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Wie schön es hier ist, seitdem es verschneit ist

Vor­hin flo­gen zwei gro­ße Grup­pen Zug­vö­gel in beein­dru­cken­dem For­ma­ti­ons­flug an mei­nem Wohn­zim­mer­fens­ter vor­bei, wes­we­gen ich (nur zwei­ein­halb Jah­re Bio­lo­gie-Unter­richt in der Schu­le) erst mal in der Wiki­pe­dia nach­se­hen muss­te, war­um sie das über­haupt tun. Dabei fiel mir auf, dass „Schwarm­ver­hal­ten“ auch den leicht trot­te­li­gen Habi­tus bezeich­nen könn­te, den Men­schen an den Tag legen, wenn sie sich in der Gegen­wart eines ande­ren Men­schen befin­den, in den sie heim­lich (bzw. zumeist unheim­lich) ver­liebt sind, wobei mei­ne Freun­de mir schon mehr­fach gesagt haben, dass nie­mand außer mir und der „Bra­vo“ ein love inte­rest als „Schwarm“ bezeich­nen wür­de. Dann fühl­te ich mich mal wie­der alt und leicht trot­te­lig, wuss­te aber immer noch nicht, war­um die blö­den Vögel so flie­gen, wie sie flie­gen.

Ich mag den Win­ter. Nicht die grau­en Novem­ber­ta­ge, an denen es nie rich­tig hell wird, aber die kla­ren mit klir­ren­der Käl­te und Schnee. Wenn der ers­te Schnee fällt, füh­le ich mich noch mehr wie ein Fünf­jäh­ri­ger als sowie­so schon, und hole sofort mei­ne Win­ter­stie­fel her­vor. Es sind so ähn­li­che Schu­he, wie Jay‑Z sie ger­ne trägt, nur dass ich sie schon seit mehr als 20 Jah­ren tra­ge – natür­lich nicht immer das sel­be Modell, denn als Kind hät­te ich in mei­nen aktu­el­len Schu­hen Höh­len bau­en kön­nen. Das aktu­el­le Paar habe ich jetzt seit zehn Jah­ren, was aber gar nicht so lang ist, wenn man bedenkt, wie viel Schnee wir im Ruhr­ge­biet so durch­schnitt­lich haben. Ich wür­de tip­pen, in den zehn Jah­ren kamen die Schu­he auf etwa andert­halb kana­di­sche Win­ter Ein­satz­zeit.

Das bes­te ist immer, die Schu­he zum ers­ten Mal anzu­zie­hen: Sie sind im Ver­gleich zu mei­nen Füßen und sons­ti­gen Schu­hen so gro­tesk groß, dass ich erst mal über­all gegen­lau­fe. Das ist eigent­lich nicht schlimm, weil die Schu­he auch sehr sta­bil sind, aber trotz­dem nicht unge­fähr­lich: Beim Trep­pen­stei­gen hal­te ich mich sicher­heits­hal­ber am Gelän­der fest, weil die Schu­he kaum auf eine Stu­fe pas­sen und ich auch per­ma­nent Angst haben muss, zu stol­pern. Die ers­ten Meter auf der Stra­ße sind dann auch immer gewöh­nungs­be­dürf­tig, weil die Schu­he so hohe Absät­ze haben, dass ich damit ger­ne an Bür­ger­stei­gen hän­gen blei­be. Ste­hen ist auch lus­tig, weil ich mit mei­nen Füßen meist leicht nach außen wip­pe. Wegen der hohen Absät­ze pas­siert es im Win­ter oft, dass ich an einer Super­markt­kas­se ste­he und mir bei­de Füße gleich­zei­tig ver­knack­se.

Noch schö­ner als Schnee ist natür­lich Schnee mit Musik. Wenn ich durch die Stadt gehe und die Zufalls­wie­der­ga­be mei­nes iPho­nes schickt mir „So Long, Asto­ria“ von den Ata­ris (ers­te Zei­le: „It was the first snow of the sea­son“), „The River“ von Joni Mit­chell oder den „Ally McBeal“-Titelsong „Sear­chin‘ My Soul“ von Von­da She­pard, läch­le ich leicht debil vor mich hin. Über­haupt hat „Ally McBe­al“ mit den offen­bar stän­dig ver­schnei­ten Stra­ßen Bos­tons bei mir noch grö­ße­re Ver­hee­run­gen im Roman­tik­zen­trum ange­rich­tet als „Dawson’s Creek“ und „My So-Cal­led Life“ zusam­men.

