menge Beifang mit meinen peers zu teilen und daraus hinterher einen Text zu schnitzen, bei dem die Redaktion kritisch eine Augenbraue hebt und sagt: „Das ist jetzt selbst für Deine Verhältnisse extrem nerdig!“), bis in die frühen 1990er Jahre und zu einem Mann namens Björn Engholm, der für kurze Zeit das war, was nach ihm viele waren: Der schnell vergessene Hoffnungsträger der SPD.
Vorbei die Zeiten wie im November 1992, als die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb:
Fertig ist sie, die ‘Ampelkoalition’, die wir deshalb in Gänsefüßchen setzen, weil wir uns unter diesem Gebilde technisch nichts vorstellen können.
Dass Naturwissenschaften im öffentlichen Diskurs eher eine Nebenrolle spielen, wissen wir spätestens seit der Covid-19-Pandemie, und zu den Dingen, die über Eure Vorstellungskraft gehen, gehört allenfalls eine Bobmannschaft aus, genau: Jamaika.
In der medialen Dauer-Erregung schon lang vergessen ist das Wort „Schwampel“ (für: „schwarze Ampel“), das Jörg Schönenborn am Wahlabend 2005 mit besorgniserrgendem Verve in den aktiven Wortschatz seiner Gesprächspartner*innen und Zuschauer*innen überführen wollte. Es klingt, als würde es etwas sehr, sehr Ekliges beschreiben — mutmaßlich das knorpelige Stück Fleisch, das man beim Mittagessen bei der „feinen“ Oma plötzlich im Mund hat und sich nicht auszuspucken traut (was, seien wir ehrlich, andererseits nah dran ist an dem, was man von einer schwarz-gelb-grünen Koalition erwarten kann).
Dann hat irgendjemand den Flaggen-Atlas seines Kindergartenkindes mit in irgendeine Redaktion gebracht und nach intensivem Studium und sicherlich tagelangen Konferenzen wurde beschlossen, fürderhin den Begriff „Jamaika-Koalition“ zu verwenden. Heute könnte man über die Gleichsetzung der Begriffe „schwarze Ampel“ und „Jamaika“ noch mal ganze post-koloniale, rassismuskritische Diskurse aufsperren, aber der Gelbe Wagen, er ist inzwischen in jeder Hinsicht weitergerollt, und es liegt eine feine Ironie darin, dass die Cannabis-Legalisierung eben nicht von einer Jamaika-Koalition beschlossen wurde. (Als Led Zeppelin einen Reggae-lastigen Song aufnahmen, nannten sie ihn „D’yer Mak’er“, was man [dʒəˈmeɪkə] aussprechen sollte, also wie den Inselstaat, was The Hold Steady in ihrem Song „Joke About Jamaica“ noch mal thematisieren, uns aber leider gerade nirgendwohin bringt.)
Der Flaggen-Atlas blieb in der Redaktion und erwies sich als praktisch, als schwarz-rot-grüne Regierungsbündnisse gebildet und benamt werden mussten: „Afghanistan“ hatte einen in vieler Hinsicht unglücklichen Beiklang (und nach Gras auch noch Opium in die politische Kommunikation einzuführen, hätte vielleicht auch merkwürdig gewirkt — eine „Kolumbien“-Koalition aus SPD, FDP und AfD scheint wenigstens erstmal ausgeschlossen), weswegen sich die Medien mehrheitlich auf „Kenia“ verständigten.
Die weiteren tektonischen Ereignisse in der Parteienlandschaft stellen Redaktionen und Parteien vor immer neue Probleme: Für schwarz-rot-lila hatte nichtmal mehr Sheldon Cooper eine Flagge parat, weswegen sich Berichte aus Thüringen nun um eine „Brombeer-Koalition“ ranken. Und anstatt dass irgendjemand mal innehält und sich (und bestenfalls auch andere) fragt, ob das nicht langsam alles ein bisschen albern wird, wird wahrscheinlich schon wertvolle Arbeitszeit mit der Frage verschwendet, was – zum Henker – eigentlich rot-grün-lila sein könnte oder schwarz-gelb-lila (Menschen mit Gastro-Erfahrungen wissen: Erbrochenes nach Weihnachtsmarkt-Besuch).
Angesichts der angeblichen Polarisierung der Gesellschaft (auch hier hilft ein Blick in Zeitungen von, sagen wir mal: 1968) und der damit einhergehenden Schwarz-Weiß-Einteilung bietet sich als nächste Eskalationsstufe vielleicht eine „Panda-Koalition“ an. Oder einfach, denn jetzt ist auch alles egal: eine „Koalalition“.
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Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber die letztenWochen und Monate waren für mich ein bisschen anstrengend. Dann kamen auch noch viele, viele Tage hinzu, an denen es nie richtig hell, aber vor allem früh wieder dunkel wurde, und das schlägt einem ja dann doch alles ein bisschen uncool aufs Gemüt.
Mir hilft in solchen Fällen immer Musik — vor allem natürlich die, die ich eh schon ewig kenne und die meine Laune verlässlich besser macht, aber auch neue. Und letztere hab ich Euch wieder zusammengestellt zu einem kleinen, hoffentlich feinen Mixtape:
Afro-Pop von Barny Fletcher, ein Strokes/Killers/Franz-Ferdinand-Crossover von The Privates aus Nashville, Dreampop von Georgia Gets By und meine Buddies vom Grand Hotel van Cleef sind diesmal mit einem Liebeslied auf Maya Hawke vom Shitney Beers vertreten.
Al Green (von dem ich ehrlich gesagt nicht wusste, dass er noch lebt) covert „Everbody Hurts“ von R.E.M., Blossoms aus England verwandeln „I Wanna Dance With Somebody“ von Whitney Houston in eine Indierock-Hymne und wer Thursday mag, wird bei Glasseyed aufhorchen.
Es gibt neue Songs von FKA twigs, Laura Marling und Vanessa Peters, zeitgenössische Klassik von Hannah Peel und Ben Folds, der sein erstes Weihnachtsalbum (acht neue, eigene Songs, nur zwei Cover-Versionen) mit dem phantastischen Titel „Sleigher“ veröffentlicht hat, nimmt uns auf einen Schneespaziergang mit seinem Hund Maurice mit.
Kurzum: Wenn Euch aus dieser Liste so gar nichts gefällt, weiß ich auch nicht weiter!
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Dieser Eintrag ist Teil 10 von bisher 10 in der Serie 1999
Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.
Natürlich hatte ich Dave Grohl als den „Schlagzeuger von Nirvana“ kennengelernt. Natürlich kannte ich die sensationell lustigen Videos zu „Big Me“ und „Learn To Fly“ seiner neuen Band Foo Fighters, auf die mich mein bester Freund aufmerksam gemacht hatte. Natürlich waren – neben The Wallflowers, Jamiroquai, Rage Against The Machine, Michael Penn, Green Day und Ben Folds Five – auch Foo Fighters 1998 auf dem Soundtrack zu Roland Emmerichs „Godzilla“ gewesen und zwei Jahre später – neben Ben Folds Five, Hootie & The Blowfish, Smash Mouth, Third Eye Blind und The Offspring – auf dem Soundtrack zum heute fast vergessenen Jim-Carrey-Film „Me, Myself & Irene“, der mich mit Wilco, Pete Yorn, Ellis Paul und Marvelous 3, vor allem aber mit den Songs von Steely Dan bekannt machte. Das Video zu „Breakout“, das im Sommerurlaub 2000 ständig auf MTV Europe lief, war ja sogar auf den Film abgestimmt.
Ich weiß wirklich nicht, warum es bis in den April 2002 gedauert hat, bis ich wusste, dass ich Foo-Fighters-Fan bin. Ich weiß aber noch sehr genau, wie ich zu dieser Zeit das Video zu „Next Year“ im Musikfernsehen gesehen habe (und das auch nicht zum ersten Mal) und plötzlich so angefixt war, dass ich den Song sofort als illegale MP3 herunterladen und tagelang auf Repeat hören musste. Ich habe sogar die Geburtstagskaffeetafel meiner Schwester verlassen, um zu R&K zu fahren und endlich das dazugehörige Album zu kaufen.
Zwei Tage später war unser letzter Schultag, in der Woche darauf die schriftlichen Abiturprüfungen und danach kam eine Zeit der großen Leere. Was sich anfangs noch wie Sommerferien und verdiente Freizeit nach so vielen Jahren Schule (and don’t get me started about Theodor-Heuss-Gymnasium Dinslaken again!) anfühlte und einer durchgängigen Party glich, füllte sich ganz schleichend mit der zunächst geleugneten Gewissheit, dass sich bald alles ändern würde: Die Mädchen würden zum Studium in andere Städte ziehen, die Jungs ihren Zivildienst beginnen und danach vermutlich auch die Stadt verlassen. Kinderzimmer würden verstauben und umgeräumt werden, Großeltern und Eltern sterben, Leben jetzt erst richtig beginnen. So jung kommen wir nicht mehr zusammen.
