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Literatur

Aus den Papierkörben der Weltliteratur (2)

Auf meiner Festplatte habe ich weitere Texte gefunden, die vor mehr als einem halben Jahrzehnt entstanden sind, bei denen ich aber der Meinung bin, dass man sie zumindest noch mal zur Blogverfüllung nutzen kann.

So zum Beispiel der nun folgende Text, der im Deutschunterricht bei eben jener Lehrerin entstand. Die Aufgabe war es, einen Text zu einem Bild zu schreiben, auf dem sich ein Mann mit beiden Händen an einer Art Zaun abstützt, der sich in der Mitte zu öffnen scheint. (Ich hätte dieses Bild gerne eingescannt, habe es aber nicht mehr gefunden.)

Deshalb steht über dem Text auch “Am Zaun”. Der Text und die Fußnoten sind auf dem Stand vom 7. Juni 2001 und wurden nur behutsam an die gängigen Rechtschreibregeln angepasst.

Am Zaun

„Es ist nicht schön allein zu sein, zum Beispiel hier im Freizeitheim, zum Beispiel hier am Imbissstand, ein leeres Bier in deiner Hand.“ Tocotronic – Morgen wird wieder heute sein

Der junge Mann schleppte sich durch die dunklen Straßen der Stadt. Soeben hatte er sein letztes Bargeld dem missgelaunten Wirt einer Kneipe, die schon lange vom Gesundheitsamt hätte geschlossen werden müssen, in die Hand gedrückt und nun hatte er gar kein Ziel mehr. Natürlich hatte es gerade angefangen zu regnen und natürlich trug der junge Mann nur einen Pullover. „Why does it always rain on me?“1 sang der junge Mann, als er in einer Garageneinfahrt halbwegs Unterschlupf gefunden hatte.
Das Lied machte ihn noch trauriger, als er eh schon war. Es erinnerte ihn an die gemeinsame Zeit, die er mit seiner Freundin gehabt hatte, eben jener Freundin, die ihn am Morgen verlassen hatte und wegen der er nun betrunken und nass bis auf die Knochen durch die Stadt zog, zu einer Zeit, zu der normale Menschen schon schliefen, zumindest aber mit ihren Familien vor dem Fernseher saßen.
Normale Menschen! Der junge Mann dachte darüber nach, was „normal“ für eine Bedeutung haben könnte. Was war in dieser Welt normal? Bis gestern war es für ihn normal, dass er mit der Frau zusammen war, die er liebte, aber diese Normalität hatte sich inzwischen ähnlich zersetzt wie die Zeitung, die im Rinnstein auseinander floss. Der junge Mann musste schlucken, war aber auch über sich selbst verärgert. Wie hatte er diese Zeitung (noch dazu eine Boulevardzeitung vom Vortage!) als Metapher für seine Beziehung wählen können?
Der Regen hatte sich wieder etwas beruhigt und der junge Mann zog weiter. Ein großes Auto mit außerordentlich hellen Scheinwerfern fuhr in Schrittgeschwindigkeit an ihm vorbei. Der Fahrer hatte die Scheibe heruntergekurbelt, damit die Subwoofer-verstärkten Hip Hop-Klänge noch besser zur Geltung kamen und vielleicht auch noch ein paar Menschen aufweckten. Der junge Mann warf einen kurzen Blick ins Innere des Wagens: der Fahrer schien alleine zu sein. War es normal, nachts allein durch die Straßen zu rollen, schlechte Musik irre laut aufgedreht und das Fenster heruntergekurbelt? „Ist es normal, nur weil alle es tun?“2
Der junge Mann spürte, dass er einer Sinnkrise gefährlich nahe kam. Einer peinlichen, Beziehungskomödien-Sinnkrise, der er sich aber gar nicht erwehren konnte. Tageszeit und Wetter trugen ihr Übriges zur miesen Stimmung des jungen Mannes bei. Mit einem Mal fühlte er sich, als fiele er in ein metertiefes Loch. Er musste sich irgendwo festhalten. „Tief einatmen!“, dachte er sich. Das hatte auch seine Freundin immer gesagt.
Nach kurzer Zeit ging es ihm wieder besser und er musste sich erst mal einiger Dinge klar werden: wo war er hier eigentlich? Warum war er hier? Was machte ihn so wahnsinnig traurig und wütend zugleich? Das Wo würde sich an der Kreuzung da hinten hoffentlich klären. Und das Warum hing wohl direkt mit dem Grund für seine Gefühle zusammen. Und das war ja immer noch die Freundin. Er kam sich so klischeehaft vor und das machte ihn noch wütender, weil er somit seine eigene Situation nicht mal richtig ernst nehmen konnte. Jetzt hätte er wirklich losheulen können, aber das wäre ja noch alberner gewesen. Oder doch normal? „Boys don’t cry“3 sagte sich der junge Mann und schleppte sich weiter.
Als er die Kreuzung erreichte, wusste er immer noch nicht, wo er war. Die dreckige Kneipe, in der er sein letztes Geld gelassen und dafür einen brummenden Schädel erhalten hatte – ein fairer Tausch, wie er fand – hatte er noch zu Fuß aufgesucht, direkt von seiner Wohnung aus. Also konnte er gar nicht so weit von zu Hause weg sein, dachte er.
