Okay, fangen wir mit den wichtigen Fakten an: Die Sprecherkabine, in der Graham Norton sitzt und seine Graham-Norton-Kommentare abgibt, ist viel zu groß. Und zu hell. Und er scheint gar nicht zu frieren — aber vielleicht hat er auch einfach seinen Rucksack vor die Lüftung gestellt, so wie wir es alle machen, um keine Erkältung zu bekommen.
Seit 2013 sitze ich beim Eurovision Song Contest neben dem deutschen Kommentator Peter Urban und das bedeutet, dass wir sechs Tage in einer kleinen, kalten Kabine verbringen, die auf einem wackligen Gerüst in einer großen, dunklen Halle in einer ansonsten sicherlich sehr sehenswerten Stadt steht. Peter macht das seit 1997, Graham Norton seit 2009 — und er tut dies auch in „Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga“, dem allerersten Spielfilm, der sich mit dem europäischen Gesangswettbewerb beschäftigt — und von Amerikanern für den amerikanischen Streamingdienst Netflix produziert wurde.
Will Ferrell spielt Lars Erickssong, einen isländischen Musiker, der seit früher Kindheit (genauer: seit dem Sieg von ABBA 1974 in Brighton) davon träumt, den Eurovision Song Contest zu gewinnen. Sein Vater Erick (Pierce Brosnan), ein handfester isländischer Fischer, hält davon wenig und das heimische Publikum will von Lars und seiner Band Fire Saga, die im wesentlichen aus ihm und seiner Kindheitsfreundin Sigrit (Rachel McAdams) besteht, immer nur die gleichen isländischen Trinklieder hören. Durch eine Verkettung eher unglücklicher Umstände passiert es aber, dass Fire Saga für Island am ESC teilnehmen, und wer im Leben mehr als einen Film gesehen hat, weiß, dass es exakt zwei Möglichkeiten geben kann, wie das Ganze endet (Spoiler Alert: es ist die eine, nicht die andere).
Der Plot dieser Komödie passt auf ein Stück Goldkonfetti, wie es am Ende jedes Song Contests von der Hallendecke regnet. Der ESC ist in dieser Geschichte aber nicht nur der Hintergrund, vor dem sich die Handlung entfaltet, sondern – der Titel deutet es schon an – auch der Mittelpunkt. Die echte Überraschung, wenn sich Amerikaner eines so europäischen Themas annehmen, dem selbst hier mit einer sehr speziellen Mischung aus heiligem Ernst und Ironie begegnet wird: es funktioniert!
Denn streng genommen sollte es ja unmöglich sein, sich über eine Veranstaltung lustig zu machen, bei der niemand weiß, wie augenzwinkernd Windmaschinen, Trickkleider und Vier-Quadratmeter-Eislaufbahnen, die die gerade vorgetragenen Kompositionen wahlweise unterstützen oder von ihnen ablenken sollen, eigentlich genau gemeint sind, ohne sich die ganze Zeit über diesen vermeintlichen Schwachsinn und jene, die ihn lieben, zu erheben. Schweden hat es 2016 mit dem Interval Act „Love, Love, Peace, Peace“ (übrigens geschrieben von unserem Kommentatoren-Kollegen Edward af Sillén) in viereinhalb Minuten vorgemacht, „Eurovision“ schließt dort in zwei Stunden an, in denen wenig anderes passiert als dass ESC ist.
Bei einer Party, die der leicht überkandidelte (im Vergleich zu echten ESC-Kandidaten dann aber doch eher bodenständig wirkende) russische Teilnehmer schmeißt, hüpfen gleich zehn ESC-Alumni durchs Bild und singen mit dem Film-Cast ein Medley, in dem von „Waterloo“ bis zu Chers „Believe“ alles abgefeuert wird, was die Camp-Kanone hergibt. Die Charaktere, die eigentlich auch kaum mehr sind als Skizzen für Karikaturen, sind alle erstaunlich liebenswert und man merkt ihren Darsteller*innen an, wie viel Spaß sie bei diesem quatschigen Projekt hatten. (Demi Lovato muss nicht viel mehr tun als zu singen, aber wer beim Super Bowl mit der Nationalhymne von der Halbzeitshow ablenken kann, füllt auch knapp zwei Minuten Screentime maximal aus.) Will Ferrell, der auch die Idee zu dem Film hatte und gemeinsam mit Andrew Steele das Drehbuch geschrieben hat, trägt für seine Rolle eine angegraute blonde Lockenperrücke, weswegen sich für das deutsche Publikum eine verwirrende Meta-Ebene ergibt, auf der Thomas Gottschalk seine Drohung von 2001, am ESC teilnehmen zu wollen, doch noch wahr gemacht hat.
Die einzelnen Songs und Inszenierungen, die im Film fast ein bisschen zu kurz kommen, sind erschütternd authentisch: Von Fire Sagas „Double Trouble“ bis zum über-sexualisierten „Lion Of Love“ (Russland) ist alles exakt so beim ESC vorstellbar. Die Netflix-Crew hat sogar beim letztjährigen Grand Prix in Tel Aviv in der echten Halle gedreht — nicht gerade zur Freude der tatsächlichen Delegationen aus den Teilnehmerländern, deren Zeitplan durch Sonderproben für Madonnas schließlich überaus unterwältigenden Gast-Auftritt sowieso schon arg eingedampft war. Und selbst einige Sätze, die bei internen Meetings und nach den Proben fallen, sind schmerzhaft nah dran an dem, was man dort so hört oder selbst sagt. Echte ESC-Fans werden natürlich anmerken, dass manche Details wie etwa die Punktevergabe im Halbfinale (also bitte!?) falsch wiedergegeben werden, aber dann passiert schon wieder etwas, was so liebevoll-absurd ist, dass zumindest einige Anhänger darüber hinwegsehen dürften.
„Eurovision“, entstanden in enger Zusammenarbeit mit der European Broadcasting Union, dem Veranstalter des echten ESC seit 1956, ist eine Mischung aus „This is Spinal Tap“ und „Hilfe, die Amis kommen“ mit einem Hauch von „Little Miss Sunshine“. Beim amerikanischen Publikum könnte er daran scheitern, dass die Veranstaltung, um die er kreist, weitgehend unbekannt ist und vollkommen unrealistisch erscheint. Eigentlich gedacht als Begleitprogramm für den echten Song Contest, dessen Rechte Netflix für die USA erworben hat, ist der Film nach der Corona-bedingten Absage des ESC 2020 in Rotterdam aber ein charmanter Ersatz für jene Millionen Menschen, die sich das Event jedes Jahr anschauen. Und nächstes Jahr gibt es die Windmaschinen und Trickkleider dann wieder bei echten Auftritten!