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Musik

Haut es mit Edding an die Wände

Irgend­wann im Herbst 2002 sag­te ein Kum­pel zu mir: „Ey, ich war grad auf der Visi­ons-Par­ty. kett­car haben gespielt, die könn­ten Dir auch gefal­len!“ Also mach­te ich das, was man damals so mach­te, ging in die Tausch­bör­sen und schau­te, was es dort so gab.

Ich weiß nicht mehr ganz genau, wel­ches Lied ich dann als ers­tes gehört habe, aber es müss­te „Im Taxi wei­nen“ oder „Genau­er betrach­tet“ gewe­sen sein. Letz­te­res ist bis heu­te mei­ne Lieb­lings­lied von kett­car, ers­te­res berühr­te mich damals auf Anhieb, ohne dass ich gleich ver­stan­den hät­te, wor­um es eigent­lich ging. Über­haupt hat­ten die Songs über frisch geschei­ter­te Bezie­hun­gen, Par­ty­näch­te mit den bes­ten Freun­den und das Schei­tern von Lebens­ent­wür­fen ver­gleichs­wei­se wenig mit mei­ner Lebens­wirk­lich­keit als Zivil­dienst­leis­ten­der in einer nie­der­rhei­ni­schen Klein­stadt zu tun – aber ich lieb­te sie von Anfang an.

Nach ein paar Wochen kauf­te ich mir in der CD-Abtei­lung der Dro­ge­rie Mül­ler in Essen dann end­lich „Du und wie­viel von Dei­nen Freun­den“, das mich seit­dem geprägt hat wie kaum ein ande­res Album. Über Jah­re waren die Tex­te, die ich in mein pri­va­tes Blog häm­mer­te, und die Musik-Rezen­sio­nen, die ich im Inter­net ver­öf­fent­lich­te, voll von direk­ten Zita­ten aus und Ver­wei­sen auf kett­car-Songs.

Na dann herz­li­chen Glück­wunsch.
Das Geld kommt aus der Wand.
Ent­schul­di­gung, sind Sie? Wir müs­sen Ihnen mit­tei­len.
Und wer bei zehn noch steht hat recht.
Das Gegen­teil von gut ist gut gemeint.
Komm schon, Groß­hirn, wünsch mir Glück.
Die Sum­me unse­res All­tags in zwei gepack­ten Kof­fern.
Die­ses Bild ver­dient Applaus.
Der Tag an dem wir uns „We’­re gon­na live fore­ver“ auf die Ober­schen­kel täto­wier­ten.
Solang die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende.
Mein Skate­board kriegt mein Zahn­arzt, den Rest kriegt mein Fri­seur.
Ist man jetzt, wo man nicht mehr high ist, froh dass es vor­bei ist?
Ich dan­ke der Aca­de­my.
Auf­ste­hen, atmen, anzie­hen und hin­ge­hen, zurück­kom­men, essen und ein­se­hen zum Schluss, dass man wei­ter­ma­chen muss.

Von …But Ali­ve und Ran­t­an­plan, den Vor­gän­ger­bands von kett­car, hat­te ich damals natür­lich schon gehört, hat­te sie aber nicht genug auf dem Schirm gehabt, um von Anfang an mit­zu­krie­gen, wie Mar­cus Wie­busch und Rei­mer Bus­torff erst kett­car und dann, weil kei­ne Plat­ten­fir­ma der Repu­blik das Album raus­brin­gen woll­te, gemein­sam mit Thees Uhl­mann das Grand Hotel van Cleef grün­de­ten. Aber ab Dezem­ber 2002 war ich dabei.

Ich erin­ne­re mich an mein ers­tes kett­car-Kon­zert im Zakk in Düs­sel­dorf im Janu­ar 2003, an den Tour­ab­schluss im Index in Voer­de (of all places!) und an die vie­len, vie­len Kon­zer­te in klei­nen Clubs, grö­ße­ren Hal­len und auf Fes­ti­vals, die danach kamen. An die lan­gen Mona­te, in denen ich gefühlt nur ein Album im Disc­man hat­te.

Ich erin­ne­re mich an mei­ne ers­te Rei­se nach Ham­burg und dar­an, wie ich am Haupt­bahn­hof „Du und wie­viel von Dei­nen Freun­den“ ein­leg­te und es auf der S‑Bahn-Fahrt nach St. Pau­li bei­na­he schaff­te, dass „Lan­dungs­brü­cken raus“ an genau der rich­ti­gen Stel­le lief. Dass ich damals nach Ham­burg zie­hen woll­te, wegen „Abso­lu­te Gigan­ten“ und die­ser Band.

Ich erin­ne­re mich dar­an, wie ich wegen einer Ver­ket­tung von Zufäl­len als einer der Ers­ten die Pro­mo zum zwei­ten Album „Von Spat­zen und Tau­ben, Dächern und Hän­den“ zuge­schickt bekam, weil ich eine Pres­se­info dazu schrei­ben soll­te. Der Text wur­de glück­li­cher­wei­se nie ver­öf­fent­licht, weil Thees Uhl­mann auch einen geschrie­ben hat­te, der natür­lich bes­ser und näher dran war. Und ich erin­ne­re mich dar­an, wie ich dann am Ver­öf­fent­li­chungs­tag bei ElPi in Bochum stand und die Spe­cial Edi­ti­on des Albums nach hau­se schlepp­te.

