In den letzten Tagen war Bochum mal wieder der Mittelpunkt irgendeiner Welt — mutmaßlich der Musikwelt Nordrhein-Westfalens. Jedenfalls war Bochum Total und aus mir selbst nicht ganz nachvollziehbaren Gründen wollte ich möglichst viel davon mitkriegen.
Vier Tage, 60 Bands, hunderttausende Liter Bier und noch ein bisschen mehr Regenwasser — eine persönliche Dokumentation:
Donnerstag, 2. Juli
Man kann nicht behaupten, ich sei schlecht vorbereitet gewesen: Centimeterdick hatte ich Sonnencreme aufgetragen, um eine zerfetzte Nase wie nach meinem Nordsee-Urlaub zu vermeiden. Ich hatte eine Sonnenbrille auf, die nicht nur ungefährdetes fassungsloses Anstarren bizarr gekleideter Menschen ermöglichte, sondern auch derbste Gewittertierchen-Schwärme davon abhielt, mir in die Augen zu fliegen. Warum das alles nur halbgut vorbereitet war, lesen Sie gleich …
Mintzkov (Ring-Bühne)
Wenn ich an Festivals denke, denke ich erstmal grundsätzlich ans Haldern Pop, das einzige Festival, das ich jedes verdammte Jahr besuche (im August zum zehnten Mal in Folge) und das in meiner wunderschönen niederrheinischen Heimat stattfindet. Sehr nett also, dass es in Bochum mit einer echten Haldern-Band losging, denn Mintzkovs aktuelles Album ist auf dem Haldern-Pop-Label erschienen. Auch musikalisch klingen die fünf Belgier sehr nach Haldern: Uptempo-Indierock mit etwas bratzigen Gitarren. (Würde Ihnen “belgisch eben” weiterhelfen?)
Tommy Finke (Ring-Bühne)
Nach so viel Haldern ging’s dann sehr konkret zurück nach Bochum: Tommy Finke, Lokalmatador und Szenegröße, hatte ein echtes Heimspiel (aus der Reihe: “Dumme Fußballmetaphern für hilflose Musikjournalisten”). Alte Hits wie “1000 Meilen” oder “Bier And Loathing In Las Vegas” wurden groß gefeiert, neue Stücke wie “Stop The Clocks” erhöhen die Vorfreude aufs neue Album “Poet der Affen”. Bei allem Respekt vor Herbert Grönemeyer: So langsam wird es mal Zeit, dass jemand neues die Bochumer Fahne im Deutschpop spazieren trägt.
Schon während des Auftritts war ein verdächtig wirkender kalter Wind aufgekommen, aber ich warf mich mit einem meiner besten Freunde lieber erst mal ins Getümmel — Menschen gucken und Bier trinken. Als wir gerade an einer strategisch sehr guten Position an einem Bratwurststand angekommen waren, taten sich dann die Schleusen auf und die Inhalte zweier Ostseen (meteorologisch gewagte Schätzung: Coffee And TV) ergossen sich binnen weniger Minuten über die Bochumer Innenstadt.
Die Viktoriastraße verwandelte sich in eine Art Fluss, der eine Fließgeschwindigkeit aufwies, die den Dinslakener Rotbach (eine Art stehendes Fließgewässer) sehr, sehr alt aussehen ließ. Überall war Regen — gerne auch waagerecht in der Luft und aus allen Richtungen gleichzeitig kommend.
Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei und alle waren nass bis auf die Haut. Eigentlich hätten wir uns jetzt bequem Jennifer Rostock auf der Eins-Live-Bühne anschauen können (so aus reiner Neugier), aber als es dann schon wieder zu regnen anfing, erschien uns das Konzept “Wohnung” dann doch als das einladendere. Der Auftritt von Jennifer Rostock wurde übrigens abgebrochen, als ein Lichtträger umfiel und den Keyboarder leicht verletzte.
Freitag, 3. Juli
Als ich wieder in die Innenstadt fuhr, lag eine Katerstimmung über den Besuchern, die man sonst nur vom letzten Tag eines echten (also mit Camping und Dosenravioli verbundenen) Festivals kennt. Es hatte den ganzen Tag über immer mal wieder geregnet, aber vorerst war es trocken. Die drückende Hitze des Vortags war weg, aber irgendwie war klar, dass es noch eine Zugabe geben würde …
The Black Sheep (Eins-Live-Bühne)
Diese Band aus Köln hatte ich mal durch Zufall im “Rockpalast” gesehen und für gar nicht so schlecht befunden. Gerade die ruhigeren, an K’s Choice erinnernden Stücke, hatten es mir angetan. Mit sowas war bei einem Open Air auf der Hauptbühne natürlich eher nicht zu rechnen. Beim Soundcheck war ich etwas in Sorge, dass die vier jungen Frauen gnadenlos untergehen könnten — so Schülerband-mäßig verhuscht spielten sie an ihren Instrumenten rum. Aber als sie richtig loslegten, hatten sie das doch recht große Publikum bald unter Kontrolle. Der Sound war ausgesprochen satt, musikalisch erinnerte einiges an Die Happy, die frühe Avril Lavigne und ein bisschen an The Sounds. Nicht unbedingt das, was ich mir zuhause regelmäßig auf Platte anhören würde (und einzeln kann man die Songs bei iTunes leider nicht kaufen), aber live durchaus nett anzuhören (na ja: und anzusehen). Funktioniert im Club bestimmt noch ein bisschen besser als auf einer so großen Bühne.
