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Musik

Acts des Jahres 2024

10. Pet Shop Boys
31 Jah­re, nach­dem sie mit „Go West“ in mein Leben getre­ten waren (und damit lan­ge, bevor ich um Begrif­fe wie „que­er“ wuss­te), haben die Pet Shop Boys ihr 15. Stu­dio­al­bum ver­öf­fent­licht. „None­thel­ess“ (Par­lo­pho­ne; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music, Band­camp) heißt es – „Nichts­des­to­trotz“, was für ein schö­nes Wort! – und es zählt im Gesamt­werk zu den eher melan­cho­li­schen Alben. Ansons­ten machen Neil Ten­n­ant und Chris Lowe ein­fach wei­ter genau ihr Ding: Es geht um Lie­be und Nacht­le­ben, aber eben­so selbst­ver­ständ­lich um die ZDF-Hit­pa­ra­de und einen von Donald Trumps Body­guards. Natür­lich. Immer wie­der erkennt man Ver­satz­stü­cke aus älte­ren Songs, aber das ist ja Teil des Gesamt­kunst­werks, wie wir spä­tes­tens seit „DJ Cul­tu­re“ (dem PSB-Song von 1991, nicht dem Buch von Ulf Pos­ch­ardt) wis­sen. Per­sön­li­cher Höhe­punkt: Ich durf­te für die „Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonn­tags­zei­tung“ über das Album schrei­ben, jenes Blatt, in dem ich noch als Schü­ler über die Band gele­sen hat­te.

9. Vanes­sa Peters
Bevor Mark Zucker­berg beschloss, Insta­gram zur wei­te­ren Zer­set­zung der Demo­kra­tie zu nut­zen, konn­te man dort tat­säch­lich Musik ent­de­cken: Acts haben klei­ne Clips aus ihren Musik­vi­de­os als Wer­bung geschal­tet und die glei­chen Algo­rith­men, die mich jetzt von den Vor­zü­gen des Faschis­mus über­zeu­gen sol­len (Ver­giss es, Pudel!), haben mir dann über­ra­schend prä­zi­se Songs vor­ge­spielt, die mich sofort über­zeugt haben. So bin ich jeden­falls 2021 auf die Ame­ri­ka­ne­rin Vanes­sa Peters und ihr Album „Modern Age“ auf­merk­sam gewor­den und seit­dem ver­fol­ge ich ihr Schaf­fen. Damals hat­te ich geschrie­ben: „Als hät­ten Aimee Mann, Suzan­ne Vega und Kath­le­en Edwards eine Super­group gegrün­det.“ Das gilt immer noch und ich mei­ne es als eines der höchs­ten Kom­pli­men­te, denn auch „Fly­ing On Instru­ments“ (Idol Records; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music, Band­camp) ist wie­der ein Ame­ri­ca­na/­Folk-Album, das mich an die bes­ten Sei­ten der ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur erin­nert. Also an das Gegen­teil von Mark Zucker­berg.

8. Maro
Maro ist immer das Bei­spiel, das ich brin­ge, wenn ich erklä­ren will, dass der Euro­vi­si­on Song Con­test längst kei­ne alber­ne Quatsch-Ver­an­stal­tung voll Euro­dance-B-Ware ist (das war er in die­ser Abso­lut­heit noch nicht mal in den 1980er bis 2000er Jah­ren), son­dern ein Musik­fes­ti­val im klas­sischs­ten Sin­ne: Natür­lich hät­te ich auch auf ande­ren Wegen (das Inter­net exis­tiert ja) von der jun­gen Musi­ke­rin mit dem bür­ger­li­chen Namen Maria­na Bri­to da Cruz For­jaz Sec­ca und der wun­der­bar ver­schla­fe­nen Stim­me erfah­ren kön­nen, aber ihr Auf­tritt in Turin 2022 war dann doch ein ganz beson­ders beein­dru­cken­der Ken­nen­lern­mo­ment. Ende Sep­tem­ber habe ich sie end­lich wie­der live gese­hen, durch­aus ange­mes­sen im Kon­zert­haus Dort­mund, und es war eines der schöns­ten, umar­mends­ten Kon­zer­te, das ich je besucht habe. Wie jun­ge Acts das so machen, hat sie wäh­rend des gan­zen Jah­res immer wie­der Songs her­aus­ge­bracht, u.a. mit Par­cels, vor allem aber mit dem Musi­ker Nasaya, der auf der fran­zö­si­schen Insel Reuni­on im indi­schen Oze­an auf­ge­wach­sen ist, wie Maro das Ber­klee Col­lege of Music besucht hat, und mit dem sie 2021 schon mal eine gan­ze EP mit vier Songs ver­öf­fent­licht hat­te. Das gemein­sa­me Album „Life­line“ (Sec­ca Records; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music) kam erst am 15. Janu­ar raus, aber das bedeu­tet ja nur, dass Maro auch 2025 wie­der zu mei­nen Acts des Jah­res gehö­ren kann.

