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Die Achse des Blöden

Im heiß umkämpf­ten Ren­nen um den däm­lichs­ten Text zur Love­pa­ra­de-Kata­stro­phe ist „Welt Online“ mög­li­cher­wei­se unein­hol­bar in Füh­rung gegan­gen:

Tragische Orte: Duisburg verewigt sich auf der Landkarte des Grauens. Winnenden, Hoyerswerda, Eschede – der Schrecken klingt meist nach Provinz. Nun ist auch Duisburg auf der Landkarte des Grauens gelandet.

Autorin Bren­da Stroh­mai­er offen­bart dabei eine beein­dru­cken­de Phan­ta­sie:

Duis­burg ist auf der Land­kar­te des Grau­ens gelan­det. Orte wie Ramstein(offizielle Home­page), Winnenden(hier), Mügeln(hier) haben sich dort unfrei­wil­lig ver­ewigt, eben­so Bad Kleinen(hier) und Gladbeck(hier), Tscher­no­byl und Bho­pal. Wür­de man die per­fek­te Kar­te davon zeich­nen, so müss­te man auch eine maka­ber anmu­ten­de Legen­de ent­wer­fen. Bestimm­te Sym­bo­le stün­den für Unfall, Miss­brauch, Rechts­ra­di­ka­lis­mus. Und ver­schie­de­ne Far­ben für ver­schie­de­ne Opfer­zah­len. In Klam­mern hin­ter den Orten wür­de wohl jeweils die Jah­res­zahl der Kata­stro­phe ste­hen.

Die per­fek­te Kar­te des Grau­ens soll­te natür­lich auch noch die zen­tra­le Gedenk­stät­te und den Tag der all­jähr­li­chen Gedenk­ver­an­stal­tun­gen ver­zeich­nen.

Und natür­lich soll­te die Kar­te einen ziem­lich gro­ßen Maß­stab haben, weil die Orte ja alle so klein sind:

Wie eine Anti-Image­kam­pa­gne kata­pul­tiert das Unglück die Orte in eine Welt des unge­woll­ten Ruhms, in der ganz eige­ne, zyni­sche Regeln gel­ten. Eine davon: Je klei­ner und unbe­kann­ter der Ort, des­to wahr­schein­li­cher lan­det er wegen eines Ver­bre­chens auf der Land­kar­te. Der Schre­cken klingt meist nach Pro­vinz.

Schre­cken klingt also nach Pro­vinz, aber nicht nur: Er kann auch nach Groß­städ­ten klin­gen. Aber Groß­städ­te kön­nen auch ein Schutz sein.

Oder wie es Frau Stroh­mai­er selbst for­mu­liert:

Grö­ße schützt nicht immer: Sogar Metro­po­len lan­den auf der Welt­kar­te des fins­te­ren Ruh­mes – wenn das Aus­maß der Kata­stro­phe ent­spre­chend dimen­sio­niert ist. Seit dem 11. Sep­tem­ber 2001 klingt selbst New York nach Tra­gö­die. Und seit dem 24. Juli eben auch Duis­burg, die mit fast 500.000 Ein­woh­nern fünft­größ­te Stadt Nord­rhein-West­fa­lens. Doch die Grö­ße birgt auch die Chan­ce, dass der Name auf der Schre­ckens­kar­te wie­der ver­blasst.

Viel­leicht ist es also letzt­lich ent­schei­dend, ob eine Stadt egal wel­cher Grö­ße einen Mist­hau­fen hat, und was die Häh­ne auf dem so tun oder auch nicht.

Das Prin­zip hin­ter die­sem Text ist natür­lich nicht neu: Im ver­gan­ge­nen Jahr hat­te die Web­site der „Mün­che­ner Abend­zei­tung“ kurz nach dem Amok­lauf von … na klar: Win­nen­den in einer Klick­stre­cke bereits die „Orte des Grau­ens“ gekürt und schwa­fe­lig ver­kün­det:

Es gibt Orte, die für immer den Stem­pel des Grau­ens ver­passt bekom­men haben. Wenn man ihren Namen hört, denkt man unwill­kür­lich an die schreck­li­chen Taten und mensch­li­chen Tra­gö­di­en, die sich dort abge­spielt haben.

Das alles hat mit Jour­na­lis­mus natür­lich nichts mehr am Hut, es ist eine self ful­fil­ling pro­phe­cy, ähn­lich wie der Off-Kom­men­tar in der WDR-Son­der­sen­dung am Sams­tag­abend, in dem die Spre­che­rin bedeu­tungs­schwer ver­kün­de­te, das sei­en jetzt Bil­der, die die Men­schen nie mehr ver­ges­sen wer­den – Bil­der, die allein inner­halb der ein­stün­di­gen Sen­dung da gera­de zum vier­ten Mal über den Bild­schirm flim­mer­ten.

Bei Frau Stroh­mai­ers Land­kar­ten-Text kann man es sogar ganz prak­tisch über­prü­fen:

Neh­men wir Bries­kow-Fin­ken­heerd, 2500 Bewoh­ner, süd­lich von Frankfurt/​Oder gele­gen.

Na, klingelt’s?

Oder muss jemand nicht an die neun toten Babys den­ken, die im Som­mer 2005 gefun­den wur­den?

Ganz ehr­lich? Bis eben nicht, Frau Stroh­mai­er, bis eben nicht! Aber die Ein­woh­ner von Bries­kow-Fin­ken­heerd dan­ken es Ihnen sicher, dass sie die­se klei­ne Erin­ne­rungs­lü­cke bei mir geschlos­sen haben.

Es ist erstaun­lich, wie viel man auf logi­scher und sprach­li­cher Ebe­ne falsch machen kann, aber Bren­da Stroh­mai­er lässt auch nichts unver­sucht, ihre eige­ne The­se Wirk­lich­keit wer­den zu las­sen: Dass im Arti­kel selbst eine Stadt­so­zio­lo­gin zu Wort kommt, die rela­tiv zuver­sicht­lich ist, was Duis­burgs zukünf­ti­ge Kon­no­ta­tio­nen angeht? Geschenkt. Dass seit Sams­tag in ers­ter Linie von Unglü­cken, Kata­stro­phen und Tra­gö­di­en „bei der Love­pa­ra­de“ die Rede ist? Egal. Haupt­sa­che: Duis­burg. Oder „Duis­berg“, wie es gleich im ers­ten Satz heißt.

Dis­clo­sure: Ich bin in Duis­burg gebo­ren und schon mal von „Welt Online“ abge­mahnt wor­den.

Mit Dank an David S.