Er hatte wieder das dringende Bedürfnis, sich irgendwo festzuhalten. An der Straße stand ein dichter Lattenzaun, der die Blicke vom Rohbau eines Wohn- und Geschäftshauses mit zweifelhafter Fassade fernhalten sollte. Der Zaun war mit Plakaten zugeklebt. Plakate für einen Circus, für einige Diskotheken, die mit Sicherheit nur schlechte Musik spielen würden, und für ein Konzert der Toten Hosen in der Nachbarstadt.
„Wunderbar!“ dachte sich der junge Mann und stellte sich vor den Zaun. Und wenn man schon mal betrunken vor einem Plakat der Toten Hosen steht, kann man auch gleich kotzen. Der junge Mann beugte sich deutlich vor, um nicht seine eigenen Schuhe zu treffen, musste sich dann aber, um nicht auch noch das Gleichgewicht zu verlieren, mit beiden Händen am Zaun abstützen. Er öffnete seinen Mund und wartete. Nach wenigen Augenblicken schoss ein Schwall einer höchst unappetitlichen Substanz aus seinem Mund und platschte gegen den Bauzaun. Der junge Mann schüttelte sich und hatte plötzlich das Gefühl, als würde er sich mit einem Teil des Bauzauns bewegen. Es erschien ihm ganz selbstverständlich, dass der Zaun sauber auseinanderbrach und er von irgendetwas hellem angezogen wurde. Er hätte auf Elvis und die Jacob Sisters treffen können, und wäre doch kein bisschen verwirrt gewesen. Nach zweimaligem Nachlegen ging es ihm deutlich besser.
Er wischte sich den Mund mit dem völlig durchnässten Pulloverärmel ab und drehte sich langsam in Richtung Straße. Er erschrak, als er das Mädchen neben sich stehen sah. Es reichte ihm gerade bis zur Brust, war höchstens 17 und lächelte ihn an.
„Hi, ich bin Lisa“, sagte sie und der junge Mann war etwas beunruhigt, nachts auf offener Straße von wildfremden kleinen Mädchen angesprochen zu werden. Er konnte sich zu einem – wie er hoffte – halbwegs freundlichen Lächeln durchringen.
„Geht’s Ihnen nicht gut?“ fragte Lisa und der junge Mann fühlte sich plötzlich so alt, weil sie ihn gesiezt hatte. Aber war das nicht normal?
„Danke, es geht“, murmelte der junge Mann. Es ging ja auch. Nur nicht besonders gut.
„Wirklich?“ fragte Lisa. Der junge Mann betrachtete sie nun etwas genauer. So genau wie es das Licht der Straßenbeleuchtung zuließ. Das erste, was ihm auffiel, war ihr Nasenring – „It’s poetry, sheer poetry, the way you destroy your beauty“4. Dann sah er ihr blondes Haar, das nicht sonderlich gepflegt aussah und ihr Gesicht, mit dem sie nie in einer Vorabendserie landen würde. Er mochte sie sofort. Nicht so, wie er seine Freundin gemocht hatte (Wieder Wand? Nein, es ging!), sondern ganz anders. In ihren Augen glaubte er Seelenverwandtschaft zu sehen. Er drehte sich doch lieber wieder der Wand zu. Er ließ sich von kleinen Mädchen ansprechen, die wahrscheinlich für irgendwelche osteuropäischen Zuhälter arbeiteten, die ihn gleich zusammenschlagen würden, wenn er ihnen nicht dreihundert Mark für das Gespräch mit dem Mädchen zahlte. Das zumindest wäre normal gewesen, dachte er.
„Es geht dir nicht gut!“ stellte Lisa fest und fast hätte er überhört, dass sie ihn jetzt duzte. Er drehte sich zu ihr um.
„Du hast Recht!“ sagte er und bemerkte, dass auch sie inzwischen gänzlich nass geregnet war. „Es geht mir total beschissen!“ Ihm war immer noch nicht klar, was Lisa wollte, aber es erschien im sinnvoll, seine Lage erst mal für Außenstehende zusammengefasst zu haben. Jetzt war es wenigstens offiziell.
„Warum?“ fragte Lisa und irgendwie hatte der junge Mann das Gefühl, es interessiere sie wirklich.
„Meine Freundin hat mich verlassen“, sagte der junge Mann so emotionslos, dass es ihn selbst verwirrte.
Lisa sagte „Oh!“ und es erschien dem jungen Mann als das mitfühlendste Oh, das er je gehört hatte. Es ging ihm wirklich total beschissen.
„Möchtest du mit raufkommen?“ fragte Lisa und als sie sah, dass der junge Mann sie nicht verstand, sie jedenfalls nicht so verstehen wollte, erklärte sie, dass sie mit ihrer Mutter, die gerade Nachtschicht habe, auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohne. Nach dem Vater brauchte der junge Mann nicht zu fragen, das war ja normal.
„Möchtest du Kaffee oder Tee trinken? Zumindest erst mal aus dem Regen rauskommen?“
Der junge Mann blies seine Pläne der konsequenten Selbstzerstörung ab und sagte „Ja“. Das Wasser stand schon in seinen Schuhen.

