Und ein sozialkritisches Schlagzeugsolo später ist es soweit: Making disco a threat again!
Ich habe wieder ein bisschen länger gebraucht, aber ich möchte auf keinen Fall sein wie Spotify und Musikzeitschriften, die schon zwischen Oktober und Nikolaus auf ein Jahr zurückschauen. Sowas braucht ja auch Zeit und muss sich erst mal setzen — und dann muss man sich selber erst mal setzen, Songs in eine Reihenfolge bringen, die einem in dieser einen Millisekunde die richtige erscheint, obwohl es natürlich völlig absurd ist, Musik in irgendeine Rangliste zu bringen.
Jedenfalls: Hier sind wir! Und hier sind sie: Meine Top-25-Songs eines immer noch etwas mühsamen Jahres!
25. Chicago Sinfonietta – Dances In The Canebrakes (Arr. W.G. Still for Orchestra) : No. 3, Silk Hat And Walking Cane
Ich habe beschlossen, dass ich die Regeln für meine Liste selbst bestimmen kann, also gehen auch Klassik-Songs! „Dances In The Canebrakes“ ist eigentlich ein Klavierwerk der Schwarzen US-Komponistin Florence Price (1887-1953), das hier für Orchester arrangiert wurde und auf dem Album „Project W: Works by Diverse Women Composers“ erschien — und zwar schon 2019. Da mir dieser Umstand aber genau gerade eben erst aufgefallen ist und mich das Stück bis dahin so sehr durch mein Jahr 2021 begleitet hatte, dass ich es zwischenzeitlich als theme in dem Film, der mein Leben ist, wahrgenommen habe, ist mir das alles egal! Es ist ein großartiges Werk mit einem beeindruckenden Hintergrund, also steigen wir einfach hiermit ein!
24. Aaron Lee Tasjan – Up All Night
Auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hätte, gab es 2021 doch wieder ein paar Abende, an denen ich angemessen alkoholisiert den Heimweg aus der Innenstadt angetreten habe. Es war stets der perfekte Umstand, um diesen Queer-Folk-Power-Pop-Song in einer Lautstärke zu hören, die einem Apple Health dann hinterher wieder vorwurfsvoll um die Ohren haut.
23. Adam Levine – Good Mood
Ich sage ja immer, dass es keine peinlichen Lieblingslieder geben kann, aber der Sänger von Maroon 5, der den Titelsong zum „Paw Patrol“-Kinofilm singt — das ist schon eine schwere Hypothek, die man sich selbst gegenüber erst mal rechtfertigen muss!
Tatsächlich hatte ich zuerst den Refrain als Werbepausen-Einleitungsmusik bei Fußball-Übertragungen gehört und sofort geliebt, weil ich seine maximale New-Radicals-Haftigkeit mochte. In Wahrheit hat der Songs nichts mit den New Radicals zu tun (anders als die Songs, die Adam Levine in dem sehr charmanten Film „Begin Again“ und dem dazugehörigen Soundtrack singt), aber das war dann auch schon egal. Keinen Song habe ich 2021 auf dem Fahrrad im Fitnessstudio öfter gehört als „Good Mood“ und wenn Ihr bei diesem Groove nicht mit hochspezialisierten Hundewelpen durch die Wohnung tanzen wollt, kann ich Euch auch nicht helfen!
22. Meet Me @ The Altar – Never Gonna Change
Meet Me @ The Altar sind meine Newcomer 2021, meine Lieblingsband des Jahres. Ich wusste gar nicht, wie dringend ich double bass drums in meinem Leben gebraucht habe, bis ich diese Musik hörte!
21. The Hold Steady – Heavy Covenent
Es ist sehr schön, wenn eine Band, die einem mal sehr viel bedeutet hat und die dann eine musikalisch und persönlich schwierige Phase hatte, wieder ganz bei sich angekommen ist. Auf dem angemessen optimistisch betitelten Album „Open Door Policy“ sind The Hold Steady wieder ungefähr da, wo sie 2010 waren, und „Heavy Covenent“ vereint alles, was diese Band immer ausgemacht hat: druckvoller Rock, hymnische Melodien und Geschichten über unaufgeräumte Leben und Drogendeals.
20. Tree River – Thought Bubbles
Ladies and gentlemen (and everyone in between), wir sind jetzt an dem Punkt angekommen, an dem junge Menschen Bands wie The Get Up Kids oder The Promise Ringe channeln wie weiland Oasis die Beatles. Das bedeutet: emotionale Gitarrenrockmusik ist nicht tot! Yes!