Seit ich in einer eige­nen Woh­nung woh­ne, wird die­se im Dezem­ber auch fest­lich geschmückt: Ich hän­ge Lich­ter­ket­ten in die Fens­ter (nach nur zwei Sai­sons war die ers­te schon dau­er­haft kaputt und ein Fall für die Müll­hal­de) und stel­le im Wohn­zim­mer einen etwa hüft­ho­hen Tan­nen­baum auf. Die­sen kau­fe ich nun schon im drit­ten Jahr und damit tra­di­tio­nell in einem Bau­markt, drei Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­len ent­fernt. Das Schlim­me ist dabei nicht der Trans­port eines Baums in der Stra­ßen­bahn (da sind die Bochu­mer gene­rell sehr hilfs­be­reit und kom­mu­ni­ka­tiv), son­dern der Weg vom Bau­markt zur Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le, den ich jedes Jahr aufs Neue unter­schät­ze. Aber klar: geht alles, man wächst mit sei­nen Her­aus­for­de­run­gen, ein biss­chen Schwit­zen in der dicken Win­ter­ja­cke stärkt die Abwehr­kräf­te.

Wes­sen Leben arm an Action und Span­nungs­mo­men­ten ist, dem kann ich nur emp­feh­len, ein­fach mal einen Tan­nen­baum zum gro­ben Abtrock­nen in der eige­nen Dusche zu plat­zie­ren. Zumin­dest wenn man ein ähn­lich gutes Kurz­zeit­ge­dächt­nis hat wie ich, gibt es jedes Mal ein gro­ßes Hal­lo, wenn man die Toi­let­te benut­zen möch­te und da plötz­lich ein Baum im Bad steht. Das hilft auch gegen nied­ri­gen Blut­druck, wobei der beim Auf­stel­len von Tan­nen­bäu­men eh nicht unten bleibt.

Ich kau­fe mei­nen Baum immer ein­ge­topft mit beschnit­te­nen Wur­zeln, weil ich mir immer noch 30 Jah­re zu jung vor­kom­me, um einen Christ­baum­stän­der zu erwer­ben. Außer­dem bil­de ich mir ein, dass er in der Erde nicht so schnell zu nadeln beginnt. Die Anzahl der Nadeln, die er auf dem Weg von der Haus­tür über das Bad ins Wohn­zim­mer ver­liert, ist den­noch beacht­lich. Man soll­te sich anschlie­ßend nicht zu scha­de sein, ein­mal gründ­lich durch­zu­sau­gen – zumin­dest, wenn man anschlie­ßend noch bar­fuß durch sei­ne Woh­nung spa­zie­ren möch­te. Tan­nen­na­deln sind zwar eigent­lich sehr flach, haben aber einen natür­li­chen Über­le­bens­wil­len, der sie zwingt, sich auch in den aus­weg­lo­ses­ten Situa­tio­nen noch der­ge­stalt senk­recht auf­zu­rich­ten, dass sie im mensch­li­chen Fuß maxi­ma­len Scha­den anrich­ten kön­nen. In den Ent­wick­lungs­la­bors von Lego wer­den Tan­nen­na­deln des­halb ganz beson­ders aus­gie­big stu­diert.

Steht der grün­ge­klei­de­te Win­ter­gast dann erst mal an sei­nem Platz (die Fra­ge, ob er nicht „schief steht“, ver­bie­tet sich bei ein­ge­topf­ten Bäu­men zum Glück – man kann eh nix ändern), kommt die elf­te Pla­ge aus dem elf­ten Kreis der Höl­le: die Lich­ter­ket­te. Gan­ze Klein­kunst­a­ben­de wer­den im Spät­herbst und Früh­win­ter mit der Beschrei­bung des­sen beschrit­ten, was der Mensch (auch in eman­zi­pier­ten Haus­hal­ten zumeist: der Mann) denkt, fühlt, oder prä­zi­ser: hasst, wäh­rend er ver­sucht, 16 unter­ein­an­der ver­bun­de­ne Leucht­ele­men­te an einen kak­tus­ähn­li­chen Baum zu klem­men, ohne sich in dem Kabel zu ver­hed­dern. Es geht nicht. Eine gerech­te Ver­tei­lung der Ker­zen über den gan­zen Baum ist nicht mög­lich, am Ende sieht es immer aus wie ein Satel­li­ten­bild von Aus­tra­li­en bei Nacht. Das Kabel ist immer da, wo es nicht sein soll, und letzt­lich soll­te man schon dem Herr­gott dan­ken, wenn man nicht den gan­zen Baum zu Boden reißt.

