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Musik

Alles muss Rausch!

Mit dem Begriff „Clip­ping“ wird in der Ton­tech­nik das Über­steu­ern bezeich­net, also wenn ein Audio-Signal so laut ist, dass sei­ne Kur­ve gekappt wird und Ver­zer­rungs­ef­fek­te auf­tre­ten. So gese­hen haben Clip­ping einen der pas­sends­ten Band­na­men seit den Beat­les (zumin­dest in deren Anfangs­pha­se) oder Metal­li­ca.

Wer, wie ich, so alt ist, sich noch an die Geräu­sche erin­nern zu kön­nen, die ein Modem mach­te, wenn man sich ins Inter­net ein­wähl­te, wird immer wie­der zu die­sem Rau­schen zurück­kom­men, wenn es um die Musik von Clip­ping geht — und das nicht nur, weil das Intro ihres neu­en, fünf­ten Albums „Dead Chan­nel Sky“ buch­stäb­lich einen sol­chen Modem-Sound ver­wen­det: Nahe­zu alle Sounds (Instru­men­te sind es in den sel­tens­ten Fäl­len) des Albums quiet­schen, krat­zen, zir­pen, rau­schen und krei­schen so digi­tal, wie Songs, die man sich mit 56k-Ver­bin­dung über den Real-Play­er ange­hört hat.

Die Lan­des­mu­sik­rä­te der Bun­des­re­pu­blik haben die mensch­li­che Stim­me zum „Instru­ment des Jah­res“ 2025 ernannt. Dass sie, als sie dies taten, an Dave­ed Diggs dach­ten, ist unwahr­schein­lich, aber der Mann, den wir „Hamilton“-Fans als Mar­quis de Lafay­et­te und Tho­mas Jef­fer­son in der Erst­auf­füh­rung des Musi­cals ken­nen, setzt sei­ne Stim­me ein wie ein Maschi­nen­ge­wehr, einen Press­luft­ham­mer oder einen Indus­trieta­cker — wenn die­se Werk­zeu­ge mehr groo­ven wür­den. Er schafft mehr Sil­ben pro Minu­te als die meis­ten Men­schen Buch­sta­ben auf der Schreib­ma­schi­ne und mehr unter­schied­li­che Stim­mun­gen als ein Teen­ager, der gleich­zei­tig Fan des VfL Bochum ist.

Diggs‘ Sprech­ge­sang ist so beein­dru­ckend und eigen­stän­dig, dass man schon total geflasht ist, bevor man auch nur ver­sucht hat, auf den Text zu ach­ten. Man merkt aber auch sofort, dass das hier kein Son­nen­schein-Hip-Hop mit glit­zern­den Fel­gen und geöl­ten Kör­pern ist: Alles klingt nach Sci­ence-Fic­tion- und Hor­ror-Fil­men, man soll­te unbe­dingt das Wort „Dys­to­pie“ nen­nen und „Cyber­punk“ sagen.

Spä­tes­tens, seit ich bei „All Songs Con­side­red“ die zwei­te Vor­ab-Sin­gle „Keep Pushing“ gehört hat­te, war ich so gespannt und vor­freu­dig wie lan­ge nicht mehr bei einem Album. Und als „Dead Chan­nel Sky“ dann letz­te Woche end­lich raus­kam, war ich sofort hoo­ked: In der U‑Bahn, im Regio­nal­ex­press, auf der Auto­bahn, im Fit­ness-Stu­dio, beim Zugu­cken beim Fuß­ball-Trai­ning — das Album ist seit­dem immer mit dabei. Dabei ist es wirk­lich kein Album zum Neben­bei-Hören; kein Track dürf­te es auf eine die­ser „Unge­stört Arbeiten“-Playlisten schaf­fen (was natür­lich auch kein Ort ist, an dem die meis­ten Musiker*innen das Ergeb­nis ihrer Arbeit ger­ne sähen).

Ich bin auch nach einer Woche noch nicht voll­stän­dig in die lyri­sche Tie­fe des Albums ein­ge­taucht, aber es geht um Kapi­ta­lis­mus, digi­ta­le Gefah­ren, Klas­sen­kampf, ver­spie­gel­te Son­nen­bril­len, Dro­gen­han­del, Tod und Apo­ka­lyp­se. Man könn­te es also durch­aus groß­zü­gig von der US-ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft fin­den, dem Album zu sei­ner Ver­öf­fent­li­chung soweit ent­ge­gen­ge­kom­men zu sein, aber Dave­ed Diggs und sei­ne Pro­du­zen­ten Wil­liam Hut­son und Jona­than Snipes den­ken eh in viel grö­ße­ren Dimen­sio­nen; alles ist Inter­tex­tua­li­tät und Mixed-Media-Instal­la­ti­on, der Album­ti­tel eine Refe­renz an Wil­liam Gib­sons Roman „Neu­ro­man­cer“.

Ich weiß, dass sich das wahn­sin­nig anstren­gend und ver­kopft anhört, nach Röh­ren­bild­schir­men in städ­ti­schen Muse­en. Aber wir reden hier über drei Typen aus Kali­for­ni­en, da kommt immer noch von irgend­wo ein biss­chen fun, fun, fun um die scharf­kan­ti­ge Ecke. Und so ist „Dead Chan­nel Sky“ ein Album, aus dem man sich das neh­men kann, was man gera­de braucht.

Der clo­ser „Ask What Hap­pen­ed“ paart Diggs‘ Schnell­feu­er­waf­fen­rap in der ers­ten Hälf­te mit so etwas wie Klang­scha­len, ehe ein galop­pie­ren­der Drum-’n‘-Bass-Beat erscheint, der zwar zum Sprech­tem­po passt, aber durch die Ambi­ent-Geräu­sche fährt wie eine Kreis­sä­ge durch Aro­ma­öl­lam­pen. Danach fühlt man sich, als wäre man aus einem wil­den Traum hoch­ge­schreckt. Nur, dass man dann eher sel­ten „Noch­mal!“ schreit.

Clipping - Dead Channel Sky (Albumcover)

Clip­ping – Dead Chan­nel Sky
(Sub Pop Records; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music, Band­camp)