In der aktuellen Debatte um akademische und wissenschaftliche Ehre ist mir eine Geschichte wieder in den Sinn gekommen, die sich vor einiger Zeit an meinem ehemaligen Gymnasium ereignet haben soll und an deren Wahrheitsgehalt ich keinen Grund zu Zweifeln habe:
In einem Englisch-LK war eine Schülerin am Tag der Klausur krank gewesen und musste diese nachschreiben. Wie allgemein üblich wurde sie dafür alleine in einen ungenutzten Raum (ich glaube, es war der Erdkunde-Kartenraum) gesetzt, wo ihr die Aufgabenstellungen vorgelegt wurden. Entgegen der üblichen Vorgehensweise und vermutlich auch entgegen zahlreicher Vorschriften gab ihr der Lehrer exakt die gleichen Arbeitsanweisungen, die er schon dem Rest der Klasse kurz zuvor bei der “echten” Klausur ausgehändigt hatte.
Interessanterweise hatte die Schülerin in ihrem Rucksack die bereits korrigierte und zurückgegebene Klausur eines Mitschülers, die sie nun über die nächsten Stunden ausführlich abschrieb — entgegen aller schulischen Regeln und jedweder Moral, versteht sich.
Dem Lehrer scheint das Komplett-Plagiat nicht aufgefallen zu sein, jedenfalls wertete er die Klausur nicht als Täuschungsversuch, sondern korrigierte sie ganz normal. Oder: fast, denn er hatte die Original-Arbeit des Schülers deutlich besser (die genauen Details sind niemandem mehr erinnerlich, aber die Rede war von mindestens sechs Punkten, was zwei Noten entspräche) bewertet als die der Schülerin.
Die Schülerin, die sich die ganze Zeit von dem Lehrer ungerecht behandelt gefühlt hatte, konnte natürlich nicht zum Rektor gehen, um sich über ihre Note zu beschweren. Aber eine bemerkenswerte Geschichte war es doch.