7. Joy Ola­do­kun
Auf das Musik­jahr 2023 haben wir ja in einer gemein­sa­men Sen­dung zurück­ge­schaut. Des­we­gen gibt es kei­ne per­sön­li­che Bes­ten­lis­te, die ich jetzt ver­lin­ken kann, und auf der Joy Ola­do­kun mit ihrem Album „Pro­of Of Life“ mei­nen Platz 1 belegt hät­te. Das wird nicht der Haupt­grund sein, war­um sie 2024 direkt das nächs­te Album, ihr fünf­tes, ver­öf­fent­licht hat, aber auch „Obser­va­tions From A Crow­ded Room“ (Ami­go Records; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music) ist wie­der ver­dammt gut gewor­den. Sie macht sich Gedan­ken über den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt und Fort­schritt, sie singt über die Kraft­an­stren­gun­gen, über­haupt auf­zu­ste­hen und wei­ter­zu­ma­chen — und all das hat so viel Groo­ve, so viel schö­ne Melo­dien und so vie­le Gos­pel-Chö­re, dass einen die­se ver­meint­li­chen Wider­sprü­che ganz auf­wüh­len. Aber war das bei Mar­vin Gaye, Sam Coo­ke oder Are­tha Frank­lin anders?

6. MJ Len­der­man
Manch­mal gibt es ja so Namen und Alben, von denen man so oft in ver­schie­de­nen Zusam­men­hän­gen liest, dass man sie ein­fach hören muss: Das vier­te Solo­al­bum von MJ Len­der­man war so eins und das Über­ra­schen­de war eigent­lich nur, dass es nach vie­len Jah­ren mal wie­der ein Indie­rock-Album war, über das so vie­le Leu­te spra­chen — und dass es mir dann auch noch gefiel! „Man­ning Fire­works“ (Anti; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music, Band­camp) klingt, als wür­de ich es schon mein hal­bes Leben ken­nen. Oder, anders: So, wie wenn The Get Up Kids und The Wea­k­erthans sich vor 20, 25 Jah­ren in einer Scheu­ne in Mon­ta­na, in der zufäl­lig noch ein paar Folk-Musi­ker sit­zen, gegen­sei­tig geco­vert hät­ten.

5. Chris­ti­an Lee Hut­son
Ich kann gar nicht mehr rekon­stru­ie­ren, wie ich zum ers­ten Mal „After Hours“ von Chris­ti­an Lee Hut­son gehört habe. Ich weiß nur, dass die 3:12 Minu­ten, die der Song dau­ert, noch nicht durch waren, als ich ihn mei­nen engs­ten Freund*innen schon wärms­tens – lass alles ste­hen und lie­gen und hör es Dir JETZT an! – ans Herz gelegt hat­te. Ent­spre­chend ist es auch mein Song des Jahrs 2024 gewor­den. Wenn ich Songs so doll lie­be, habe ich manch­mal Angst vor dem Album, dem sie vor­an­gin­gen, aber „Para­di­se Pop. 10“ (Anti; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music, Band­camp) lös­te sogar mehr Ver­spre­chen ein, als die Sin­gle auf­ge­stellt hat­te: Songs wie „Auto­pi­lot“, „Water Bal­let“ oder besag­tes „After Hours“ klin­gen, wie sich die eige­ne Bett­de­cke an einem die­si­gen, kal­ten Sonn­tag­vor­mit­tag anfühlt. Es gibt Kla­vier­bal­la­den, melan­cho­li­sche Folk­songs und etwas lär­men­de­re Folk­rock-Num­mern für Fans von Elliott Smith, The Wea­k­erthans und Bright Eyes. Jetzt machen also Men­schen, die 1990 gebo­ren sind, Musik, wie ich sie 2004 gehört habe.