„There Is Nothing Left To Lose“ (der Titel schon!) war der perfekte Soundtrack zu dieser Zeit. Dave Grohl wusste, wie sich Abschiede und Umbrüche im Leben anfühlen, er konnte Melancholie in Wut verwandeln und umgekehrt. Es schien, als habe sich das Album extra zweieinhalb Jahre in meinem Blickfeld versteckt, um jetzt ganz und gar für mich da zu sein. Es war das dritte Album unter dem bescheuerten Projektnamen Foo Fighters, aber eigentlich das erste dieser Band als Band: Auf dem Debüt hatte Dave Grohl noch alle Instrumente selbst gespielt, die von ihm für das zweite Album zusammengestellte Band war schnell wieder zerbrochen (es hatte womöglich nicht geholfen, dass Grohl nahezu alle Spuren von Schlagzeuger William Goldsmith neu eingespielt hatte) und jetzt hatte er den Keller seines Hauses in Alexandria, Virginia zum Studio ausgebaut und mit seinem verbliebenen Bassisten Nate Mendel und Taylor Hawkins, dem Schlagzeuger aus der Band von Alanis Morissette, noch einmal ganz neu angefangen.
Wenn Du Schlagzeug lernen willst, hör Dir an, was Taylor Hawkins bei „Generator“, „Aurora“ oder „Next Year“ macht; wie seine Hände wirbeln und gleichzeitig überall zu sein scheinen; wie er Songs voran peitscht, ihnen, den anderen Instrumenten und vor allem Dave Grohls Stimme aber auch immer genug Raum zum Atmen lässt; wie er, nachdem er zwölf Takte einfach nur gerade einen tighten Beat geklopft hat, plötzlich für einen Sekundenbruchteil eine drum roll einflicht, die klingt wie ein auf der Stelle tänzelnder Boxer — und wie der nächste Schlag dann tatsächlich wie ein upper cut kommt, der Dich Sterne sehen lässt.
In Interviews und in seinem phantastischen Memoir „The Storyteller“ erzählt Dave Grohl immer wieder, dass „There Is Nothing Left To Lose“ sein persönliches Lieblingsalbum der Band ist; das, auf das er am stolzesten ist. Es ist eines der wenigen Alben, die ich mir zum Hundertsten Mal anhören kann und die ersten Takte sind immer noch so aufregend wie beim allerersten Hören: Der Opener „Stacked Actors“, der mit trocken knarzenden Gitarren und einem treibenden Schlagzeug beginnt, in den Strophen aber eher wie ein eleganter Steely-Dan-Song vor sich hin wippt. Das schwelgende „Aurora“, nach Ansicht der Band einer der besten Songs, den sie je aufgenommen haben. Das traurig schunkelnde „Ain’t It The Life“, der sich langsam aufrichtende Abschlusssong „M.I.A.“ und natürlich „Learn To Fly“, „Break Out“ und immer wieder „Next Year“.
Der Song ist so untypisch für die Foo Fighters, dass er auf dem ersten „Best Of“ nicht enthalten ist, obwohl er als Single veröffentlicht wurde. Musikjournalisten haben ihn mal als den einen Britpop-Song im Gesamtwerk der Band beschrieben und tatsächlich hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit „Whatever“ von Oasis. Noch heute hüpft mein Herz jedes Mal, wenn der Song auf dem Album bei 3:48 Minuten eigentlich schon zu Ende ist, aber mit dem zweitgrößten Drum-Break nach „In The Air Tonight“ zur Ehrenrunde ansetzt.
Als in den Morgenstunden des 26. März 2022 die Nachricht kam, dass Taylor Hawkins im Alter von nur 50 Jahren gestorben war, fühlte es sich an, als wäre jemand aus meinem Umfeld gestorben — nicht unbedingt ein Freund, aber jemand, den ich vom Sehen kannte, den ich von Anfang an mochte und mit dem ich immer mal ein Bier hätte trinken wollen. Natürlich ging ich als erstes ins Wohnzimmer und drehte die Anlage laut auf. Und natürlich war das Album, das ich hörte, „There Is Nothing Left To Lose“.
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Leute, ich sag’s Euch, wie’s ist: Es gibt Zeiten, die sind einfach so voll mit Dingen, schönen wie unschönen, dass alles nur so vorbei rauscht. Und dann ist plötzlich der Abend des 31. Oktober, Kinder klingeln an der Tür und rufen „Süßes oder Saures!“ und die Begleittexte zum Oktober-Mixtape sind immer noch nicht zur Hälfte fertig.
Aber ich mach das hier alles in meiner Freizeit und unbezahlt (Wenn Ihr meine Arbeit finanziell unterstützen wollt, könnt Ihr meinen Newsletter abonnieren und dafür Geld bezahlen!) und mir ist wichtiger, dass Ihr gute Musik hört, als dass ich mir da jetzt noch ein paar Dutzend Absätze aus den Fingern sauge, von denen ich gar nicht so genau weiß, ob Ihr sie überhaupt lest. *hust*
Jedenfalls: Hier sind 22 Songs, die ich diesen Monat gehört habe. Ich wünsche Euch viel Spaß damit!
Meet Me @ The Altar – You’ve Got A Friend In Me
Wer auch immer bei Disney auf die Idee gekommen ist, ein Album zu veröffentlichen, auf dem Pop-Punk-Bands einige der beliebtesten Songs aus den eigenen Animationsfilmen covern (ein*e Millennial, vermutlich), hat hoffentlich eine fette Gehaltserhöhung. Dabei sing New Found Glory, Simple Plan, Yellowcard, Plain White T’s, Bowling For Soup, Tokio Hotel (!), aber auch Meet Me @ The Altar, die jetzt seit ein paar Jahren zu meinen „neuen“ (also: nicht seit Jahrzehnten mit mir rumgeschleppten) Lieblingsbands gehören.
Die queer POC all-girl band aus Florida covert Randy Newmans „You’ve Got A Friend In Me“ aus „Toy Story“ und drückt damit bei mir sehr viele Knöpfe.
MJ Lenderman – She’s Leaving You
Manchmal gibt es ja so Namen und Alben, von denen man so oft in verschiedenen Zusammenhängen liest, dass man sie einfach hören muss: MJ Lendermans „Manning Fireworks“ ist so ein Album und es ist sogar sogar noch besser, als alle sagen. Die Songs klingen, als würde ich es schon mein halbes Leben kennen. Oder, anders: So, wie wenn The Get Up Kids und The Weakerthans sich vor 20, 25 Jahren in einer Scheune in Montana, in der zufällig noch ein paar Folk-Musiker sitzen, gegenseitig gecovert hätten. (MJ Lenderman wurde vor 25 Jahren geboren.)
„You can put your clothes back on / She’s leaving you“ ist kein ganz schlechter Anfang, es wird danach aber noch besser: Ein Song, der auch Ryan Adams gut zu Gesicht gestanden hätte, wenn wir noch Ryan Adams hören würden.
Rae Morris – Something Good
Wenn man sich die Nachrichten, die sogenannten Sozialen Medien und oft genug auch den eigenen Alltag anschaut, könnte sich der Eindruck verstärken, alles, aber auch wirklich alles, sei absolut furchtbar. Aber ist es nicht immer am Dunkelsten, kurz bevor die Sonne aufgeht?
Rae Morris, die als bisher einziger Act zwei Mal (2012 und 2018) meinen ganz persönlichen Song des Jahres veröffentlicht hat, hat das Gefühl, dass etwas Gutes passieren wird, und singt davon in diesem leicht zappeligen Elektropop-Song. Hoffen wir alle, dass sie recht hat.
Willie Nelson – Do You Realize??
Willie Nelson ist jetzt 91 Jahre alt, hat 101 Studioalben veröffentlicht, war neben Johnny Cash, Waylon Jennings und dem kürzlich verstorbenen Kris Kristofferson Mitglied der Highwaymen, und wird – trotz seines jahrzehntelangen Marihuana-Konsums – einfach nicht müde.
Jetzt hat er sich „Do You Realize??“ von The Flaming Lips vorgenommen, einen Song von ihrem 2002er Album „Yoshimi Battles The Pink Robots“, zu dessen Hintergrund es eine sehr schöne Folge „Song Exploder“ gibt und in dem die Band mit „You realize the sun doesn’t go down / It’s just an illusion caused by the world spinning round“ die Vorlage für Tomtes „Das ist nicht die Sonne, die untergeht / Sondern die Erde, die sich dreht“ („Die Schönheit der Chance“) lieferte.
Long story short: „Do You Realize??“ ist schon im Original ein wunderschöner Song und Willie Nelson arbeitet das Lob der zerbrechlichen Schönheit noch einmal ganz besonders heraus. Auch Wayne Coyne und Steven Drozd von The Flaming Lips sind sichtlich angetan.
Maggie Rogers – In The Living Room
Maggie Rogers hatte eigentlich erst im April ihr drittes Album „Don’t Forget Me“ veröffentlicht, jetzt gibt es schon wieder neue Musik: „In The Living Room“ klingt wie Aimee Mann — und das ist ja nun wirklich nicht das Schlechteste, was man über einen Song sagen kann.
Cecily – Rich
„Im Cecily. Im a young singer / songwriter in Nashville just trying to bring authentic lyrics and feel good melodies into moments that capture who l am and what I believe, while also creating space for you to find out what it means for you too.“ schreibt Cecily über sich selbst.
„Rich“ ist eine Folkballade, dessen Text erst von Sozialer Ungerechtigkeit handelt, dann von Privilegien, ehe sich alles zu einem hymnischen Liebeslied öffnet.
…
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Anderthalb Jahre lang, über 36 Ausgaben, haben wir bei Spotify unsere kleine Musiksendung veröffentlicht, die genauso hieß wie dieses Blog hier: Coffee And TV. Dann hat der böse, ausbeuterische Tech-Konzern die Möglichkeit abgeschafft, eine solche … nun ja: Radiosendung im Internet zu produzieren.