19. Wild Pink – Amalfi
Man braucht nicht viel, um glücklich zu sein: Wabernde Synthesizer, hallende Drums, Gitarrenlicks, The-Cure-Keyboards und … ist das ein sehr kleines Becken, eine Glocke oder das Geräusch eines aufschnappenden Sturmfeuerzeugs?! Jedenfalls: Ein schöner Song!
18. Vanessa Peters – Crazymaker
Wenn Ihr Musiker*innen seid und überlegt, Eure Songs in Instagram-Stories zu bewerben, muss ich natürlich eigentlich davon abraten: Meta, Mark Zuckerberg — alles furchtbar! Andererseits bin ich so auf „Crazymaker“ aufmerksam geworden, das mir sonst vermutlich nie untergekommen wäre — und das wäre schon ein Verlust gewesen, denn diese Uptempo-Country-Rock-Nummer gefällt mir ausgesprochen gut.
17. Big Red Machine feat. Fleet Foxes & Anaïs Mitchell – Phoenix
Wenn man uns 2008 gesagt hätte, dass es ein gemeinsames Lied von den Fleet Foxes und Bon Iver geben könnte, wären wir doch alle ausgerastet und hätten uns sofort Vollbärte und Karohemden wachsen lassen. Nun ist es offiziell ein Song von Big Red Machine und Anaïs Mitchell singt auch noch mit, aber die Stimmen von Justin Vernon und Robin Pecknold passen tatsächlich so toll zusammen, wie man es erwartet hätte. Dazu ist „Phoenix“ so hymnisch wie ein Sonnenaufgang nach einer langen, kalten, klaren Winternacht (und funktioniert auch ohne Justin Vernon). Hach!
16. Ider – cbb to be sad
Ider waren im Februar 2020 mein vorletztes Konzert vor Corona gewesen, insofern war klar, dass neue Musik des britischen Frauen-Duos automatisch eine gewisse Melancholie über die Erinnerungen an unbeschwerte Abende in kleinen, vollen Clubs mit sich bringen würde — als ob die Musik von Ider nicht eh schon immer melancholisch genug wäre! Aus irgendeinem Grund habe ich das Album (Oder ist es eine EP? Acht Songs?! Ich bin verwirrt!) „shame“ nicht sehr oft gehört, aber „cbb to be sad“ („cbb“ = „can’t be bothered“) hat mich durchs ganze Jahr 2021 begleitet. 2022 dann wieder live? Bitte?!
15. Avril Lavigne – Bite Me
Als Avril Lavigne vor fast 20 Jahren auf der Bildfläche erschien, war ich natürlich zu sehr auf wahnsinnig nischige Indie-Kredibilität bedacht, um ihre Musik öffentlich gut zu finden. Jetzt bin ich zum Glück ein ganzes Stück entspannter und offener (Pubertät ist ja quasi wie Boomer-Dasein), Avril Lavigne ist nach gesundheitlichen Problemen wieder da und ich kann ganz frei zugeben, dass ich den Song, der ein bisschen die Fortsetzung von „Sk8er Boi“ mit umgedrehten Vorzeichen ist, großartig finde. Außerdem trommelt Travis Barker und das ist ja ungefähr immer toll!
14. Augustine – Prom
Ist das jetzt schon das 2010er-Revival, wo junge Leute Acts wie Caribou und Beach House channeln? Ich habe gerade mal herausgefunden, dass Augustine aus Schweden kommt, aber manchmal reicht es ja auch einfach, einen Song gut zu finden!
13. The War On Drugs feat. Lucius – I Don’t Live Here Anymore
Für Menschen, die finden, dass Tom Petty und Bruce Springsteen in den 1980er Jahren zu wenige Alben aufgenommen haben, gibt es ja The War On Drugs. Bei jedem neuen Album sagen mir meine peer group und mein Unterbewusstsein, dass ich das alles großartig finden müsste, und ich mag das dann auch immer alles, aber am Ende denke ich oft: „Hmmmm, ja.“
Der Titelsong zum fünften Album ist allerdings wirklich ganz und gar phantastisch und Adam Granduciel hat bei „Song Exploder“ auch sehr schön die Entstehungsgeschichte erklärt.
