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Musik Leben

25 Jahre „Equally Cursed And Blessed“

Die­ser Ein­trag ist Teil 3 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Catatonia - Equally Cursed And Blessed (abfotografiert von Lukas Heinser)

Radio Boh­len, jeden­falls, schloss im Som­mer 2001 für immer sei­ne Türen. Der Ort, an dem mei­ne Eltern (und Groß­el­tern) nahe­zu alle Fern­se­her, Video­re­cor­der und Ste­reo­an­la­gen gekauft hat­ten, und an dem ich auch ein paar CDs erstan­den hat­te (ein ganz paar: R&K und Kar­stadt waren meist güns­ti­ger gewe­sen – und ich hat­te die Prei­se natür­lich oft ver­gli­chen), mach­te nach Jahr­zehn­ten dicht. Der Ver­kaufs­raum war eine die­ser 1950er-Jah­re-Extra­va­gan­zen gewe­sen, die man zu ebe­ner Ebe­ne betrat (Kas­se, Kopf­hö­rer und ande­res Zube­hör), um dann wahl­wei­se eine hal­be Eta­ge hin­ab- (Fern­se­her, Ste­reo­an­la­gen, Boxen, Laser­disc-Play­er) oder hin­auf­zu­stei­gen (CDs, Band-T-Shirts, Pos­ter und letz­te Vinyl-Schall­plat­ten, die damals wirk­lich out waren). Abso­lut nicht bar­rie­re­frei (dabei hat­te Deutsch­land in den 1950er Jah­ren über einen außer­ge­wöhn­lich hohen Bevöl­ke­rungs­an­teil von Men­schen mit feh­len­den Glied­ma­ßen ver­fügt) und beim anschlie­ßen­den Umbau zu einem DM ordent­lich nivel­liert (schö­ne 50er-Jah­re-Trep­pen­ge­län­der kann man sich schließ­lich auch woan­ders anschau­en).

Die letz­te CD, die ich bei einer die­ser für alle Betei­lig­ten immer etwas ent­wür­di­gen­den, Aus­ver­kauf gehei­ße­nen, Lei­chen­fled­de­rei­en erstand (und das unge­hört), war „Equal­ly Cur­sed And Bles­sed“, das drit­te Album der wali­si­schen Band Cata­to­nia. Die hat­te ich, wie schon die Ste­reo­pho­nics, als Gäs­te auf dem Tom-Jones-Kar­rie­re-Revi­ta­li­sie­rungs­werk „Rel­oad“ ken­nen­ge­lernt und es muss, wenn ich mich nicht sehr irre, der ers­te Act mit weib­li­cher Stim­me gewe­sen sein, der sei­nen Weg in mei­ne CD-Samm­lung fand. Kos­te­te glaub ich auch nur noch acht Mark oder so.

Was mich zuhau­se beim ers­ten Hören erwar­te­te war das, was ich mir als Noch-nicht-18-Jäh­ri­ger unter „Musik für Erwach­se­ne“ vor­stell­te: ein biss­chen über­dreh­ter, ein biss­chen coo­ler und ein biss­chen cle­ve­rer als das, was meist auf 1Live und WDR2 lief. Ich mal­te mir aus, dass Men­schen um die 30, die in schi­cken Apart­ments in Lon­don wohn­ten und in den Medi­en arbei­te­ten, sol­che Musik bei ihren din­ner par­ties auf­le­gen wür­den. Aus irgend­ei­nem Grund stell­te ich mir ziem­lich genau das Set­de­sign der „About A Boy“-Verfilmung vor, ein Jahr, bevor der Film raus­kam.

Sän­ge­rin Cerys Matthews hat­te eine Stim­me, die klang, als hät­te Tiffy aus der „Sesam­stra­ße“ mit dem Trin­ken und Rau­chen ange­fan­gen, und sie sang bis­si­ge, gelang­weil­te Gesell­schafts­kom­men­ta­re; man­che Text­zei­len über­ra­schen auch Jahr­zehn­te spä­ter („The ad begs, ‘Buy bot­t­led water‘ /​ But we know that it tas­tes of piss /​ Should be get­ting our tam­pons free /​ DIY gyneco­lo­gy“). Das Album wur­de Teil mei­nes Som­mer-Sound­tracks und tat­säch­lich klin­gen die meis­ten Songs für mich auch heu­te noch nach dem leich­ten Wind, der an hei­ßen Som­mer­ta­gen über die nie­der­rhei­ni­sche Land­schaft kriecht: Könn­te auch noch schwül wer­den, könn­te noch gewit­tern, aber wir wür­den bei irgend­wel­chen Schul­freun­den, deren Eltern ohne sie in den Urlaub gefah­ren waren, unter der Mar­ki­se sit­zen.

Track 2 – und damit tra­di­tio­nell das kla­re High­light, die kla­re Sin­gle – ist ein Hass­lie­bes­lied auf Lon­don: „Lon­di­ni­um“ beklagt die hohen Lebens­hal­tungs­kos­ten, den dich­ten Ver­kehr und den ver­lo­ge­nen Show­biz-Gla­mour mit einem unfass­bar ein­gän­gi­gen Refrain, der Bahn­hö­fe und Taxen zusam­men­bringt. In mei­ner leb­haf­ten Phan­ta­sie ent­stand eine roman­ti­sche Komö­die um Men­schen, die bei einem Stadt­ma­ga­zin namens „Lon­di­ni­um“ arbei­te­ten. (Fuck, viel­leicht habe ich aus Ver­se­hen „Tat­säch­lich Lie­be“ erfun­den!)

Cata­to­nia ver­öf­fent­lich­ten im glei­chen Som­mer ihr vier­tes Album, das ich nie gehört habe; die Band lös­te sich kurz dar­auf auf. Ich habe „Equal­ly Cur­sed And Bles­sed“ mehr als zehn Jah­re lang nicht gehört, aber die Musik erschafft immer noch far­ben­fro­he Bil­der in mei­nem Kopf. Nur die Men­schen sind inzwi­schen Mit­te Fünf­zig und zum zwei­ten Mal geschie­den.

Cata­to­nia – Equal­ly Cur­sed And Bles­sed
(Blan­co y Negro; 12. April 1999)
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