Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätte die Bundesligasaison um 16:15 Uhr wirklich vorbei sein können:
Es gibt Dinge, von denen eigentlich klar ist, dass man sie nie tun darf: Sich über ein Festival-Lineup freuen, bevor der Zeitplan raus ist (und man feststellt, dass alle Bands, die man sehen will, gleichzeitig spielen); den eigenen Freunden vor dem entscheidenden Date vom aktuellen love interest erzählen und Siege von Borussia Mönchengladbach vor dem Abpfiff feiern. Ich hab heute zur Abwechslung mal wieder letzteres getan.
Weil ich im Vorverkauf keine Karten für den Gladbacher Block gekriegt hatte, war ich heute auf gut Glück zum Ruhrstadion gefahren. Dort gab es tatsächlich noch Karten, aber eben nur für die Bochumer Kurve. Mit ungutem Gefühl meine Eignung als Undercover-Agent betreffend stellte ich mich also zwischen die Bochumer Fans (zu denen ich mich als Zugezogener an jedem anderen Spieltag auch zähle) und stellte mir die – wie ich annahm theoretische – Frage, ob ich bei möglichen Gladbacher Toren wohl ruhig bleiben könnte.
Die Frage wurde in der 19. Minute beantwortet: Ich konnte. (In der letzten Saison habe ich mir beim 1:0 der Gladbacher meine Stimme völlig ruiniert. Falscher Block hat also auch was für sich.) Etwas überraschend ging Gladbach, das die ersten fünf Minuten die interessante Spielvariante komplett ohne Mittelfeld ausprobiert hatte, durch Arango in Führung. Sieben Minuten später kesselte es erneut, die ersten Bochum-Fans verließen das Stadion und die Borussia tat etwas, wofür sie nicht unbedingt immer berühmt ist: sie spielte schönen und schlüssigen Offensiv-Fußball. Das 3:0 in der 41. Minute war die logische Folge und Mönchengladbach war Tabellenführer.
Bis hierhin waren die Borussen-Fans schon häufig die lauteren Anhänger gewesen, jetzt waren sie die einzigen. In der Bochumer Kurve richtete sich jener abgrundtiefe Hass, den man außerhalb von Fußballstadien nur in Terrorcamps und Musikforen im Internet findet, plötzlich gegen die eigene Mannschaft. Zu gern wäre man in der Halbzeitpause in der Kabine gewesen, um Marcel Koller bei seinem Wutanfall zu beobachten. Aber die “Highlights” der ersten Spielhälfte auf der Videoleinwand waren auch schon ein schöner Ersatz.
Nach der Pause fiel den Bochumer Spielern plötzlich wieder ein, warum sie eigentlich ins Stadion gekommen waren, und in der 51. Minute stand es 1:3. Was dann folgte, kann ich erst nach Sichtung der Fernsehbilder heute Abend verstehen: Es müssen maximal fünf Ballkontakte nach dem Wiederanpfiff gewesen sein und schon hatte Azaouagh zum zweiten Mal für die Bochumer getroffen. Da dämmerte mir, dass die erste Halbzeit ein Traum gewesen war und mich die Gladbacher gerade mit Holzhämmern zu wecken gedachten. Verkatert, mitten in der Nacht, an einem Ort, den ich nicht kannte. Und dann holte sich Dante in der 59. Minute eine der dämlichsten roten Karten der Fußballgeschichte ab und Borussia war zu zehnt.
Klar, dass vier Minuten später der Ausgleich fiel. In nicht mal einer Viertelstunde, die mir allerdings vorkam wie ein vierstündiger tschechischer Experimental-Film ohne Untertitel, war das komplette Spiel gekippt. In einem der wenigen Momente, in denen ich noch denken konnte, dachte ich: “Respekt, wie die Bochumer sich da noch mal aufgerappelt haben! Gladbach hätte ab einem 0:2-Rückstand nur noch auf Halten gespielt.” Ich wollte nach hause, aber ich durfte das Stadion auf keinen Fall verlassen, denn die letzte Hoffnung waren meine Serien: Noch nie hatte Gladbach verloren, als ich im Stadion war, und noch nie hatte Bochum etwas anderes als Unentschieden gespielt.
Irgendwann kamen die Gladbacher dann auch mal wieder ins Spiel und in die Nähe des Bochumer Tores. Zum Schluss hätte jede Mannschaft noch einen Siegtreffer landen können, aber für Bochum wäre er zugegebenermaßen etwas verdienter gewesen. Doch es blieb bei den sechs Toren, die natürlich allesamt auf der anderen Seite des Stadions gefallen waren. Der Abpfiff kam und ich war erleichtert, dass die Saison wenigstens nicht schon wieder mit einer Niederlage begonnen hatte. Jetzt nur schnell weg! Als ich zuhause aus der U-Bahn stieg, spielte die Shuffle-Funktion meines iPods “Don’t Look Back In Anger”.
Vielleicht war es aber auch ganz gut, dass das mit der Tabellenführung nichts wurde: Zum letzten Mal war Gladbach am ersten Spieltag der Saison 98/99 auf Platz 1 und stieg am Ende als 18. ab.