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Digital Gesellschaft

Lesen Sie diese peinliche Einladungskarte im Original

Ich schrei­be jetzt seit ziem­lich genau 12 Jah­ren ins Inter­net: Erst über Kino­fil­me, dann über Musik, dann über alles mög­li­che und das Ver­sa­gen von Jour­na­lis­ten. Mit der Zeit habe ich mir ange­wöhnt, schon im Moment des Erle­bens im Kopf Blog­ein­trä­ge zu For­mu­lie­ren. Das ist sehr läs­tig, weil ich Rock­kon­zer­te zum Bei­spiel nicht mehr als schö­ne Ereig­nis­se wahr­neh­me, son­dern haupt­säch­lich als Vor­la­gen für Tex­te, die in den aller­meis­ten Fäl­len dann doch nie geschrie­ben wer­den.

Face­book hat alles noch schlim­mer gemacht, denn plötz­lich ist – um es mit Hei­ner Mül­ler zu sagen – alles Mate­ri­al: Das leid­lich lus­ti­ge Erleb­nis im Super­markt, der mit­ge­hör­te Dia­log in der Stra­ßen­bahn oder die Fest­stel­lung, dass ich seit eini­gen Mona­ten offen­bar zu doof bin, mir die Schnür­sen­kel so zuzu­bin­den, dass sie nicht unter­wegs auf­ge­hen. Alles kann ich schnell ins Smart­phone tip­pen oder mir bis zuhau­se mer­ken und es dann in die Halb­öf­fent­lich­keit von Face­book kübeln. Und dann ist es ja offi­zi­ell mit­ge­teilt, wes­we­gen ich die Epi­so­den nicht mehr behal­ten muss, um sie in fröh­li­cher Run­de Freun­den oder Ver­wand­ten zu berich­ten. Ich habe gespro­chen, wie der Indi­an­der sagt, und obwohl das Inter­net ja an sich nicht ver­gisst, sind die gan­zen mehr oder weni­ger unter­halt­sa­men Erleb­nis­se, die gan­zen mehr oder weni­ger geist­rei­chen Gedan­ken anschlie­ßend eini­ger­ma­ßen weg und für Tage­buch, etwa­ige Enkel und geplan­te Roma­ne und Dreh­bü­cher irgend­wie nicht mehr ver­füg­bar. Dar­un­ter lei­det auch die­ses Blog.

Blöd ist aber auch die Sche­re im Kopf, die irgend­wann unwei­ger­lich auf­taucht, sobald man begrif­fen hat, dass das, was man da ins Inter­net schreibt, auch von irgend­je­man­dem gele­sen wird. Es ist einer­seits schön, von wild­frem­den Men­schen im öffent­li­chen Raum ange­spro­chen zu wer­den, weil ihnen das eige­ne Blog gefällt (und man selbst so unvor­sich­tig war, die eige­ne Fres­se auch dann und wann in eine Video­ka­me­ra zu hal­ten und somit gesichts­be­kannt ist), aber es ist ande­rer­seits auch ein biss­chen beun­ru­hi­gend, wenn Leu­te, deren Namen man nicht kennt (auch, weil man in dem Moment, da sie ihn genannt haben, wie­der unauf­merk­sam war), einem erzäh­len, wie schön sie die­sen oder jenen Text jetzt gefun­den hät­ten.

Schlim­mer ist nur noch das pri­va­te Umfeld. Ich war in den ver­gan­ge­nen Mona­ten auf meh­re­ren Hoch­zei­ten ein­ge­la­den. Meh­re­re Arti­kel über das Zusam­men­sein von Mann und Frau, über die offen­sicht­li­che Unmög­lich­keit von unpein­li­chen Ein­la­dungs­kar­ten, über die Ein­rich­tung von Woh­nun­gen und über die Mensch­heit im All­ge­mei­nen schwir­ren seit­dem aus­zugs­wei­se durch mein Ober­stüb­chen und har­ren ihrer Nie­der­schrift – doch ich traue mich nicht. Schrie­be ich iden­ti­fi­zier­bar (und für weni­ge Men­schen iden­ti­fi­zier­bar wäre ja schon schlimm genug), wären die Gast­ge­ber aus guten Grün­den belei­digt: „Erst frisst er sich auf unse­re Kos­ten durch den Abend und dann gei­ßelt er unse­re Ein­la­dungs­kar­te.“ Schrie­be ich sehr all­ge­mein, wären womög­lich hin­ter­her die fal­schen Men­schen ange­fres­sen: „Erst frisst er sich auf unse­re Kos­ten durch den Abend und dann gei­ßelt er unse­re Ein­la­dungs­kar­te, von der er vor­her noch gesagt hat, er fän­de sie über­ra­schend unpein­lich.“ Die Arti­kel wer­den also wei­ter auf sich war­ten las­sen.

Über­haupt ist das ja ein inter­es­san­tes Phä­no­men, das frü­her allen­falls Men­schen betraf, die Autoren oder Musi­kan­ten in ihrem Bekann­ten­kreis hat­ten: Alles, was wir heu­te sagen, tun oder nicht tun, könn­te schon mor­gen in irgend­ei­nem Blog­ein­trag oder wenigs­tens in irgend­ei­nem Face­book-Post auf­tau­chen und min­des­tens die 200 engs­ten Freun­de wüss­ten, wer gemeint ist. Dro­gen wer­den seit Erfin­dung von Han­dy­ka­me­ras daher sowie­so von nie­man­dem mehr kon­su­miert und Sex fin­det aus­schließ­lich im Dun­keln statt (das ist auch bes­ser fürs Selbst­be­wusst­sein, steht in jeder zwei­ten Frau­en­zeit­schrift).

Doch wie kam ich drauf? Rich­tig: Ich hat­te heu­te ein leid­lich lus­ti­ges Erleb­nis in der S‑Bahn, das ich im Face­book irgend­wie nicht rich­tig hät­te aus­brei­ten kön­nen (im Twit­ter hät­te ich mit dem Bericht nicht mal begin­nen kön­nen, weil ich es für nach­ge­ra­de unmög­lich hal­te, mei­ne Gedan­ken in 140 Zei­chen zu packen – sonst wäre ich schließ­lich Pro­fi­fuß­bal­ler gewor­den).

Ich stieg also in die S‑Bahn ein und da saß eine schwer blut­ver­schmier­te Per­son.
„Herr Ober, da sitzt eine schwer blut­ver­schmier­te Per­son“, hät­te ich also ins Face­book geschrie­ben, nur um dann zu ergän­zen, dass die Per­son aber offen­bar etwas mit Rol­len­spie­len oder ähn­li­chem zu tun hat­te, jeden­falls sehr ordent­lich geschminkt war. Even­tu­ell hät­te ich noch die Fra­ge an mich selbst hin­zu­ge­fügt, war­um ich in der S‑Bahn eigent­lich nach dem Ober rufe, das ist ja schließ­lich kein Restau­rant.

Im Nach­hin­ein betrach­tet wäre die­se Geschich­te viel­leicht sogar für Twit­ter zu sinn­los gewe­sen.

Des­we­gen schnell noch eine ande­re Geschich­te, die ich auch nicht bei Face­book gepos­tet habe: Ges­tern in der Buch­hand­lung, ein Tisch „Lesen Sie die­se Best­sel­ler im Ori­gi­nal“. Dar­auf: Die „Millennium“-Trilogie von Stieg Lars­son auf Spa­nisch.