12. OSKA – Misunderstood
Man kann ja über die ganzen Algorithmen schimpfen, aber wenn man sie klug einsetzt, können sie einem ganz zauberhafte Sachen in die Playlist spülen, die man sonst nie gefunden hätte, zum Beispiel OSKA aus dem Burgenland. 2020 war sie mit „Distant Universe“ in meinen Top 10, 2021 ist sie – das ist der Vorteil, wenn man regelmäßig Singles und EPs veröffentlicht – wieder recht weit vorne mit dabei. „Misunderstood“ ist so ein Lied, das einen den Schmerz junger Menschen spüren lässt, auch wenn man selber nicht mehr jung und noch nicht alt ist.
11. Griff – Black Hole
Weiter geht’s mit Teenie-Herzschmerz, diesmal ein bisschen elektronischer:
10. girl in red – Serotonin
Ein Lied über psychische Schwierigkeiten und Panikattacken, das einen zumindest erahnen lässt, wie es im Kopf der Künstlerin aussieht: Es geht klanglich in viele verschiedene Richtungen, sie rappt von Selbstverletzungsgedanken, manche Textzeilen sind unvollständig — und dann kommt dieser Refrain, den man für einen Ausbruch purer Lebensfreude halten könnte, wenn er nicht vom exakten Gegenteil erzählen würde. Hui!
Seit ich die „Song Exploder“-Folge zum Song gehört habe, liebe ich ihn noch mehr!
9. Lil Nas X – MONTERO (Call Me By Your Name)
Entschuldigung, was soll ich zu diesem Song noch sagen? Guckt das Video, das beantwortet doch nun wirklich alle Fragen!
8. Burkini Beach – Crying At The Soundcheck
Burgtheater Dinslaken, 15. Juli 2021, Nachmittag: Ich stehe mit meinem Sohn auf den Publikumsrängen und höre die erste Livemusik seit 17 Monaten. Heute Abend wird ausgerechnet hier Thees Uhlmann mit seiner Band spielen und wir dürfen schon beim Soundcheck zuschauen. Als Keyboarder/Gitarrist Rudi Maier dran ist, seine Gitarre und seinen Gesang zu checken, singt er: „The soundcheck is a downer / They won’t let us mic the drums / I need my vocals louder / Who have I become“ aus der aktuellen Single seines Solo-Projekts Burkini Beach. Es ist natürlich der perfekte Song für so eine Situation, von Musikern für Musiker; aber auch wer noch nie auf einer Bühne gestanden hat und mit irgendwelchen Haustechnikern versucht hat, einen einigermaßen brauchbaren Klang hinzubekommen, wird die Intention dahinter verstehen. Es ist ein kleiner, witziger Song, der angemessen groß produziert und nicht albern ist.
Als alle Bandmitglieder soweit ausgepegelt sind, spielen sie noch ein paar Songs, um vor dem ersten Konzert der Tour wieder warm zu werden. Irgendwann kommt „Von Gott verbrüht“ von Tomte, das ich seit über zehn Jahren zum ersten Mal wieder live höre. I’m crying at the soundcheck.
7. Casper – Alles war schön und nichts tat weh
Wie baut man eigentlich einen zweiminütigen Spannungsbogen auf, der sich dann als erste Raketenstufe in einem viereinhalbminütigen Spannungsbogen herausstellt? So, liebe Kinder. So. Dieses Arrangement, bei dem man immer glaubt, jetzt sei es aber wirklich bei 100% angekommen, nur um am Ende zu merken, dass es die ganze Zeit immer nur bis 99% geht, weil dieser letzte, erlösende Kick eben genau nicht kommt, ist so gigantisch gut, dass man beim Loben fast die grandiosen Lyrics von Germany’s finest emo rapper vergisst, aber eben nur fast, weil sie natürlich perfekt zu diesem Arrangement passen und mithin Teil desselben sind.
6. Olivia Rodrigo – good 4 u
Früher haben Disney-Stars zunächst etwas banale Popmusik veröffentlicht, haben dann nach Ansicht der Boulevardpresse mit Skandalen für Aufsehen gesorgt und kamen dann irgendwann mit Musik zurück, die auch die zynische Musikpresse zufriedenstellte. Olivia Rodrigo hat einfach schon mit 17 eine mega-erfolgreiche und hochgelobte Single wie „Drivers Licence“ veröffentlicht und dann mit „SOUR“ (okay, Leute, ich geb’s auf: ich schreib Eure Song- und Albentitel jetzt einfach, wie Ihr wollt) ein Album nachgelegt, das in viele Richtungen geht, aber eine klare Linie und viel Persönlichkeit hat. „good 4 u“ ist die cleverere, kredibelere kleine Schwester von Avril Lavignes Combeback-Single und man wünscht Olivia Rodrigo einfach so sehr, dass sie ohne die Zusammenbrüche und öffentlich begleiteten Lebenskrisen auskommen wird und einfach ganz entspannt weiter ihr Ding macht (Sonnenbrillen-Fotos mit dem Präsidenten inklusive).