Nach einer halben Stunde war dann leider schon wieder Schluss, denn das nächste Unwetter stand bereit und zwang auf allen Bühnen zur Unterbrechung. Fast schon routiniert stellten sich die Leute unter Bierständen, Vordächern (von denen Bochum definitiv zu wenige hat) und in U-Bahn-Stationen unter und warteten ab. Zwar ging der Regen auch diesmal wieder waagerecht um Hausecken, aber die Flussbildung auf den Hauptstraßen blieb aus. Trotzdem schleppte ich mich nach hause, wurde auf dem Weg von der U-Bahn zur Wohnung noch mal richtig schön nass und guckte dann nach einer heißen Dusche aus meinem Fenster für den Rest des Abends auf einen zwar nicht strahlend blauen, aber doch sehr Unwetter-armen Himmel. Auf The Parlotones und Hellsongs hab ich dann aber doch verzichtet.
Samstag, 4. Juli
Atomic (Heinz-Bühne)
Aus der Reihe “Bands, deren Namen ich schon hundertmal gehört, gelesen und empfohlen bekommen habe, mit denen ich mich aber noch nie näher beschäftigt habe”: Atomic aus Bayern. Eine Band, die seit neun Jahren Britpop macht, also ziemlich genau seit der Zeit, als Britpop offiziell tot war (“Standing On The Shoulder Of Giants”, die ganz Alten und Oasis Ultras werden sich erinnern). Und sie machen das gar nicht schlecht: Ein bisschen Kinks, ein bisschen Stone Roses, ein bisschen Charlatans und Oasis. Die passende Musik, um bei einem kühlen Bier im Schatten den dritten Total-Tag zu beginnen.
MissinCat (WAZ-Bühne)
Drei Songs dieser italienisch-stämmigen Singer-Songwriterin haben wir uns noch gegeben. Zu wenig, um sich ein echtes Urteil erlauben zu können, aber es war durchaus nett im besten Sinne. Entspannt, unspektakulär, aber charmant. Zur Wiedervorlage geeignet.
Auletta (Eins-Live-Bühne)
Normalerweise schrillen bei mir alle Alarmglocken, wenn ein Major eine deutschsprachige Band als “Top-Thema” an den Mann bringen will: Erinnerungen an Panda werden wach, das große Abschreibeobjekt von Universal, an Karpatenhund, die Band mit der einen guten Single und dem maximalen Aufwand von Virgin. Jetzt also sind Auletta aus Mainz für EMI im Rennen — teilweise angepriesen als “Franz Ferdinand mit deutschen Texten”.
Das stimmt nicht: Musikalische erinnert fast alles an Mando Diao, ein bisschen noch an The Kooks. Ich weiß nicht, ob ich mir die Band unbedingt auf Platte anhören würde, aber live funktioniert ihre Musik erstaunlich gut. Nach ein paar Minuten wichen die eingeübten Rockstar-Posen dann auch der aufrichtigen Freude über die Begeisterung des Publikums. Sowas kommt dann wiederum bei den Zuschauern gut an und alle sind glücklich. (Die Formulierung “sympathischer als 1000 Robota” habe ich wieder gestrichen, weil sie nahezu allgemeingültig ist.)
Jupiter Jones (Eins-Live-Bühne)
Mein fünftes Jupiter-Jones-Konzert, das dritte beim Bochum Total. Nicht ohne Stolz und Verwunderung erzählte Sänger Nicky dann auch gleich, dass man jedes Mal auf der nächstgrößeren Bühne spielen durfte — so gesehen bräuchte man eigentlich in zwei Jahren eine neue Hauptbühne. Mit vielen Songs von ihrem neuen, wieder sehr gelungenen Album “Holiday In Catatonia” konnte das Quartett aus der Eifel zeigen, wie viel Energie sie so live versprühen kann. Wie gut das alles ankam zeigt sich schon daran, dass die Band entgegen aller Pläne und Absprachen noch eine Zugabe spielen durfte, in die sich Eins-Live-Urgestein und Ansager Mike Litt allerdings auch ziemlich blöde selbst reingequatscht hatte.