Ich habe ein bisschen gebraucht, um zu überlegen, wie wir weitermachen, denn es gehört ja zu meinen tiefsten Überzeugungen, dass Schönheit geteilt gehört — und Ihr sollte ja weiter hören können, was ich gerade so höre. Die nächstgelegene Idee ist natürlich eine Playlist — vorerst erstmal weiter bei Spotify, weil der Absprung von so einem Streamingdienst ungefähr so kompliziert ist wie ein Umzug mit drei Kindern und fünf Haustieren ins Ausland, aber auch bei Tidal, wo ich gerade ein Probe-Abo abgeschlossen habe, und die Musik wirklich hundert Mal besser klingt (außerdem kriegen die Künstler*innen mehr Geld).
Und weil eine Befragung auf Instagram ergab, dass Ihr gerne nicht nur Songs hintereinander hören, sondern auch Informationen und Meinungen dazu lesen wollt, habe ich jetzt ca. zwei Arbeitstage damit zugebracht, diesen Blog-Eintrag hier zusammenzubauen. (Wenn Ihr meine Arbeit finanziell unterstützen wollt, könnt Ihr meinen Newsletter abonnieren und dafür Geld bezahlen!)
Also dann: Herzlich willkommen zum ersten CTV-Mixtape!
Manic Street Preachers – Decline & Fall
Ich bin jetzt seit fast 25 Jahren Fan der Manic Street Preachers; sie haben mich durch die Oberstufenzeit begleitet und politisiert. Ihr letztes richtig gutes Album ist jetzt auch schon vierzehn Jahre alt — und dann ballern die plötzlich so eine Single raus: eine Piano-Hook wie bei ABBA, Gitarren wie bei Guns ‘n’ Roses und eine Gesangsmelodie, die ungefähr so eingängig ist wie ein gelungenerer Schlager.
Der Text handelt davon, im Angesicht einer verfallenden Welt die kleinen Wunder zu feiern — vielleicht ein bisschen fatalistisch für eine Band, die die meiste Zeit ihrer Karriere die sozialistische Weltrevolution anzetteln wollte, aber in Zeiten, in denen sich so viele immer radikaler äußern, ist es auch auf eine Art radikal, das Gegenteil zu tun. Und wenn es darum geht, sich an den kleinen Dingen zu erfreuen, bin ich natürlich dabei! Der beste Song einer Band „von früher“ seit Jahren!
Ider – You Don’t Know How To Drive
Wir waren bei Coffee And TV schon große Fans von Ider, bevor das britische Elektropop-Duo überhaupt 2019 sein Debütalbum „Emotional Education“ veröffentlicht hatte. Der Bildspender für den Titel dieser Single ist die männliche Unfähigkeit, sich im Straßenverkehr zu orientieren, aber immer gute Ratschläge zu geben — und das ist nur die erste Strophe, denn die burns werden danach noch viel, viel gemeiner.
„I wanna throw your shit in the middle of the street / Really make a big scene and burn your red SG / Delete the files of your solo EP, yeah no ones gonna hear it now“, singen Megan Markwick und Lily Somerville im Refrain und vielleicht muss man ein paar Musiker im Bekanntenkreis haben, um die Tiefe und Schärfe dieser Zeilen voll würdigen zu können, aber lasst es mich so sagen: Das hier ist die nukleare Option — aber sehr, sehr lustig!
Ider haben gerade ihr drittes Album „Late To The World“ angekündigt, das am 21. Februar 2025 erscheinen soll. Ende März spielen sie in Hamburg, Berlin und Köln.
Christian Lee Hutson – After Hours
Seit dem Release Anfang Juli liege ich meiner gesamten peer group in den Ohren, dass sie sich bitte, unbedingt, keine Zeit zu Warten, diesen Song anhören sollen. Nein: müssen!
„After Hours“ klingt, als würde ich es seit 25 Jahren kennen, aber ich kann nicht genau sagen, an was mich Stimme und Musik erinnern: Nick Drake? Nein. The Weakerthans? Auch nicht. Vor allem war Christian Lee Hutson vor 25 Jahren gerade acht und hat (hoffentlich, denn das Wort „fuck“ kommt auch drin vor) noch nicht solche Songs geschrieben. Refrains gibt’s keine, dafür Strophen, die sich frei assoziativ von Spätis im Himmel über die Schauspielerin Catherine O’Hara bis zur Feststellung „The good stuff is behind a paywall“. Das Album „Paradise Pop. 10“ erscheint am 27. September und ich bin sehr gespannt!
Anna Erhard – Not Rick
Stellt Euch einen jungen, weiblichen Werner Herzog vor, der einen cleveren, aber nicht zu cleveren Text rezitiert, in dem es unter anderem um den legendären Musikproduzenten Rick Rubin geht, während im Hintergrund die Band Cake ein Mashup von Becks besten Songs, die nicht „Loser“ heißen, spielt. Okay, ich bin nicht hilfreich.
Ihr müsst mir einfach glauben, dass dieser Song von Anna Erhard, die in der Schweiz aufgewachsen ist und jetzt in Berlin lebt, einige der besten Indierock-Trends der letzten vier Jahrzehnte enthält. Oder besser: es hören!
Pete Yorn – Real Good Love
Pete Yorn war der Soundtrack der letzten Monate vor meinem Abi — und zwar gleich doppelt: zum einen war er in den Jahren 2000 bis 2002 auf gefühlt jedem zweiten Soundtrack-Album von „Dawson‘s Creek“ bis „Spider-Man“ dabei (so versuchten Major-Labels damals, ihre Acts groß zu machen), zum anderen war sein Debüt-Album „Musicforthemorningafter“ damals ein treuer Begleiter.
Es wurde keine enge, dauerhafte Beziehung (sein gemeinsames Album mit Scarlett Johansson hab ich bis heute nie gehört), aber wenn er neue Musik veröffentlicht, höre ich immer wieder gerne rein. (Und im Gegensatz zu Ryan Adams, dem anderen großen liebestrunkenen Troubadour jener Tage, hat er sich, soweit ich weiß, nichts zu Schulden kommen lassen.) Sein neues Album „The Hard Way“ ist kein Meisterwerk, über das man in zehn Jahren noch begeistert sprechen wird, aber es kann die Zeit zwischen „Nicht mehr Sommer“ und „Noch nicht Herbst“ untermalen wie eine akustische Übergangsjacke. Und so eine solide Freundschaft ist doch auch viel wert!
PRONOUN – In The Still
Vielleicht gar nicht so doof, das eigene Musikprojekt nach der vielleicht polarisierendsten Wortgattung aller Zeiten zu benennen. Alyse Vellturo beschreibt sich selbst als „Brooklyn-based indie label manager by day, bedroom artist by night“ und „In The Still“ ist mein Erstkontakt mit ihrem Schaffen.
Wenn Jimmy Eat World und The Pains Of Being Pure At Heart eine gemeinsame Tochter hätten und die dann mit ihren Freundinnen von britischen 80er-Jahre-Bands (und zwar nicht Pet Shop Boys oder Wham!, sondern The Cure und New Order) inspirierte Musik machen würde, dann könnte das Ergebnis so klingen.
Japandroids – Chicago
Für alle, die immer schon Bruce Springsteen und Hüsker Dü geliebt haben, gibt es das kanadische Duo Japandroids. Ihr zweites Album „Celebration Rock“ aus dem Jahr 2012 ist eines der am passendsten betitelten Alben aller Zeiten und bevor ich für „Lucky & Fred“ oder meine kleine ESC-Show auf die Bühne gegangen bin, hab ich immer ihren Songs „Fire’s Highway“ gehört, um angemessen pumped für einen Abend vor Live-Publikum zu sein.
Nach sieben Jahren Pause haben sie im Juli für Oktober ihr viertes Album „Fate & Alcohol“ angekündigt, das gleichzeitig ihr letztes sein soll. Wenn man sich bei einer Band keine Sorgen machen muss, dass sie mit einem Knall gehen werden, dann bei Japandroids. Sorry, baby, we call it like we see it in Chicago!
Suzan Köcher’s Suprafon – Living In A Bad Place
Bringen wir‘s kurz hinter uns: Ja, das ist die Band, während deren Auftritt der Attentäter auf dem Solinger Stadtfest seine furchtbare Tat beging. Das war natürlich ein grausamer Zufall und die denkbar beschissenste Art, um Gegenstand nationaler Berichterstattung zu werden, von daher freut es mich sehr, dass die Vier schon eine Woche später die Kraft hatten, wieder auf einer Bühne zu stehen und zu bestehen.
„Living In A Bad Place“ ist ein groovender Americana-Stampfer, der an die späten Cardigans oder Brandi Carlisle erinnert, aber gleichzeitig auch eindeutig Suzan Köcher’s Suprafon ist (wie schon in Sendung Nr. 35 zu hören). Im Oktober erscheint das Album „In These Dying Times“ und das mag jetzt zynisch klingen, aber: Wenn diese ganze Scheiße dazu führt, dass jetzt ein paar mehr Menschen eine gute Band kennen und hören, ist das allemal besser, als wenn deswegen Grenzen geschlossen und Menschenrechte geschliffen werden. (Das war jetzt politisch. Blame the Manic Street Preachers!)
The Killers – Bright Lights
Wenn ich alle Fakten zusammentrage, sind The Killers vermutlich meine Lieblingsband unter all jenen, die noch aktiv sind. Ich denk da nur auch nicht immer dran.