5. Sir Simon – A Little Less Bored
Zehn Jahre hatte „Sir“ Simon Frontzek keine eigene Musik mehr veröffentlicht, dann kam die Pandemie und statt in der Band von Thees Uhlmann durch die Republik zu touren, quartierte er sich mit Rudi Maier im Studio ein, wo die zwei ihre beiden Alben schrieben und produzierten. „A Little Less Bored“ war die erste Single und sie klang nach einem warmen Nachmittag, Mitte September: Tag und Sommer werden bald vorbei sein, aber das ist egal. Lass uns jetzt noch ans Meer fahren und alles wird ein kleines bisschen besser sein!
4. Emily Scott Robinson – Hometown Hero
Achtung: PTSD & Suizid.
Sollte man inzwischen eigentlich auch Songs mit trigger warnings oder content notes versehen? „Cause you’re the only one who’s missing and it doesn’t feel right / You should be tucking in your baby girl and kissing her goodnight“ zieht einem ja alleine schon die Schuhe aus, aber die Geschichte eines Afghanistan-Veteranen, der sich mit 27 erschossen hat, während seine Frau Mittagessen machte und die Kinder im Bett lagen, ist dann wirklich harter Tobak. Das muss man erstmal so singen wie Emily Scott Robinson, damit da bei aller Trauer, Wut und Fassungslosigkeit überhaupt noch eine Spur Optimismus mitschwingen kann.
3. Arlo Parks – Caroline
Warum fehlen Arlo Parks und ihr Debütalbum „Collapsed In Sunbeams“ eigentlich in meiner „Acts des Jahres“-Liste? Vermutlich, weil ich das Album zu selten gehört habe, weil ich dachte: „Es ist schon sehr gut, aber warum soll ich immer das ganze Album hören, wenn ich auch ‘Caroline’ auf Repeat hören kann?“ Jedenfalls: So eine traurige Geschichte, musikalisch gleichzeitig so cool und so warm erzählt, dass man schon fast zu Everything But The Girl und Massive Attack zurückgehen muss, um Vergleichsgrößen zu haben.
2. MUNA feat. Phoebe Bridgers – Silk Chiffon
Ein Song, dessen Anfang an „Kiss Me“ von Sixpence None The Richer erinnert, kann schon mal nicht schlecht sein. Wenn er dann noch eine lesbische Liebesgeschichte erzählt, im Refrain in eine Scissor-Sisters-hafte Pop-Hymne ausbricht und eine Gaststrophe von Phoebe Bridgers enthält, kann nun wirklich nichts mehr schief gehen. Mein Sommer bestand quasi aus diesem Song in Endlosschleife und es gibt nun wirklich schlechtere Wege, seine Zeit zu verbringen.
1. Danger Dan – Eine gute Nachricht
Die ersten Songs aus dem Klavier-Soloalbum von Danger Dan ließen schon mal aufhorchen. Dann kam „Eine gute Nachricht“ — eines der romantischsten, unprätentiösesten Lieder, das ich je gehört habe: so klein und doch so groß, dass man schon das Herz eines Blauwals braucht, damit es beim Hören nicht platzt. Der Abend, als die Single veröffentlicht wurde, war der letzte vor Beginn der Ausgangssperre und ich hatte das dringende, sonst nie existente Bedürfnis, spätabends noch mal spazieren zu gehen. Ich hörte das Lied in Endlosschleife, während ich durch die Stadt lief, und die Tränen kamen und wollten nicht mehr aufhören.
Ich hab ’ne gute Nachricht und ’ne schlechte auch
Zuerst die schlechte: „Wir zerfall’n zu Staub
Wir werden zu Asche, kehren in das Nichts
Zurück, aus dem wir alle einst gekommen sind“
Und jetzt die gute: „Heute nicht
Es bleibt noch Zeit für dich und mich
Und wenn du willst, dann schlaf doch heut bei mir“
An diesem Abend wusste ich, dass es sehr, sehr schwer werden würde, dieses Lied in meiner Jahresbestenliste noch zu überholen. Dafür war es einfach zu gut; zu sehr hatten sich Song und Erlebnis miteinander verschränkt. Es bleibt noch Zeit für Dich und mich.
Und hier stolze 65 Songs als – jaha, ich weiß! – Spotify-Playlist: