Düsseldorfs Oberbürgermeister Joachim Erwin ist in der Nacht zum Dienstag verstorben und da er bereits seit längerem schwer krank war, lagen die Nachrufe natürlich schon fertig getippt in der Schublade.
Während die “Rheinische Post” in salbungsvollen Worten auf das Leben und Wirken zurückblickt, während sogar politische Gegner lobende Worte für den wirklich nicht unumstrittenen Verstorbenen finden, entschied sich die “Neue Rhein Zeitung” (“NRZ”) für einen ganz anderen, eher gewagten Weg: über dem Artikel des Düsseldorfer Redaktionsleiters Frank Preuss prangt zwar das Wort “Nachruf”, aber eigentlich handelt es sich um eine vermutlich lange geplante Abrechnung:
Wer, schwerstkrank und abgemagert, die Öffentlichkeit wissen lässt, dass er am Tag der Arbeit mit Verkehrsplanern in seinem Garten diskutiert, löst nicht Bewunderung aus, sondern Mitleid. Das gilt auch für den, der immer wieder verkündet, wie viele Urlaubstage er der Stadt doch schenke. Wenn es um Düsseldorf ging, dann ging es vor allem um ihn: Vorschläge, die andere machten, hatten kaum Überlebenschancen. Und Erwin genoss über seine gesamte Amtszeit die Mär, dass ohne ihn nichts funktionieren könne in dieser Stadt.
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Erwin, Schnelldenker mit stoiberscher Aktenkenntnis, enormem Fleiß und unbremsbarer Entscheidungsfreude, aber auch unbeherrscht und ohne Korrektiv, war einer, der sich noch selbst vergötterte, wenn andere ihn längst gelobt hatten. Dem es nicht langte, Siege still und damit stilvoll zu genießen: „Ich schwimme auf einer Woge der Begeisterung”, diktierte er Journalisten Ende 2000. Seine Eigenwerbung nahm bald krankhafte Züge an. Sich selbst zu hinterfragen, lag nicht in seinem Universum, Kritiker bügelte er in oft kleinkarierter Form ab. Dass erst Souveränität Größe ausmacht, hat sich ihm nie offenbart.
Nie Fragen, nur Lektionen
Und als er Rudi Assauer, dem Manager des FC Schalke 04, beim Anblick der Gelsenkirchener Arena einen Vortrag darüber hielt, wie man so etwas besser bauen könne, teilte der staunend Belehrte das Schicksal aller Gesprächspartner Erwins: Der glaubte nicht nur alles besser zu wissen, er glaubte es auch besser zu können. Joachim Erwin stellte nie Fragen, er erteilte Lektionen.
Eine Charakterschwäche, die den Ruf der Landeshauptstadt in der Nachbarschaft als Heimstatt der Großspurigen zementierte und Versuche regionaler Zusammenarbeit oft im Keim erstickte. Niemand hatte Lust, sich vorführen zu lassen. „Wer nur geliebt werden will, kann nichts gestalten”, begründete Erwin und gewährte sich so Asyl.
Die Liste derer, die er menschenverachtend behandelte und beleidigte, ist lang. Letztes Opfer: die von ihm nicht erwünschte Umweltdezernentin. Mit Medikamenten vollgepumpt wurde er selbst im Angesicht des Todes nicht entspannter, nur im Ton sanfter. Man müsse auch „mal hören, dass man ein Arsch ist”, hat er bei einem Vortrag einst gesagt. Nur: Wer hätte sich das in einem Klima der Angst getraut?
In den Kommentaren entsponn sich sogleich eine ausgiebige Diskussion (so also kriegt DerWesten seine Community ans Laufen), ob man denn sowas machen könne: eintreten auf einen, dessen Leichnam noch nicht mal kalt ist.
Es gibt Lob für die mutige Entscheidung:
Es gibt und gab nicht viele Journalisten die sich trauen einen Teil der Wahrheit über Herrn Erwin zu schreiben. Einer davon war Herr Preuss.
Die meisten anderen haben geschwiegen.
Es gibt böse Kommentare, die sogar extra das Wort “Schreiberling” aus dem “Ratgeber für erzürnte Leserbriefschreiber” herausgesucht haben:
Der Mann, der da geschrieben hat ist ein völlig unerträglicher Mensch, der von normalen mitteleuropäischen Umgangsformen offensichtlich noch nie etwas gehört hat. Kein Aushängeschild für die Zeitung, sondern einfach nur ein erbärmlicher, mediokrer, kleiner Schreiberling, der an das Niveau eines Joachim Erwin niemals heranreichen wird.
An diesem sehr konkreten Beispiel kann man eine zentrale Frage diskutieren, die nicht nur für den Journalismus, sondern für unsere ganze Kultur wichtig ist: Wie geht man mit Verstorbenen um, über die man bedeutend mehr Schlechtes als Gutes sagen könnte? Streng genommen könnte man lobhudelnde Nachrufe als unjournalistische Lügengeschichten brandmarken und sich über die Aufrichtigkeit von “Schreiberlingen” wie Frank Preuss freuen. Andererseits fallen Sätze wie “eigentlich war er ja schon ‘n Arsch” für gewöhnlich frühestens beim dritten Schnaps nach dem Beerdigungskaffee und nicht unbedingt am offenen Grab.
Das Geheimnis dahinter heißt Pietät und sorgt unter anderem dafür, dass man die Frage “Wie sehe ich aus?” mitunter nicht ganz wahrheitsgemäß beantwortet. Wer das für Lügen hält, findet es vermutlich auch “aufrichtig”, wenn er von unfreundlichen Supermarktkassiererinnen angepflaumt wird.
Letztlich muss wohl jeder für sich selbst beantworten, was schlimmer ist: Ein Nachruf, der die Formulierung “den wären wir los” nur unter Anstrengung vermeidet, oder die Staatstrauer-Ambitionen von “RP Online” (nicht unter “Düsseldorf verliert sein Herz” zu haben), “Center TV” und WDR. Vielleicht auch einfach beides.