Und dann kam Anfang August eine neue Single raus und ich hab sie mir extra aufgehoben, um sie abends, bei Sonnenuntergang auf unserem Campingplatz, zum ersten Mal zu hören. Es ist natürlich kein „Mr. Brightside“ oder „When You Were Young“, es ist nichtmal ein „Caution“ (obwohl es erstaunlich danach klingt). Es ist nur ein Lebenszeichen einer Band, die es auch nach 20 Jahren noch schafft, mir mit jedem neuen Album eine kleine Freude zu bereiten — und das ist doch auch viel wert!
Bess Atwell – Where I Left Us
Ich merke, dass ich immer weniger Alben höre — gerade, weil ich so ungern Alben anmache, wenn ich weiß, dass ich sie nicht komplett hören kann. Wenn ich 20 bis 30 Minuten brauche, bis das Abendessen fertig ist, reicht das nicht — gerade, wenn ich erstmal zehn Minuten brauche, um überhaupt Musik auszusuchen, während das Nudelwasser schon kocht. Deshalb habe ich Bess Atwells drittes Album „Light Sleeper“ auch noch nicht gehört (auch nicht die zwei davor), obwohl es von Aaron Dessner von The National produziert wurde, der seit Taylor Swifts „Folklore“ ja der Mann ist, der melancholisch-schwelgende Popsongs junger Frauen den letzten Grobschliff gibt.
„Where I Left Us“ ist da aber auch gar nicht drauf, sondern Teil neuen Materials, das die Engländerin aktuell veröffentlicht. Wenn all ihre Songs so eine herbstliche Kuscheldecken-Fluffigkeit haben, muss ich aber wirklich mal in ihre Alben reinhören!
The Deadnotes – Reservoir
Ich vertraue meinen Buddies vom Grand Hotel van Cleef ja erstmal blind — ein Vertrauen, das sie sich vor zwei Jahrzehnten mit kettcar, Tomte, Marr und Death Cab For Cutie eher leichtfüßig erarbeitet haben (war natürlich trotzdem eine Menge Energie und Geld, die in solche Releases gegangen ist), das durch gemeinsame Kilians-Zeiten noch enger wurde und das sie in den letzten Jahren mit Veröffentlichungen von Pale, Mariyaka, Fjørt und Arxx weiter gestützt haben.
Wenn meine Buddies also eine Band signen, die schon zwei Alben in Eigenregie veröffentlicht hat, dann höre ich mir das natürlich aufmerksam an: „Reservoir“ ist ein Hauch The Killers, Nightmare Of You und Hellogoodbye, also Rockmusik mit Synthesizern — und das Grand Hotel van Cleef hat mal wieder recht gehabt.
Alex The Astronaut – Cold Pizza
„I Think You’re Great“ von Alex The Astronaut war einer der ersten Songs, die ich gehört habe, nachdem im März 2020 der erste Covid-Lockdown ausgerufen worden war — und es sollte mein Song eines sehr, sehr speziellen Jahres werden.
Ich weiß nicht viel über Alex The Astronaut und habe auch nicht viele ihrer anderen Songs gehört. Aber wenn man einen Song nach dem besten Essen der Welt benennt, kann das alles schon mal nicht so falsch sein — und tatsächlich ist „Cold Pizza“ ein charmanter kleiner Indierock-Schunkler.
Clipping – Run It
Daveed Diggs kennt Ihr alle als Marquis de Lafayette und Thomas Jefferson aus „Hamilton“ (Ihr kennt „Hamilton“ nicht? Oh. Ändert das! Sofort!) Er ist aber auch Mitglied der experimentellen Hip-Hop-Band Clipping, über die ich nicht viel mehr weiß, als dass Daveed Diggs dort Mitglied ist und sie eine zeitlang mal für das Haldern Pop Festival 2023 angekündigt waren, bis sie wieder aus dem Line-Up verschwanden.
Jetzt habe ich zum ersten Mal einen Song von Clipping gehört und ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich mich inzwischen wieder vollständig davon erholt habe, aber „Run It“ ist schon ein beeindruckender Track, der ein bisschen klingt, als wäre man mit dem Geräusch im Kopf aufgewacht, das ein 56k-Modem beim Einwählen macht.
Joy Oladokun – I’ Miss The Birds
Wenn ich noch so was küren würde wie ein Album des Jahres, wäre es letztes Jahr „Proof Of Life“ von Joy Oladokun gewesen, wie ich in unserer 2023-Sendung schon erzählt habe. Seitdem hat sie in regelmäßigen Abständen neue Songs veröffentlicht, die allesamt wunderbar sind.
In „I’d Miss The Birds“ singt sie davon, dass sie Nashville, die Hauptstadt der amerikanischen Musikindustrie, verlassen und aufs Land ziehen will. Zwar würde sie die Vögel vermissen, für die die Stadt auch berühmt ist, aber selbst die Vögel wüssten ja, wann es Zeit ist zu gehen.
„I’d Miss The Birds“ wird auf „Observations From A Crowded Room“ enthalten sein, Joy Oladokuns fünftem Album, das sie selbst produziert hat und das am 18. Oktober erscheinen soll.
New Radicals – Lost Stars
„You Get What You Give“ von New Radicals ist ein Song, der mein Leben in ein „Davor“ und „Danach“ teilt. Zum ersten Mal seit meiner eher kindlichen Die-Prinzen-Phase war ich Fan einer Band — die sich wenige Wochen, nachdem ich ihr Album gekauft hatte, auflöste. Ihr Sänger Gregg Alexander hat seitdem zahlreiche Hits für andere Acts geschrieben (die ich, inkl. Demos, alle auf meiner Festplatte habe), aber die Band tauchte erst zur Amtseinführung von Joe Biden ganz überraschend wieder in der Öffentlichkeit auf.
Jetzt gibt es zum ersten Mal seit 25 Jahren neue Songs — wobei „neu“ dabei ein bisschen umgedeutet werden muss, denn es handelt sich um die eigenen New-Radicals-Versionen von „Murder On The Dancefloor“ (bekannt geworden durch Sophie Ellis-Bextor) und „Lost Stars“ (aus dem Film „Begin Again“). Gregg Alexander hat in einem offenen Brief an Kamala Harris’ Ehemann Doug Emhoff, der offenbar ein ebenso großer Fan der Band ist wie ich, erklärt, dass es sich nicht um ein „Comeback“ handle, sondern um einen Versuch, die Demokraten im Wahlkampf zu unterstützen. Das verleiht diesen vielleicht etwas obskuren Songs eine Aura von gesellschaftlicher Bedeutung und Hoffnung und macht mich noch glücklicher, sie hören zu dürfen. Ich habe sogar zum ersten Mal seit neun Jahren einen Song im iTunes Store gekauft!
Briskeby – The First Time
Weiter geht’s mit „Opa erzählt vom Frieden“! Briskeby waren die erste Vorband, die ich jemals bei einem Konzert gesehen habe: Im Herbst 2000 im Vorprogramm von a-ha in der Arena Oberhausen und ich war sofort schwer verknallt in ihre Sängerin Lise Karlsnes. Der Zufall will es, dass ich ein paar Monate später meine allererste Musikrezensionjemals für plattentests.de über „Jeans For Onassis“, das Debütalbum der Band, geschrieben habe — das Album hatte also immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen und ich habe meinen Text nur deshalb verlinkt, denn es ist grauenhaftes Gewäsch von einem Teenager, der noch weit davon entfernt war, seine Stimme gefunden zu haben, nicht besser gemacht von einer Redaktion, die auf knackige Überschriften und Oneliner aus war, und können wir bitte überhaupt ganz grundsätzlich mal aufhören, Kunst irgendwie auf einer Skala („5/10“) quantifizieren zu wollen?!
Briskeby, jedenfalls, haben danach weiter Musik gemacht, die komplett an mir vorbeiging: Ihr letztes Album ist aus dem Jahr 2005, was fast 20 Jahre her ist, die letzte Single von 2015. Und jetzt sind sie wieder da, mit einem Song, der „Like The First Time“ heißt und auch so klingt: Es ist exakt der gleiche groovende, leicht angerockte skandinavische Elektropop zwischen Cardigans und Annie — und was ist so falsch daran?! Ich bin jetzt in einem Alter, wo ich zwar immer noch Wert darauf lege, Chappell Roan, Charli XCX und Sabrina Carpenter grob zu kennen (und: Mein Gott, ist „Espresso“ ein Meisterwerk!), aber ich überlasse ihre Musik gerne den jungen Leuten, denn die haben ja sonst – Hashtag Klimakrise, Hashtag Rentenkasse, Hashtag Austeritätspolitik – sonst gar nichts.
Bon Iver – Speyside
Und plötzlich war da noch ein neuer Song von Bon Iver: Nur Justin Vernon und seine Gitarre, wie damals in der legendären Waldhütte, als er „For Emma, Forever Ago“ aufnahm (was auch schon wieder ewig her ist). Die ganzen Elektrospielereien der letzten Alben: verschwunden; das Duett mit Taylor Swift: woanders (aber tief in unseren Herzen); die einzige weitere Zutat nur die Bratsche von Rob Moose, die dem ganzen den Anstrich von weiter, amerikanischer Landschaft verleiht.
Am 18. Oktober wird „Sable“, eine EP mit „Speyside“ und zwei weiteren Songs erscheinen. Dann wissen wir, ob Bon Iver full circle gegangen sind. Solange reicht aber auch die Schönheit dieses Songs.
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Dieser Eintrag ist Teil 9 von bisher 10 in der Serie 1999
Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.
