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Leben

Sven

Sven war, wie die meis­ten ande­ren in mei­ner Klas­se, ein Jahr älter als ich und das, was man als Außen­sei­ter bezeich­nen wür­de: schu­lisch im unte­ren Mit­tel­feld, nicht unbe­dingt das sozi­al aktivs­te Kind. Sei­ne Eltern waren sehr alt, das Haus in dem sie leb­ten (und in dem ich nur ein ein­zi­ges Mal war), sehr klein und dun­kel und weil die Eltern viel rauch­ten, roch auch Svens Klei­dung immer nach Ziga­ret­ten­qualm. Er hat­te einen ohne­hin schon zu Wort­spie­len ein­la­den­den Nach­na­men, den wir im Bezug auf sei­nen Geruch noch wei­ter abwan­del­ten.

Obwohl wir min­des­tens vier Jah­re in der glei­chen Klas­se waren, hat­te ich nie so rich­tig viel mit ihm zu tun – aber doch mehr als mit manch ande­ren Kin­dern. Wir waren bei­de in der Unter­stu­fen-Thea­ter-AG und es ist im Nach­hin­ein ver­lo­ckend zu sagen, dass Sven dort auf­blüh­te, dass er aus sich hin­aus­ging und dort den Ein­druck erweck­te, sich end­lich mal wohl zu füh­len. Da wird womög­lich was dran sein, es kann aber auch tota­le Über­in­ter­pre­ta­ti­on in der Rück­schau sein.

Sein ande­res Hob­by war Eis­ho­ckey und ein­mal zeig­te er mir einen Zei­tungs­aus­schnitt von einem Spiel sei­ner Mann­schaft. Sei­ne natür­li­che Rol­le wäre die des Klas­sen­clowns gewe­sen, aber das ging immer schief, weil sei­ne Wit­ze nicht ver­fin­gen. Ein­mal hat­te er mei­nen bes­ten Freund und mich zu sei­ner Geburts­tags­fei­er ein­ge­la­den, aber wir dach­ten uns bei­de irgend­wel­che Grün­de aus, war­um wir lei­der nicht kom­men konn­ten.

Spä­ter hat­ten es zwei Mit­schü­ler rich­tig auf Sven abge­se­hen. Ich kann mich nicht mehr an die Details erin­nern, aber es gab eine Klas­sen­kon­fe­renz und heu­te wür­de die Schu­le da ver­mut­lich ein viel grö­ße­res Fass auf­ma­chen wegen Mob­bing und so. Hof­fent­lich. Die bei­den Mob­ber durf­ten in der Klas­se blei­ben, muss­ten irgend­wie den Schul­hof sau­ber machen und einer der bei­den wur­de spä­ter Kreis­vor­sit­zen­der der NPD. Sven blieb am Ende des Schul­jah­res sit­zen.

Am ers­ten Sams­tag der Som­mer­fe­ri­en 1999 rief bei uns zuhau­se eine Freun­din mei­ner Eltern an. Ob ich schon gehört hät­te, dass der Sven gestor­ben sei. Nein. Dann wüss­te ich es jetzt. (So fand der Dia­log wirk­lich statt!) Sven war bei ihrem Sohn in der Klas­se gewe­sen, am Ende des Schul­jah­res wie­der sit­zen geblie­ben und dann am Tag zuvor in der Nach­bar­stadt auf dem Fahr­rad von einem Bus erwischt wor­den und in den Mor­gen­stun­den gestor­ben. Ich glau­be, er war auf dem Weg zum oder vom Eis­ho­ckey-Trai­ning.

Ich rief mei­ne Freun­de an, um ihnen die Nach­richt zu über­brin­gen und ich weiß noch, dass ich mir dabei sehr wich­tig und erwach­sen vor­kam. Die meis­ten hat­ten mit Sven noch weni­ger zu tun gehabt als ich und fan­den ihn doof und ich sag­te fei­er­lich, so etwas dürf­ten wir jetzt nicht mehr sagen. Einer hat­te frü­her mit Sven Eis­ho­ckey gespielt und war wirk­lich betrof­fen.

Ein paar Tage spä­ter saßen wir zusam­men in der Kir­che beim Trau­er­got­tes­dienst, es war mein ers­ter. Der Pfar­rer erklär­te, die Eltern hät­ten Sven damals „bei sich auf­ge­nom­men“, was irgend­wie die Sache mit dem Alter erklär­te. Anschlie­ßend saßen wir auf der Mau­er an der Kir­che in der Son­ne und unter­hiel­ten uns über den gera­de auf­kom­men­den Trend von LAN-Par­ties und noch am glei­chen Tag fuhr ich los, um mir eine Netz­werk­kar­te zu holen.

Svens Eltern leben nicht mehr in dem klei­nen, dunk­len Haus. Ich glau­be, sie leben gar nicht mehr. Ich habe immer mal wie­der an Sven gedacht, meis­tens, wenn ich in der Nach­bar­stadt an der Kreu­zung vor­bei­kam, an der er ver­un­glückt sein muss. Über ihn gespro­chen haben wir glau­be ich gar nicht mehr. In unse­rer Abizei­tung ist er in der Lis­te der Abgän­ge mit Geburts- und Todes­da­tum mar­kiert. Ich glau­be, wir hat­ten bei­de Daten falsch.

Sven ist jetzt län­ger tot als er je gelebt hat, was bei jedem Men­schen zwangs­läu­fig irgend­wann pas­siert. Aber es ist trotz­dem ein ver­stö­ren­der Gedan­ke.