Es gibt in dem Weih­nachts­klas­si­ker „Schö­ne Besche­rung“ die schö­ne Sze­ne, in der Clark Gris­wold zu sei­nem Vater sagt: „Alles, was ich über Weih­nachts­au­ßen­be­leuch­tung weiß, habe ich von Dir gelernt, Dad!“ Die­ser eine Satz sagt mehr über die Psy­che von Män­nern aus, als die Lebens­wer­ke von Ali­ce Schwar­zer und Mario Barth zusam­men. Wer Män­ner ver­ste­hen will, soll­te hier anfan­gen und auf­hö­ren.

Ist die Lich­ter­ket­te aber end­lich in Betrieb (und der Baum hof­fent­lich eich­hörn­chen­frei), geht alles ganz schnell: Das Gebim­mel (zwei Christ­baum­ku­geln und drei sons­ti­ge Hän­ger) ist in einem klei­nen Baum wie mei­nem schnell ver­staut und wenn end­lich auch die Krip­pe steht, heißt es inne­zu­hal­ten und zu genie­ßen. Der Geruch von Tan­nen­grün ist (neben dem von frisch bear­bei­te­tem Holz und dem von Meer) ver­mut­lich der schöns­te auf der Welt, die größ­te Kind­heits­er­in­ne­rung sowie­so. Er ist der Proust’sche Instant-Remin­der an die Weih­nachts­ta­ge der Kind­heit, als ich irgend­wann kurz nach Son­nen­auf­gang aus dem Bett hüpf­te und ins Wohn­zim­mer rann­te, um mit mei­nen neu­en Spiel­sa­chen zu spie­len. Bar­fuß saßen mei­ne Geschwis­ter und ich unter dem fest­lich geschmück­ten Baum, des­sen schon ver­lo­re­ne Nadeln gemein­sam mit dem Hoch­flor­tep­pich eine letz­te, unhei­li­ge Alli­anz ein­ge­gan­gen waren (s.o.), und wid­me­ten uns inten­siv unse­ren Lego-Flug­hä­fen und Play­mo­bil-Rit­ter­bur­gen, die wir natür­lich direkt nach der Besche­rung hat­ten auf­bau­en müs­sen („Du bist doch schon so müde, willst Du das nicht lie­ber mor­gen machen?“ – „NEIN!“).

Die­se kind­li­che, unschul­di­ge Begeis­te­rung, die noch nichts ahnt von abbre­chen­den und ver­lo­ren gehen­den Plas­tik­tei­len, von kost­spie­li­gen Zube­hör­sets und viel bes­se­ren neu­en Ver­sio­nen, glimmt im Erwach­se­nen­le­ben manch­mal noch auf, wenn ein noch jung­fräu­li­cher Lap­top oder ein flamm­neu­es Smart­phone behut­sam aus sei­ner Ver­pa­ckung genom­men wird. Doch dann gilt man schnell als kom­plett bescheu­ert – nicht ganz zu Unrecht, wenn man die Ent­pa­ckungs­ze­re­mo­nie gleich­zei­tig auch noch auf Video auf­ge­nom­men und ins Inter­net gestellt hat. Ich hof­fe, dass das „Unboxing“ von Weih­nachts­ge­schen­ken, die­ser ganz inti­me Glücks­mo­ment eines Kin­der­le­bens, nie­mals online ver­wurs­tet wird.

Bis vor ein paar Jah­ren haben mei­ne Geschwis­ter in der Advents­zeit auch immer noch geba­cken. Die­ses hei­me­li­ge Gefühl völ­li­gen Grö­ßen­wahns, wenn man ein Kilo­gramm Scho­ko­la­de und 800 Gramm But­ter im Was­ser­bad zum Schmel­zen bringt! Aber ers­tens sah die Küche unse­rer Eltern danach jedes Mal aus, als habe es ein Mas­sa­ker bei Wil­ly Won­ka gege­ben, und zwei­tens ist irgend­wann jeman­dem auf­ge­fal­len, dass irgend­wer den gan­zen Scheiß ja hin­ter­her auch essen muss. Ich habe bei der Reno­vie­rung mei­ner Woh­nung vor drei Jah­ren die däm­men­de Wir­kung von Scho­ko­la­den-Brow­nies sehr zu schät­zen gelernt.

Die blö­den Vögel sind lan­ge weg. Ich lie­ge neben mei­nem Tan­nen­baum und ver­su­che so unauf­fäl­lig an ihm zu rie­chen, wie man im Vor­bei­ge­hen an sei­nem Schwarm zu rie­chen ver­sucht. Mei­ne Füße tun fast nicht mehr weh. Es ist Advent.