Dafür, dass ich in den 1990er Jahren in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen bin, fehlt ein wichtiges, eigentlich natürliches, Puzzleteil in meiner Popkultur-Sozialisation: Deutschpunk. Zwischen der ZDF-Hitparaden-Welt meiner Großeltern und dem WDR-2-Pop-Internationalismus meiner Eltern (plus BAP und Grönemeyer) war kein Platz vorgesehen für Fehlfarben, EA 80 oder Wohlstandskinder und auch nicht für WIZO, Dackelblut oder Die Goldenen Zitronen. Natürlich fanden Die Toten Hosen und Die Ärzte im Musikfernsehen und im Radio statt, aber beide Bands haben mich bis heute nie interessieren können (um das mal diplomatisch auszudrücken). Ich meine: Ich lebe seit 20 Jahren in Bochum und hab diesen Sommer zum ersten Mal Die Kassierer live gesehen!
Insofern waren mir auch …But Alive kein Begriff, als im Spätsommer/Herbst 2002 plötzlich alle über kettcar sprachen. Deren Sänger, so lernte ich, hieß Marcus Wiebusch und hatte zuvor bei eben jenen …But Alive und bei Rantanplan gesungen. Und weil kettcar für mich mit „Du und wieviel von Deinen Freunden“ ein Tor in eine neue Welt aufgestoßen hatten (die zu einer jahrzehntelangen Freundschaft zu ihnen, Thees Uhlmann und ihrem Label Grand Hotel van Cleef führen sollte), es aber noch nicht mehr als dieses Debütalbum gab, brauchte ich ein Jahr später Methadon.
„Hallo Endorphin“ war das vierte und letzte Album von …But Alive gewesen und in gewisser Weise das Bindeglied zu kettcar: Musikalisch und textlich schon recht weit von dem eher klassischen Punkrock entfernt, mit dem die Band angefangen hatte. Zwar ging es in manchen Texten immer noch gegen alles, vor allem gegen gleichaltrige Spießer, Pop-Akademiker und Lifestyle-Linke, aber anderes war weniger konkret ausformuliert. Themen wie Selbstermächtigung schauten genauso vorbei wie Trennungen. Über „Entlassen (Vor der Winterpause)“ und „Erinnert sich jemand an Kalle ‘del Haye“, in denen Marcus Fußball als Bildspender für eine gescheiterte Beziehung und entfremdete Freundschaften habe ich ein paar Jahre später in meinem Germanistik-Studium eine ganze Hausarbeit geschrieben.
Hatte das kettcar-Debüt meinen Stehsatz für Liedzitate, die ich im Alltag und in eigenen Texten unterbringen konnte, eigentlich schon bis unter das Dach gefüllt, erwies sich „Hallo Endorphin“ (allein der Albumtitel!) als weiterer Steinbruch für Referenzen. Schon der Song „Beste Waffe“ hat mich auf Jahre mit Formulierungen für Internetforen und ähnliche Orte versorgt: „Und da steht Thomas Helmer — oh nee, doch nicht, sah nur so aus“, „Klar kannst Du Dich mal melden, halt nur nicht bei mir“, „Musikgeschmack wird überbewertet“.
Weil ich mir die …But Alive-Diskografie umgekehrt chronologisch erschlossen habe, blieb „Hallo Endorphin“ immer das Album dazwischen: Der Drumcomputer-Anfang von „Vergiss den Quatsch“ nimmt „Deiche“ vorweg, ein kurzes Gitarrensolo in „Friedlich“ und eine Keyboard-Melodie in „Entlassen (Vor der Winterpause)“ täuschen schon mal die spätere „Landungsbrücken raus“-Hook an. Den Sprechgesang würde Marcus erst auf den späteren kettcar-Alben wieder auspacken, dafür bekommt man bei „Selbstmitleid sells“ noch mal Uptempo-Punkrock und bei „Weniger als 5 Sekunden“ etwas, was man eigentlich nur als Nu-Metal-Energie beschreiben kann — was ja 1999 noch nicht so lachhaft war wie zwei, drei Jahre später.
Wenn ich recht überlege, knallten kettcar und Tomte in ein sehr kurzes Zeitfenster, in dem ich mich überhaupt für deutschsprachige Musik interessieren und erwärmen konnte: Was mit Tom Liwas „St. Amour“ und ein bisschen Nachhol-Programm von Tocotronic und Die Sterne im Jahr 2000 begann, endete eigentlich schon wieder 2005 mit dem zweiten Wir-Sind-Helden-Album. Dass es Marcus Wiebusch mit kettcar geschafft hat, auch 2024 mit „Gute Laune ungerecht verteilt“ ein Album zu veröffentlichen, das zu meinen Highlights des Jahres zählt, und sich die Band seit 2017 eigentlich permanent selbst übertrifft, kann ich ihnen also gar nicht hoch genug anrechnen. Neun und zehn und raus!
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Dieser Eintrag ist Teil 8 von bisher 10 in der Serie 1999
Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.
Zum ersten Mal von Tom Jones gehört habe ich, wie vermutlich die meisten Menschen meiner Generation, in „Mars Attacks!“, dem übersehenen Meisterwerk von Tim Burton. In dem Film greifen Marsianer die Erde an und sie tun das unter anderem in Las Vegas, während Tom Jones auf der Bühne eines Casino-Hotels steht und – natürlich – „It’s Not Unusual“ singt. Jones spielt sich selbst, er wird im weiteren Verlauf des Films mit Annette Bening und Janice Rivera zu den Tahoe-Höhlen fliehen und, nachdem die Marsianer besiegt sind und ein Falke auf seinem Arm gelandet ist, erneut „It’s Not Unusual“ anstimmen. Eines der Top-10-Enden der Filmgeschichte. (Falls Ihr „Mars Attacks!“ noch nie gesehen habt: Es ist, seit ich mit 13 im Kino war, einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Auch mehr als 25 Jahre später muss ich immer noch sagen: 10/10, ein Meisterwerk für alle Zeiten. Guckt ihn Euch an!)
Für meine Eltern und ihre Generation war Tom Jones damals im Wesentlichen eine etwas abgehalfterte Witzfigur, nicht unähnlich den ehemaligen Schlagerstars, die bei Baumartkeröffnungen sangen. Es waren die zynischen 1990er und die Qualitäten, die es braucht, um Las Vegas residencies und Baumartkeröffnungen zu bestehen, wurden allenfalls von Götz Alsmann gewürdigt. Da konnte auch sein Mini-Comeback von 1994 nichts dran ändern, als er gemeinsam mit The Art Of Noise „Kiss“ von Prince coverte und mit seiner Version für nicht wenige Kritiker das Original übertraf.
Womöglich war es eine Mischung aus 1990er-„Ironie“ und Teenager-Trotz, aber irgendwie fand ich Tom Jones cool. Entsprechend überrascht war ich, als ich im Herbst 1999 in einem Elektronikmarkt ein neues Album von ihm sah, gemeinsam mit Gaststars wie The Cardigans, Robbie Williams, Natalie Imbruglia und Simply Red, die mir natürlich etwas sagten. Irgendwie muss ich auch erkannt haben, dass es sich um jede Menge Coverversionen und Neueinspielungen handelte, denn ich war enttäuscht, dass „It’s Not Unusual“ nicht dabei war, und so habe ich die CD zu diesem Zeitpunkt nicht gekauft.
Doch dann kam der Auftritt bei „Wetten, dass ..?“: Nina Persson und die Jungs hatten sich trotz aller eigenen Charterfolge vermutlich nie vorgestellt, einmal in dieser seltsamen deutschen Fernsehsendung, von der sich internationale Stars in first class lounges, Festival-Backstage-Bereichen und bei Preisverleihung fassungslos erzählen, vor einem sprechenden Bühnenbild (ja, in der Tat: ein brennendes Haus) einen Auftritt mit dem „Tiger“ zu absolvieren, bei dem sie so tun, als würden sie gerade ihre Version von „Burning Down The House“ live performen. Ich kannte das Original von den Talking Heads nicht (und war, als ich es dann endlich irgendwann mal hörte, nicht sonderlich beeindruckt), aber dieser Auftritt ließ mich direkt am darauffolgenden Montag zu R&K in Dinslaken fahren und „Reload“ doch noch kaufen.
Das Album war für mich der Erstkontakt mit Acts wie The Divine Comedy, Barenaked Ladies, Portishead, Catatonia und Stereophonics und die erste CD in meiner Sammlung, auf der The Cardigans und James Dean Bradfield von den Manic Streets Preachers zu hören waren — Acts, bei denen ich, wie auch bei Robbie Williams, in der Folge einen gewissen Hang zum Komplettismus entwickeln sollte. Es machte mich nicht nur mit „Burning Down The House“ bekannt, sondern auch mit Songs wie „All Mine“ (Portishead), „Never Tear Us Apart“ (INXS) und wahrscheinlich auch „Lust For Life“ (Iggy Pop). Kurzum: Es war ein Crashkurs in Sachen Popkultur der vorangegangenen Jahrzehnte und der Gegenwart.
„Are You Gonna Go My Way“ (Lenny Kravitz) mit Robbie Williams wirkte nicht nur wegen des Titels wie die Übergabe eines Staffelstabs. „Sometimes We Cry“ von und mit Van Morrison, der als Einziger einen seiner eigenen Songs sang, rührt mich bis heute. James Dean Bradfield von den Manic Streets Preachers liefert bei „I’m Left, You’re Right, She’s Gone“ (Elvis Presley) eine der besten Gesangsleistungen seiner Karriere ab (Tom Jones schreibt, wenn ich das richtig erinnere, in seiner Autobiographie, dass er Angst hatte, ein Duett mit einem so begnadeten Sänger zu singen, und ganz ehrlich: Wenn Ihr keine Gänsehaut bekommt, wenn JDBs Stimme zum ersten Mal in den Song reingrätscht, kann ich Euch auch nicht helfen!). Selbst die Ideen, die auf dem Papier schlecht wirken, funktionieren im (hoffentlich weit aufgedrehten) Lautsprecher: Sollte man Iggy Pops „Lust For Life“ covern? Nein. Außer, wenn Chrissie Hynde von The Pretenders und Tom Jones singen. Dann unbedingt.
Dass ein Album mit 17 Tracks so seine Längen hat, lässt sich schwer vermeiden: „Ain’t That A Lot Of Love“ mit fucking Simply Red? „She Drives Me Crazy“ mit Zucchero? Ist doch schön, wenn Tom Jones so viele angesagte Acts zum Mitwirken bewegen konnte!
Der große Hit, der zu einem späten signature song werden sollte, war indes ein anderer: „Sex Bomb“, die einzige Neukomposition des Albums, aus der Feder des Hannoveraner Musikproduzenten Mousse T., der mit seinem Debüt-Hit „Horny ’98“ bereits gezeigt hatte, dass er stumpfes Rumpf-Gemumpf extrem cool und clubtauglich klingen lassen konnte. Heute würde man anders darüber denken, wenn ein 59-jähriger Mann mit gefärbtem Haupthaar einer mutmaßlich sehr viel jüngeren Frau den Refrain „Sexbomb, sexbomb you’re a sexbomb / You can give it to me, when I need to come along / Sexbomb, sexbomb you’re my sexbomb / And baby you can turn me on“ angedeihen lassen wollte, aber man muss Popkultur immer aus ihrem Zeitgeist lesen, wenn man sie irgendwie verstehen will, und der Zeitgeist der ausgehenden 1990er Jahre war eben so, dass ich ihn auf einer Website, die auch Minderjährige besuchen können, schlecht ausformulieren kann.
Einmal angefixt, tauchte ich natürlich in das Gesamtwerk des walisischen Tigers ein — und, meine Güte, waren da Hits, Hits, Hits! Gut: Die Mörderballade „Delilah“ wurde in den letzten Jahren von Sportveranstaltungen verbannt und auch die Sujets manch anderer Songs sind schlecht gealtert, aber diese Stimme, die immer über irgendwelchen State-of-the-art-Arrangements schwebte, lässt zumindest mich einen Tacken mehr durchgehen lassen als es bei anderen Acts der Fall wäre.
Tom Jones war – nach den Prinzen 1994 – tatsächlich das zweite große Popkonzert, das ich in meinem Leben besuchte (im Mai 2000 mit meinen Eltern und meinem Bruder in der Arena Oberhausen; das Konzertplakat, das mein Vater auf dem Heimweg von einem Maschendrahtzaun abmontierte, könnte immer noch im Keller meiner Eltern stehen) und auch wenn natürlich keiner der „Reload“-Gäste dabei war, war es ein Erlebnis. Jones legte in der weiteren Folge einen beeindruckenden dritten (oder vierten oder fünften) Karriere-Akt hin, indem er aufhörte, seine Haare zu färben, und begann, Folk- und Americana-Alben aufzunehmen (ich habe im letzten Jahr zufällig festgestellt, dass er eine Version von „Charlie Darwin“ von The Low Anthem veröffentlicht hat!). Das hatte Folgen, denn als ich ihn zum zweiten Mal live sah, spielte er die meisten seiner Klassiker in kaum wiederzuerkennenden Arrangements. Das Publikum wirkte ein bisschen enttäuscht, aber mit damals schon 79 Jahren hatte er sich das Recht erarbeitet, seine Songs derart zu dylanisieren. Der überraschende Ort dieses überraschenden Auftritts: das Burgtheater Dinslaken.
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Zu Beginn der Fußball-Europameisterschaft der Herren ging eine Schalte des britischen „Sky Sports“-Reporters Kaveh Solhekol viral, in der dieser ein gewisses Unverständnis über die Zustände im Spielort Gelsenkirchen zum Ausdruck brachte. Sky Sports nahm das Video recht schnell wieder offline, ich habe bis heute keine Kopie davon finden können, aber die Berichterstattung (inkl. backlash und zu erwartender trauriger Repliken lokaler Medien und Persönlichkeiten) war enorm. Neben der tristen Innenstadt hatte Solhekol auch bemängelt, dass man fast nirgendwo mit Karte (gemeint war: mit Kreditkarte) zahlen könne.
Nun war ich aus offensichtlichen Gründen lange nicht in Gelsenkirchener Gastronomien unterwegs, aber für die Nachbarstadt Bochum kann ich berichten: Hier kann man inzwischen fast in allen Cafés, Eisdielen, Bäckereien und Bratwurstbuden mit Kreditkarte zahlen, idealerweise per Apple Pay — Handy dranhalten, fertig! Es ist – neben der völligen Abwesenheit von Terminen – eine der wenigen guten Sachen, die uns die COVID-19-Pandemie gebracht hatte: Der Alltag ist inzwischen derart durch-digitalisiert, dass sich Bochum fast wie Schweden, England oder weite Teile der Niederlande anfühlt, was die Ankunft in der Gegenwart angeht. Man kann sogar Eintrittskarten für die Bochumer Freibäder vorab online kaufen (was wir erst erfahren haben, nachdem wir 20 Minuten in der Mittagssonne in einer Kassenschlange gestanden hatten, aber: nun gut)!
Kaveh Solhekol und die angereisten Fußball-Fans sollten sich glücklich schätzen, wenn sie nicht auf Gebieten mit der deutschen Interpretation des Konzepts „Digitalisierung“ in Kontakt gekommen sind, die über das Bezahlen von Essen und Getränken hinausgehen.
Ich fühle mich wie ein Fensterrentner, der mit einem Behördenschreiben in die Kamera des Fotografen der Lokalzeitung wedelt, aber die RTL-Verbrauchersendung „Wie bitte?!“ wurde vor 25 Jahren eingestellt, von daher müsst Ihr jetzt mit meinen länglichen, anekdotischen Empörungen leben:
Ende April wurden im Bochumer Stellwerk Kupferkabel geklaut. Um irgendwie zur Arbeit nach Köln zu kommen, nahm ich ein Taxi zum Essener Hauptbahnhof und schickte die Quittung über 65 Euro gut gelaunt an die Deutsche Bahn. Weil angeblich noch Unterlagen fehlten, bekam ich ein Anschreiben per Post, auf das ich auch nur per Post antworten konnte (die Unterlagen waren frei verfügbar im Internet einzusehen, ich habe sie also ausgedruckt und physisch verschickt), und vier Wochen später eine Ablehnung, weil angeblich weitere Unterlagen fehlten, nach denen die DB Dialog GmbH am Anfang gar nicht gefragt hatte. Ich habe also mit der Hotline telefoniert, wo die freundliche, aber auch etwas hilflose Mitarbeiterin und ich in rund zehn Minuten immerhin das Rätsel lösen konnten, was mit „Fehlende Angaben und Belege“ eigentlich gemeint sei (ich konnte die Angaben überraschend per Telefon übermitteln), und bekam dann gestern ein Schreiben der Bahn, dass die Bearbeitung meines Falls noch ein bisschen dauern könne. Die bezaubernden Begründungen: Hochwasser und eine „angespannte Betriebsqualität“, was natürlich einerseits perfekt zu einem Konzern passt, der einen regelmäßig mit Sprachneuschöpfungen wie „Verzögerungen im Betriebsablauf“ erfreut, andererseits kaum etwas anderes bedeuten kann als: „Für uns ist alle siebte oder achte Stunde, wir gehen komplett auf dem Zahnfleisch, die Einsparungen werden uns alle töten, bitte helfen Sie uns!“
Anderes Beispiel: Die Deutsche Post hatte zwei Briefe verloren/nicht zugestellt, in denen die Firma Congstar mir eine SIM-Karte zustellen wollte (das ist noch mal ein eigenes Thema für sich, einigen wir uns auf: die Adressierung war missverständlich). Man kann, wenn man ein bisschen danach sucht, bei der Post online eine sog. „Briefermittlung“ beauftragen und bekommt dann auch eine Bestätigung per E-Mail — alles fein. Bis ich dann – passenderweise am gleichen Tag wie den letzten Brief der Deutschen Bahn – zwei Briefe der Post im Briefkasten hatte. Darin, jeweils: Ein Schreiben mit der Bestätigung, dass ich eine Briefermittlung beauftragt hatte inkl. Entschuldigung und Bitte um Geduld, auf der Rückseite ein Vordruck, den ich nutzen könne, falls der vermisste Brief inzwischen angekommen sei — und ein Rückumschlag, mit dem ich den Vordruck dann postalisch zurück an die Deutsche Post schicken könnte.
Am Ende sind es vermutlich wieder die immer gleichen Gründe aus der Bürokratiehölle („Dokumentenechtheit“, „Datenschutz“, „Haben wir immer schon so gemacht“), aber es ist ja nicht nur die fehlende Digitalisierung, die mich hier verzweifeln lässt: Da wurden fünf Din-A-4-Blätter bedruckt, zwei kleine Rückantwort-Kuverts in größere Briefumschläge gesteckt und das alles wurde quer durch Deutschland transportiert. Am Ende vielleicht immer noch umweltschonender als ein AI-Chatbot, aber eben doch nicht wirklich ökologisch. Und während ich annehme, dass die Deutsche Post ihre eigenen Briefe kostenlos zustellt, zahlt die Bahn auf alle Fälle Porto — bzw. natürlich nicht die Bahn selbst, sondern wir alle, indem wir immer teurer werdende Bahntickets kaufen.