Als der junge Mann die Wohnung betrat, in der Lisa mit ihrer Mutter lebte, wurde ihm klar, warum Lisa so aussah, wie sie aussah: Altbau, Holzregale, große Plakate von Greenpeace und Frauenverbänden an den Wänden, ökologisch abbaubare Hausschuhe neben der Tür. So eine Wohnung hatte der junge Mann zuletzt in den Achtzigern betreten, als er seine Tante in ihrer WG in Bonn besucht hatte. Ein vollbärtiger Latzhosenträger hatte versucht, sich mit dem damals sechsjährigen jungen Mann über Atomkraft zu unterhalten. Seitdem mied der junge Mann solche Orte, aber draußen regnete es in Strömen und Lisa war kein vollbärtiger Latzhosenträger.
„Tee oder Kaffee?“ fragte Lisa, die an ihm vorbei in die Küche gegangen war. Damals hatte es nur Tee gegeben, aus braunen Tonkannen.
„Kaffee“, sagte er und freute sich auf unverfälschten peruanischen Hochlandkaffee, der von glücklichen Indiobauern selbst vermarktet wurde und deshalb das dreifache des normalen Preises kostete. Aber wieso nicht? Dafür mussten die Indiobauern nicht im Regen schlafen.
Lisa hatte Kaffeewasser aufgesetzt und ging wieder über den Flur. „Ich zieh mir nur eben was trockenes an, du kannst dich schon mal in die Küche setzen!“
Der junge Mann hatte sich inzwischen von Schuhen, Socken und Pullover getrennt und schlurfte in die Küche. Über der Tür hing ein Plakat von The Who. „Talkin’ bout my generation”5, dachte der junge Mann und musste lächeln, zum ersten Mal seit heute Morgen.
Lisa kam zurück und trug jetzt ein The-Clash-T-Shirt. In diesem Haushalt war die Zeit stehen geblieben, aber das gab dem jungen Mann ein Gefühl von Geborgenheit. An so etwas erinnerte er sich und er fragte sich, ob in zwanzig Jahren die Generation seiner Kinder auch mit um 180 Grad gedrehten, roten Baseballkappen herumlaufen würde.
Das Kaffeewasser war fertig und Lisa goss es in eine Bodumkanne zum selbst drücken. „Dauert noch ein bisschen“, sagte sie, während sie zwei Steinguttassen aus dem Schrank nahm. Der junge Mann nickte ihr zu.
„Möchtest du jetzt reden?“ fragte Lisa und der junge Mann atmete tief durch. Dann erzählte er ihr von seiner Freundin, wie er sie kennen gelernt hatte, wie sie aussah, wie sehr er sie mochte und warum sie ihn verlassen hatte. Lisa hörte zu, goss zwischendurch Kaffee ein und unterbrach ihn nur, wenn sie etwas nicht ganz verstanden hatte. Als er am Ende angekommen war, lächelte er sie an.
Lisa nickte stumm. Dann stand sie auf und verließ das Zimmer. Nach kurzer Zeit kam sie mit einer Kassette in der Hand zurück. „Ich hab was für dich“, sagte sie und gab ihm die Kassette.
„Danke!“ sagte der junge Mann. „Danke auch für den Kaffee!“
„Schon okay“, sagte Lisa.
„…und fürs Zuhören!“ schob der junge Mann nach. Er stand auf. Draußen dämmerte es bereits. Er zog Schuhe und Pullover wieder an und öffnete die Wohnungstür. Das Treppenhaus erinnerte ihn an irgendetwas. Er trat aus der Wohnung und bedankte sich noch mal bei Lisa. Sie schloss die Tür hinter ihm und er ging die Treppen hinab, bis er sich vor seiner eigenen Wohnungstür wiederfand.

Lisa und ihre Mutter hatten die ganze Zeit über ihm gewohnt, ohne dass er je Notiz von ihnen genommen hätte! Kopfschüttelnd ging er ins Wohnzimmer und legte Lisas Kassette in die Stereoanlage. „Dies ist kein Brief, nur eine Straßenkarte, auf der ich mit dem Finger entlang fahre, während ich auf Antwort warte“6, sang ein Mann zu einer feinen Gitarrenbegleitung.
Der junge Mann legte sich auf den Boden und hörte sich fast die ganze Kassette an.
Die letzten Worte, die er hörte ehe er einschlief, waren: „So much time, so little to say“7.

1 Travis – Why Does It Always Rain On Me?
2 Die Fantastischen Vier – Ganz normal
3 The Cure – Boys Don’t Cry
4 Manic Street Preachers – Miss Europa Disco Dancer
5 The Who – My Generation
6 Tom Liwa – Eskimo
7 Ben Folds Five – Missing The War