Jupiter-Jones-Akustikvideos aus Bochum gibt’s übrigens bei den Kollegen von Get Addicted.
Fire In The Attic (Eins-Live-Bühne)
“Och, so ‘n bisschen Hardcore könnte man doch auch noch mitnehmen”, sagte ich zu meinen auswärtigen Gästen. Irgendwas sagte mir der Bandname ja schließlich. Als Fire In The Attic loslegten, bezeichnete ich deren Musik als “amtlich” und hätte sie mir alleine vermutlich noch etwas länger angeguckt, aber der Besuch wollte dringend weiter.
Eternal Tango (Heinz-Bühne)
Die Alternative aus Luxemburg vermochte uns dann aber auch nicht so wirklich zu begeistern: melodischer zwar, aber im direkten Vergleich dann wieder viel zu brav. Es klang nach Panic At The Disco und Fall Out Boy und da hätte ich dann doch lieber weiter aus sicherer Distanz die Auf-die-Fresse-Bretter von Fire In The Attic genossen. Wir entschieden uns letztlich für ein paar Bier in der Kneipe.
Sonntag, 5. Juli
Silvester (Eins-Live-Bühne)
Letzter Tag, viel zu lange geschlafen, nicht rechtzeitig losgekommen, aber doch noch ziemlich viel gesehen von Silvester. Die waren mir extra ans Herz gelegt worden und mit so einer Prämisse guckt man Bands dann doch immer ganz anders. Silvester haben eine Sängerin, die alle Songs geschrieben hat, und selbst Instrumente (nämlich Gitarre und Keyboard) spielt — insofern verbieten sich Vergleiche mit Juli und Silbermond. Mit den ruhigeren, emotionalen Liedern von Wir Sind Helden hat die Musik von Naimi Husseini dann schon mehr zu tun, aber insgesamt ist das schon sehr eigenständig. Die Texte gehen mitunter bis knapp unterhalb der Schlagergrenze, sind aber eher poetisch als peinlich. Also irgendwo in der Gegend von Gregor Meyle. Das Album ist noch nicht raus, lohnt aber sicher eine nähere Betrachtung bei Erscheinen.
Am Rande dieses Auftritts erlebte ich dann auch die schönste Anekdote dieses Total-Jahres: Ein Teenager, von vier Tagen Wetter und Alkohol etwas in Mitleidenschaft gezogen, schaute ins Programmheft und brüllte fassungslos: “Silvester?! Wir haben Anfang Juli! Anfang Juli haben wir! Silvester?!” Seine Freundin legte ihm mit einem Blick, von dem ich dachte, dass Frauen ihn erst nach zwanzig Jahren Ehe im Repertoire haben, die Hand auf die Schulter.
CSSR (Café Zacher)
“Clash Songs Slighty Raped” — warum das Festival nicht mit einer Clash-Coverband im Offstage-Programm beenden? Nun ja, es war ganz nett, was diverse lokale Szenelegenden (so das Programmheft, ich wohn doch erst fünf Jahre hier) da aus Clash-Klassikern und Joe-Strummer-Solosachen machten, aber ihre Interpretation von “Motorcycle Emptiness” (Manic Street Preachers) war dann doch eine Spur zu viel für mich.
Das Bochum Total endete für mich persönlich dann mit einem Musik Quiz in der Szenekneipe Freibeuter, bei dem die Kollegin Kathrin den ehrenhaften zweiten Platz belegte. Im Gegensatz zum Siegerteam hat sie übrigens auf den Einsatz von Musikerkennungssoftware auf ihrem iPhone verzichtet.
Fazit
Zum ersten Mal überhaupt war ich jeden Tag beim Bochum Total. Musikalische Offenbarungen blieben aus, aber es gab ein paar ganz spannende neue Sachen zu sehen und zu hören. Von den Wolkenbrüchen am Donnerstag und Freitag kann ich vermutlich meinen Enkeln noch erzählen (was die dann mit einem “Ja, Opa, das war vor dem Abschmelzen der Polkappen!” quittieren werden).
Natürlich spielt beim Bochum Total die Musik für viele nur eine Nebenrolle, aber gerade den jüngeren Zuschauern hat man angemerkt, wie glücklich die einfach waren, irgendwas live und laut sehen zu können, ohne dafür bezahlen zu müssen. Das Positive an so kommerziellen Großveranstaltungen ist ja auch, dass sie – im Gegensatz zu alternativen Stadtfesten in Hamburg oder Berlin – eher selten von randalierenden Horden als Bühne für Krawall unter irgendeinem Deckmantel missbraucht werden. Entsprechend friedlich lief es auch diesmal wieder ab.
Das Schlusswort soll aber dem Post Scriptum des Programmhefts gebühren — es ist einfach zu schön:
P.S. Bochum Total findet gegen den ausdrücklichen Wunsch und jedes Bemühen der GEMA weiterhin statt […]