Wir schreiben das Jahr 2024, 95 Prozent der Deutschen nutzen das Internet „zumindest selten“, selbst bei den Personen über 70 sind es 80 Prozent. Das größte außeramerikanische Softwareunternehmen, die Nummer 3 der Welt, kommt aus Deutschland und es gibt sicherlich auch jede Menge Software-Firmen, die Lösungen anbieten, die für alle Beteiligten Vorteile bieten.
Ich kann es selbst kaum fassen, dass ich die folgenden Worte, die auch in einen FDP-Mitgliedsantrag passen könnten, schreibe, aber: Sobald man sich nur einen Schritt von gewinnorientierten Unternehmen entfernt, die in einem echten Wettbewerb am Markt bestehen müssen, muss in diesem Land immer noch (fast) alles ausgedruckt werden. (Keine Angst, ich werde natürlich nicht und auf gar keinen Fall in die FDP eintreten. Die stellt ihre Kompetenz im Bundesministerium für Digitales und Verkehr ja selbst am Besten unter Beweis.)
Und es ist ja nicht so, dass die Deutsche Bahn ein besonderes Herz für jene Leute zeigen würde, die sich ohne Smartphone durchs Leben bewegen: Die Bahncard gibt es zum Beispiel nur noch digital. Es sind diese mixed signals, die alles noch schlimmer machen.
Die gute Nachricht, natürlich: Immerhin lebe ich nicht in Gelsenkirchen.
Dieser Eintrag ist Teil 7 von bisher 10 in der Serie 1999
Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.
Ein allerletztes Mal habe ich die Single zuerst gehört. Denn das war ja früher so: Man kannte einen Song aus dem Radio (oder Musikfernsehen, um nicht ganz so alt zu erscheinen) und wenn man dann beschlossen hatte, vergleichsweise viel Geld in die CD zu investieren, fing das Album meist mit einem Song an, den man (noch) gar nicht kannte. Man wollte ja aber endlich den verkaufsfördernden Hit hören, dessentwegen man den Weg zum Plattenladen auf sich genommen hatte. Mit dem Fahrrad. An einem Samstagvormittag im Januar. In Dinslaken.
Ich weiß noch, wie ich auf der Couch im Wohnzimmer meiner Eltern lag (dem Dreisitzer an der Innenwand, nicht dem Zweisitzer an der Außenwand, in case you’re wondering) und Track 7 ausgewählt hatte: „Why Does It Always Rain On Me?“, diese überlebensgroße Charlie-Brown-Verliererhymne, die natürlich direkt zu einem 16-jährigen sprach, der sich irgendwie nie so ganz dazugehörig fühlte. Und danach dann das Album von vorne.
Travis waren einen Monat zuvor – sorry, wenn ich mich da wiederhole – Teil der „Rolling Stone Roadshow“ gewesen und mit Ben Folds Five und Gay Dad durch Deutschland getourt. (Ich weiß quasi nichts über Gay Dad. Ich habe, seit wir im Jahr 2005 die CD-Schränke bei CT das radio aufgeräumt haben, sogar ihr 1999er Album „Leisure Noise“ im Regal stehen, aber in all den Jahren nie gehört. Wenn man überlegt, welche Bedeutung Ben Folds Five und Travis in der Folge in meinem Leben einnehmen sollten, ist es eigentlich wahlweise ein Wunder oder eine Schande, dass Gay Dad als fünftes Rad am Wagen derart an den Rand gedrängt wurden. Ich verspreche Euch jetzt einfach mal, dass ich zum 25. Jahrestag des verhängnisvollen, nicht besuchten Konzerts in der Live Music Hall am 29. November zum ersten Mal bewusst Gay Dad hören und hier darüber schreiben werde!) „Why Does It Always Rain On Me?“ kannte ich von Viva 2, obwohl ich das damals gar nicht gucken konnte, und ich mochte die Mischung aus unverkennbarer Lebensenergie (der Rhythmus!) und Traurigkeit (alles andere).
Stellte sich raus: Mit seinem hüpfbaren Rhythmus war der Song noch der klare upper auf dem Album. Alle anderen Songs schleppten sich eher dahin, krochen oder taumelten. Selbst der einzige objektive Rocksong auf „The Man Who“, der hidden track „Blue Flashing Light“, dreht sich schwindlig auf der Stelle und handelt davon, dass jemand allein zuhause sitzt, während alle anderen feiern gehen. Wer weiß, wie ich das Album gefunden hätte, wenn ich es bei Veröffentlichung im Mai 1999 gehört hätte — in den grauen ersten Wochen des Jahres 2000 passte es jedenfalls perfekt zum Wetter und dem Millenniumskater, der sich über die Welt gelegt hatte: Die Zukunft hatte ganz eindeutig und ausweislich des Kalenders begonnen, aber alles war immer noch wie zuvor. Das Theodor-Heuss-Gymnasium in Dinslaken war kein Ort, an dem Optimismus und Zuversicht (oder auch nur irgendetwas anderes als genereller Weltschmerz) gedeihen und aufblühen konnten.
Ich hatte gerade im Januar (genauer: am 7., als ich mir bei einem Ausflug nach Essen den Soundtrack zu „Absolute Giganten“ gekauft hatte) begonnen, abends zum Einschlafen Musik auf meinem Discman zu hören. Nicht etwa ganze Alben, sondern drei Songs, sauber kuratiert. „The Man Who“ bot sehr viele dieser Songs. Noch heute kommt eine ganze Welle sehr spezifischer Emotionen hoch, wenn das Intro von „Driftwood“, die ersten Takte von „Turn“ oder das Gitarrensolo aus „As You Are“ erklingen. Es ist wieder Anfang 2000 und ich war vor ein paar Tagen mit meinem Papa und meinen Freunden in die Großstadt (Duisburg) gefahren, um im dortigen Arthouse-Kino „Ghost Dog“ von Jim Jarmusch oder „The Million Dollar Hotel“ von Wim Wenders zu sehen — Filme, die im Kern schon irgendwie lebensbejahend sind, aber in erster Linie schwelgerisch, melancholisch, langsam und rätselhaft. (Und falls sich jemand gefragt hat: Natürlich habe ich an meinem 17. Geburtstag um kurz nach Mitternacht „Why Does It Always Rain On Me?“ gehört, dessen titelgebende Frage ja weitergeht: „Is it because I lied when I was seventeen?“)
„Everyday I wake up alone because / I’m not like all the other boys“, singt Fran Healy zu Beginn von „As You Are“ und diese Zeile sollte mir in den kommenden Jahren so etwas wie Mantra und Trost werden, steter Begleiter beim Melodramatisch-unglücklich-verliebt-Sein, Die Leiden des jungen Heinsers. (Alter Vatter, was bin ich froh, dass diese Zeiten vorbei sind! Kinder, wenn Ihr glaubt, dass Euer Leben nur mit einem anderen Menschen an Eurer Seite „gut“ und „richtig“ werden kann: Sucht Euch Hilfe! Ihr werdet geliebt, Ihr seid liebenswert, aber die Existenz oder Nichtexistenz einer Zweierbeziehung ist in diesem Kontext eben genau: zweitrangig.)
Vielleicht wäre ich auch ohne „The Man Who“ auf die Idee gekommen, Musik zu machen, Schlagzeug in einer Band zu spielen, mir selbst Gitarre beizubringen und eigene Songs zu schreiben. Die hätten aber zumindest sehr anders geklungen, denn Travis waren, was traurig-antriebslose Songs in G-Dur betrifft, ein großer Einfluss. Weil ich wusste, dass die Bandmitglieder Joni Mitchell so sehr lieben, habe ich mit 18 angefangen, Joni Mitchell zu hören. Ich hatte sogar so einen faux hawk wie Fran Healy (oder wahlweise David Beckham)! Chris Martin hat mal gesagt, dass es ohne Travis kein Coldplay gegeben hätte, aber den vier Schotten jetzt die Schuld an der weiteren Entwicklung seiner Kapelle zu geben, wäre auch üble Nachrede.
Im Juni 2001 erschien der Nachfolger „The Invisible Band“, der heute eigentlich einen noch größeren Stellenwert bei mir hat. Als wir erstmal schnelles Internet hatten, habe ich alle, wirklich alle B-Seiten, die Travis jemals auf ihren Singles veröffentlicht hatten, zusammengesammelt und sicherlich öfter gehört als große Teile ihres Spätwerks. („Die B-Seiten britischer Gitarrenbands zwischen 1994 und 2002 sind besser als alles, was nach 2005 von der Insel kam“ ist ein immer noch nicht geschriebener, aber in regelmäßigen Abständen namhaften deutschen Publikationen angebotener Text von mir.) Ich habe Travis zwischen Sommer 2001 und Dezember 2016 sieben Mal live gesehen (einmal sogar tatsächlich am gleichen Abend wie Ben Folds) und ein paar Mal kurz gesprochen; im September könnte ein achtes Mal hinzukommen. Ihre letzten Alben haben mich gar nicht mehr interessiert, aber wenn einem eine Band mal so wichtig war, versucht man es ja doch immer wieder.