4. Phi­li­ne Son­ny
Ich weiß nicht, ob man es merkt, aber ich habe einen gewis­sen Hang zum Lokal­pa­trio­tis­mus. Man müss­te mir schon sehr viel Geld bie­ten, damit ich das Ruhr­ge­biet oder auch nur Bochum-Ehren­feld ver­las­se. Wenn es um Phi­li­ne Son­ny geht, ist es des­halb, als wür­de der VfL Bay­ern Mün­chen schla­gen: Sowas ist hier mög­lich! Und wer wohnt schon in Düs­sel­dorf? Dabei hat das ja alles gar nichts mir mir zu tun und viel­leicht auch nur in Tei­len mit der Stadt. Im März, jeden­falls, hat­te die 23-jäh­ri­ge Musi­ke­rin und Song­schrei­be­rin ihre zwei­te EP „Inva­der“ (Nett­werk; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music, Band­camp) ver­öf­fent­licht, danach noch jede Men­ge Sin­gles. Im Herbst begann sie dann ihr nächs­tes Pro­jekt, bei dem sie Songs in 15 Minu­ten schreibt, inner­halb weni­ger Tage auf­nimmt und dann so schnell wie mög­lich ver­öf­fent­licht. „So schnell wie mög­lich“ bedeu­tet bei einem Label – bei Nett­werk erschei­nen auch Angus & Julia Stone, The Paper Kites, Joshua Radin und Gre­at Lake Swim­mers – und Strea­ming­diens­ten immer noch rund zwei­ein­halb Mona­te, aber das gan­ze Kon­zept und die Daten im Song­ti­tel ver­lei­hen den Songs eine gewis­se Unmit­tel­bar­keit. Und ich tue, was ich kann, um Phi­li­ne Son­ny noch berühm­ter zu machen — zum Bei­spiel in der „Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung“ über sie schrei­ben.

3. Suzan Köcher’s Supra­fon
Wenn jemand „psy­che­de­lisch“ sagt, den­ke ich an Pink Floyd, Ölpro­jek­to­ren und die Gene­ra­ti­on unse­rer Eltern, die bekifft auf einem Flo­ka­ti liegt. Okay, ich komm noch mal rein: Wenn jemand „psy­che­de­lisch“ sagt, den­ke ich an David Lynch, die mitt­le­ren Byrds und oran­ge­far­be­ne U‑Bahn-Hal­te­stel­len. Habt Ihr die Bil­der? Okay, dann kommt jetzt der Sound­track, denn Suzan Köcher’s Supra­fon machen laut eige­ner Aus­sa­ge Psy­che­de­lia (nur, damit Ihr’s schon­mal gehört habt: im Eng­li­schen ist das „P“ stumm), aber auch Dream Pop, Kraut­rock, Dis­co und Desert Ame­ri­ca­na. Tat­säch­lich ent­ste­hen in mei­nem Kopf sofort Fil­me der Coen Brot­hers, Wim Wen­ders und Paul Tho­mas Ander­son; ein Step­pen­läu­fer rollt defi­ni­tiv durch die stau­bi­ge Land­schaft und es ist ent­we­der immer gera­de Mit­tag oder die Zeit kurz nach Son­nen­un­ter­gang. Also: All­tag im Ber­gi­schen Land, denn Suzan Köcher selbst stammt aus Solin­gen, ihre Band aus dem Umkreis (und damit ein Strich mehr bei „Ruhr­ge­biet“). Ihr drit­tes Album „In The­se Dying Times“ (Uni­que Records; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, You­Tube Music, Band­camp) wäre, wenn es aus den USA käme, über­all in den Jah­res­bes­ten­lis­ten. So wenigs­tens bei mir.