Ich erin­ne­re mich an die Bei­trä­ge in den „Tages­the­men“, bei „Poly­lux“ und an die fast ganz­sei­ti­ge Geschich­te in der „Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung“, an die vie­len Kon­zer­te, die ich zum zwei­ten Album besucht habe, und an das Pla­kat zum Album, das mei­ne gute Freun­din Mar­ti­na Dri­gnat gestal­tet hat­te, und das jah­re­lang an mei­ner Zim­mer­tür im Stu­den­ten­wohn­heim hing (abwech­selnd innen und außen).

Ich erin­ne­re mich an „Sylt“, das drit­te Album, zu dem ich erst kei­nen rech­ten Zugang fand, und das, als ich dann in die Erwach­se­nen­welt von Öko­no­mie, Abschie­den und Älter­wer­den hin­ein­stol­per­te, schon da war und auf mich war­te­te. Ich erin­ne­re mich an das Kon­zert in Dort­mund im Okto­ber 2009, bei dem Mar­cus Wie­busch Tex­te und Akkor­de ver­gaß und die Band vor den Augen der Zuschau­er aus­ein­an­der zu fal­len droh­te. Sie stan­den auf und mach­ten wei­ter.

Ich erin­ne­re mich ans Bochum Total 2011, als kett­car ihren neu­en Song „Nach Süden“ spiel­ten, über einen Mann der nach andert­halb Jah­ren die Krebs­sta­ti­on im Kran­ken­haus lebend ver­lässt. Es war auf den Tag genau der fünf­te Jah­res­tag der Beer­di­gung eines sehr lie­ben Ver­wand­ten, der das nicht geschafft hat­te, und ich stand da mit Gän­se­haut und feuch­ten Augen und woll­te die Band wie so oft umar­men.

Im Früh­jahr erschien dann „Zwi­schen den Run­den“, das vier­te Album der Band. Es war, wie schon „Sylt“, anders, nicht so leicht zugäng­lich und weit von den Hym­nen der ers­ten bei­den Alben ent­fernt. Aber es beginnt mit „Ret­tung“, dem schöns­ten Lie­bes­lied, das je geschrie­ben wur­de:

Ende August fei­er­te das Grand Hotel sei­nen zehn­ten Geburts­tag auf der Trab­renn­bahn in Ham­burg. kett­car spiel­ten als letz­tes und ihr Auf­tritt war von Anfang an wie ein Klas­sen­tref­fen – nur im posi­ti­ven Sin­ne. Um mich her­um stan­den lau­ter Men­schen, die mit kett­car erwach­sen gewor­den waren, und es tat gut zu sehen, dass die Band immer noch da war. Bei „Lan­dungs­brü­cken raus“, an der wich­ti­gen Stel­le „2002 the year Schwach­sinn bro­ke“, ging plötz­lich Pyro­tech­nik los und es reg­ne­te Gold. Eigent­lich ein biss­chen too much für die­se beschei­de­ne Band, die es nie drauf ange­legt hat, im Radio gespielt zu wer­den, aber in die­sem Moment ver­dammt ange­mes­sen.

kett­car waren schon kurz vor der Neu­es­ten Deut­schen Wel­le da gewe­sen, und sie sind jetzt immer noch da, wo man kaum noch das Radio ein­schal­ten kann, ohne von einem die­ser neu­en Schla­ger­hei­nis ange­nu­schelt zu wer­den, auf die das Adjek­tiv zutrifft, dass kett­car damals viel­leicht sogar erfun­den haben: „befind­lich­keits­fi­xiert“. Von mei­nen Hel­den von damals sind sie die letz­ten Ver­blie­be­nen: Tom­te sind ein­fach nicht mehr da und Thees Uhl­mann besingt tote Fische, muff pot­ter. haben sich selbst den Ste­cker gezo­gen und Jupi­ter Jones, denen ich ihren spä­ten Durch­bruch ja eigent­lich wirk­lich von Her­zen gön­ne, spie­len jetzt gemein­sam mit Ana­sta­cia und fuck­ing Mick Huck­nall („The Voice Of Sim­ply Red“) bei der „AIDA Night of the Proms“.

Am Frei­tag erschien „Du und wie­viel von Dei­nen Freun­den“ in der „10 Jah­re Delu­xe Edi­ti­on“, die man viel­leicht nicht ganz zwin­gend braucht, wenn man eh schon alles von kett­car hat, aber die mit die­sem wun­der­schö­nen Trai­ler daher­kommt:

Am Sonn­tag habe ich kett­car beim Visi­ons West­end in Dort­mund wie­der live gese­hen, zum ins­ge­samt 15. Mal, wenn ich rich­tig gezählt habe. Es war einer ihren bes­ten Auf­trit­te. Die Men­schen, an die ich beim Hören den­ke, sind im Lau­fe der Jah­re ande­re gewor­den, aber die Songs sind immer noch so gigan­tisch groß wie damals, als ich sie zum ers­ten Mal gehört habe.

I’d like to thank the aca­de­my (aca­de­my, aca­de­my).