Und irgendeine besondere Beziehung muss es immer noch geben: Ich hätte diesen Text hier eigentlich gestern schon schreiben wollen, aber nicht die Zeit gefunden. Da hätte aber auch die Sonne geschienen. Heute passt hingegen alles: Der VfL Bochum ist so gut wie abgestiegen und es regnet. Weil ich mit 17 gelogen habe.
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Lukas blickt kurz zurück auf den 69. Eurovision Song Contest, wo schon wieder ein Song gewonnen hat, den wir in unserer ESC-Vorschau nicht gespielt hatten: „The Code“ von Nemo aus der Schweiz.
Dann gibt es neue Songs von Maro, The Decemberists, Amilli, Ider — und den ersten interessanten Travis-Song seit langer Zeit.
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Alle Songs:
Nemo – The Code
Maro feat. Nesaya – Lifeline
Blush Always feat. Brockhoff – Bigger Picture
The Decemberists feat. James Mercer – Burial Ground
Dieser Eintrag ist Teil 6 von bisher 10 in der Serie 1999
Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.
Am Anfang waren die Songs. Ich weiß gar nicht, welche alle als Single ausgekoppelt wurden und wo ich sie vielleicht gehört habe — am Ende ist es auch egal, denn „Play“ ging ja auch deshalb in die Geschichtsbücher ein, weil es das erste komplett durchlizenzierte Album war: Jeder einzelne Track wurde für (mindestens) einen Werbespot, einen Film und/oder eine Serie verwendet. Im Radio und in Cafés laufen die Songs eh immer noch rauf und runter, als seien sie Teil des dortigen Sound-Designs. (Selbst als ich vergangene Woche dem Deutschlandfunk Kultur ein Interview zum ESC in Malmö gegeben habe, lief vor dem Gespräch irgendein Song aus diesem Album. Es zahlt ein bisschen auf meine hier aufgestellte Muzak-These ein, dass ich nicht sagen kann, welcher, aber ich bin mir absolut sicher, dass es einer von diesem Album war.)
Gekauft hab ich „Play“ von Moby auch erst etwa anderthalb Jahre nach dem Release — obwohl diese Songs damals schon allgegenwärtig schienen. Das Konzept, Musik zu „besitzen“ ist im Jahr 2024 ja nicht nur Nachgeborenen schwer zu vermitteln, sondern fast allen, aber es war eben unabdingbar, 30,99 D-Mark für diese CD zu bezahlen, sie im Rucksack auf dem Rücken mit dem Fahrrad vom R&K-Markt nach Hause zu fahren und dann ins DVD-Rom-Laufwerk des Computers zu schieben, um sie über die PC-Boxen abzuspielen. Opa erzählt vom Frieden.
Obwohl ich die vorherigen Hit-Singles von Moby schon aus „Hit-Clip“, von 1Live und von „Bravo Hits“ kannte, umwehte diese Musik etwas Erwachsenes, ja, regelrecht: Kosmopolitisches. So, dachte ich damals, klingt Dinslaken nicht. Der Big Beat von „Bodyrock“ und „Machete“, die Blues- bzw. Gospel-Samples von „Honey“ und „Run On“, die Kaffeehaus-Electronica von „7“ und „Down Slow“ — so etwas kannte man in der Kleinstadt nur aus dem Fernsehen. (Heute hat Dinslaken seine eigenen Hipster-Szenen und -Kneipen und diese Entwicklung ist durchaus zu begrüßen, bremst sie doch die Gentrifizierung in den Großstädten wenigstens minimal ab.)
Moby selbst war bekannt als der knuffige, ausgesucht freundliche, manchmal ein ganz kleines bisschen nervende Veganer mit der Glatze. Womöglich hätte man ahnen können, dass bei ihm nicht alles im Lot war und er mit psychischen Problemen, Alkohol und anderen Drogen kämpfte; „Play“ war ein eher melancholisches Party-Album, vor allem in der zweiten Hälfte. Und allein die Songtitel: „Why Does My Heart Feel So Bad?“, „Natural Blues“, „My Weakness“. Aber als schwermütiger 17-jähriger Individualist bezieht man das alles natürlich ausschließlich auf sich selbst und denkt nicht mal an den Künstler.
„Play“ war da schon lange ein unfassbarer weltweiter Erfolg und alle Labels, die das Album abgelehnt hatten, hatten sich vielleicht kurz geärgert. Moby, dessen Output bis dahin eher eklektisch gewesen war, hatte seine Nische gefunden und liefert seitdem verlässlich den Soundtrack zu Werbespots, Serien, Filmen und Leben.
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Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.
Was für ein merkwürdiges Album: Um das ehemalige Take-That-Mitglied Robbie Williams auch auf dem amerikanischen Markt groß zu machen, hatte Capitol Records einfach Songs seiner ersten beiden Alben zusammengewürfelt und auf den Markt gebracht. Das Ganze war natürlich gar nicht für europäische Plattenläden gedacht gewesen und entsprechend teuer und schwer zu bekommen, aber andererseits hatte man alle Hits und ein paar unbekanntere Songs auf einem Album. Klar, dass ich mir das zu meinem 16. Geburtstag wünschen musste!
Meine liebsten Boybands der 1990er Jahre: 1. East 17, 2. Boyzone, 3. Take That. Natürlich waren die Konventionen zu dieser Zeit noch so, dass man als Junge mit 12, 13 Jahren eine solche Boyband eher doof zu finden hatte, und so war Robbie Williams schon dadurch cool geworden, dass er diese Band verlassen hatte.
Aber auch die Singles, die man danach von ihm im Radio hören konnte, waren gut. Für einen Jungen, der über die Hits von Oasis, Blur und The Lightning Seeds gerade mit dem Konzept „Britpop“ in Kontakt gekommen war, waren Songs wie „Strong“, „No Regrets“ oder „Old Before I Die“ konsequente Ergänzungen — und auch heute halte ich „Strong“ immer noch für einen der besten Oasis-Songs, den Noel Gallagher nie geschrieben hat.
Was für ein großartiges Album: Da waren nun wirklich die ganzen Hits, die ich aus dem Radio kannte, plus so deep cuts wie „Win Some Lose Some“, „Jesus In A Camper Van“ (ein Song, der später wegen Urheberrechtsstreitigkeiten aus Williams’ gesamtem Schaffen gelöscht wurde) und „Karma Killer“ (eine von Streichern angetriebene Alternative-Rock-Abrechnung mit dem ehemaligen Take-That-Manager Nigel Martin-Smith). Im Herbst 1999 wurde „The Ego Has Landed“ (Entschuldigung, was ist das überhaupt für ein genialer Albumtitel?!) mein treuester Begleiter und noch heute kommt „No Regrets“ für mich nach „Millennium“ und nicht wie auf dem originalen Album „I’ve Been Expecting You“ davor.
Natürlich habe ich mir später doch noch die beiden Alben „Life Thru A Lens“ und „I’ve Been Expecting You“ gekauft, so wie ich mir zwischen 2001 und 2006 alle Singles und bis 2013 alle Alben gekauft habe. Zwischen 2000 und ungefähr 2005 war Robbie Williams, das ist für Nachgeborene auch nur noch schwer vorstellbar, unangefochten das, was man eigentlich immer über Michael Jackson gesagt hatte: King of Pop. (Warum er erst 2012 ein Album „Take The Crown“ genannt hat, weiß er auch nur selbst.) Es gab ganze Robbie-Tage bei MTV und er ist bis heute der einzige Act, für den ich an einem Samstagmorgen um halb Acht aufgestanden bin, um in einem physischen Ticket-Shop Konzertkarten zu erwerben. Entsprechend bedrückend fand ich es, in der Netflix-Doku-Serie über sein Leben zu erfahren, dass er, als er uns um die Jahrtausendwende so viel Freude und so viele Evergreens bereitet hat, eigentlich die ganze Zeit unglücklich war. Dabei hatte er uns das – „You think that I’m strong / You’re wrong“ – ja auch immer gesagt.
Für jemanden, der sich Weiß-Gott-was auf seinen Musikgeschmack jenseits des Mainstreams eingebildet hat, war Robbie Williams natürlich auch immer ein Anknüpfungspunkt zu den Mädchen der eigenen Jahrgangsstufe. Er war einer der wenigen Radio-Acts, die einen cooler machten, wenn man signalisierte, seine Musik zu hören. Es gibt so viele seiner Songs aus dieser Zeit, deren Texte schon damals zu mir sprachen und es auch heute noch tun, dass es sich, wenn ich sie heute höre, fast so anfühlt, als könnten der 40-jährige Lukas und sein 16-jähriger Vorgänger durch die Musik miteinander sprechen.
Als der übertrieben kumpelige Moderator auf WDR 4 (of all places), vor einiger Zeit „Feel“ als „einen der Klassiker von Robbie Williams“ ankündigte, dachte ich, ernsthaft überrascht: „Für mich ist ‚Escapology‘ immer noch das ‚neue‘ Album!?“ Es erschien im Herbst 2002.
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Folgende wahre Geschichte: Als ich Neil Hannon von The Divine Comedy im Jahr 2006 interviewt habe, hab ich ihn natürlich auch auf „No Regrets“ angesprochen — und warum er so viel schwieriger zu hören sei als der andere Gast-Sänger, Neil Tennant von den Pet Shop Boys. Hannon erzählte mir, dass Tennant zufällig im Studio gewesen sei, als der Song gemischt wurde, und den Audio-Ingenieur einfach gebeten habe, die eigene Spur ein wenig lauter zu drehen. Ich habe diese Anekdote nicht zu verifizieren versucht, weil ich den Rock’n’Roll-Mythos dahinter nicht zerstören wollte.
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