2. kett­car
Er habe mehr durch Musik gelernt als durch Biblio­the­ken, hat Thees Uhl­mann mal gesun­gen (und dabei Bruce Springsteen refe­ren­ziert) und er hat leicht reden, denn unse­re gemein­sa­men Bud­dies von kett­car ver­öf­fent­li­chen auf Grand Hotel van Cleef, dem Label, das sie mit ihm gemein­sam betrei­ben, ja regel­mä­ßig Alben, deren Songs gan­ze Bücher erset­zen. So gese­hen ist „Gute Lau­ne unge­recht ver­teilt“ (Grand Hotel van Cleef; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal, You­Tube Music, Band­camp) wie­der eine 45-minü­ti­ge Biblio­thek zum Hören: Die bra­chia­le Sin­gle „Mün­chen“ ist ein eige­nes, umfas­sen­des Werk über All­tags­ras­sis­mus; „Rügen“ refe­riert die Freu­de und Nach­tei­le des Eltern-Seins bes­ser als es ein Buch irgend­ei­ner Twit­ter-Berühmt­heit je könn­te; „Kanye in Bay­reuth“ ist das feuil­le­to­nis­ti­sche Essay über die Schwie­rig­keit, Werk und Autor zu tren­nen; „Ein­kau­fen in Zei­ten des Krie­ges“ die ver­ton­te Kolum­ne über gestie­ge­ne Lebens­mit­tel­prei­se und „Blaue Lagu­ne, 21:45 Uhr“ der Anti­hel­den-Roman, der in Rezen­sio­nen mit Taran­ti­no ver­gli­chen wird. Dass das alles noch so schön erhe­bend klingt und man alles mit­sin­gen kann, ist ja das eigent­li­che Kunst­stück, aber kett­car las­sen es ganz leicht aus­se­hen. Da war­tet man auch ger­ne mal fünf Jah­re drauf!

1. Japan­dro­ids
2024 war für vie­le von uns ein schwie­ri­ges Jahr, das in der zwei­ten Jah­res­hälf­te völ­lig aus der Kur­ve zu flie­gen schien: Donald Trump, AfD, Neu­wah­len, dazu immer noch Krieg in der Ukrai­ne und eine unge­lös­te Kli­ma­ka­ta­stro­phe — und das war nur die Schei­ße aus den Nach­rich­ten, die uns alle betraf. Hin­zu kamen pri­va­te Schick­sals­schlä­ge und die immer absur­der erschei­nen­de Auf­ga­ben­stel­lung, auch noch den soge­nann­ten All­tag bewäl­ti­gen zu sol­len. Am 25. Okto­ber starb mei­ne gelieb­te Tan­te Dör­te und ich war wirk­lich froh, dass ich neben mei­nem engs­ten Umfeld auch immer noch Musik hat­te. Genau eine Woche zuvor war „Fate & Alco­hol“ (schon wie­der Anti — Label des Jah­res!; Apple Music, Spo­ti­fy, Ama­zon Music, Tidal , You­Tube Music, Band­camp) erschie­nen, das vier­te und vor­ab schon als sol­ches ange­kün­dig­te letz­te Album der Japan­dro­ids. Fragt mich nicht, wie Bri­an King und David Prow­se die­sen Sound mit nur einer Gitar­re und einem Schlag­zeug hin­be­kom­men, denn ich habe sie lei­der nie live gese­hen, aber das ist auch egal, denn für „Fate & Alco­hol“ gilt, was Faithl­ess damals in „God Is A DJ“ dekla­mier­ten: „This is my church /​ This is whe­re I heal my hurts“. Wann immer ich ver­ges­sen hat­te, dass ich am Leben bin, und wie sich das anfühlt, habe ich die­ses Album gehört. Und es leg­te mir sacht sei­ne Hand auf mei­ne Schul­ter und gemein­sam wuss­ten wir: Ja, unse­re Hän­de sind blau und geschwol­len, aber wir kön­nen dar­aus immer noch ein Herz for­men (und zwar so wie Mil­len­ni­als, also rich­tig), eine Faust machen und sie in den Him­mel stre­cken. Die Musik klingt immer noch, als wür­de sie vom ers­ten bis zum letz­ten Ton das Leben fei­ern, aber anders als auf den ers­ten Alben nicht aus jugend­li­cher Igno­ranz her­aus, son­dern aus erwach­se­nem Ver­ständ­nis und Trotz: Ja, das Leben ent­hält auch Ent­täu­schun­gen, Trau­er und ande­re Tief­schlä­ge und genau des­halb ist es so wert­voll und wun­der­schön. None­thel­ess. Wenn mei­ne Per­sön­lich­keit zu die­sem Zeit­punkt in mei­nem Leben ein Album wäre, sie wür­de so klin­gen. „For a few hours, it’ll be alright, Baby!“

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