Der Amoklauf von Erfurt fand am 26. April 2002 statt, unserem allerletzten Schultag. ((Am anderen Dinslakener Gymnasium waren die Abiturienten an diesem Morgen – wenn ich das richtig im Kopf habe – mit Wasserpistolen durch die Klassenräume gezogen, um ihren letzten Schultag zu feiern.)) Ich habe daher nie erfahren, wie Schulen auf solche Vorfälle reagieren. Während einer unserer Abi-Klausuren wurde zwar 200 Meter weiter eine Weltkriegsbombe entschärft, aber ansonsten waren wir nur Normalität gewöhnt.
Ich bin mir sicher, dass meine Schulzeit anders ausgesehen hätte, wenn das alles nicht nach uns passiert wäre. Wir waren die Nerds, wir haben “Half Life” gespielt, Metal oder Punkrock gehört (auch Pop, aber wen hätte das interessiert) und gerade ich hatte den Ruf, ein bisschen wahnsinnig zu sein. ((Der Ruf war nicht ganz unbegründet.)) Wir waren also komisch — wie alle Teenager. Und wir wären potentiell verdächtig gewesen.
Die Muschelschubserin hat einen sehr lesenswerten Text darüber geschrieben, wie das so war, als Teenager in einer Kleinstadt aufzuwachsen.
Schon damals – in Zeiten ohne Internet, Handys und Ballerspielen – hat niemand gemerkt, was wir wirklich tun, was uns wirklich bedrückt, wie ausgeschlossen wir uns gefühlt haben, wie sehr uns die Gesellschaft ins Gesicht gespuckt hat, dass sie mit uns nicht viel anfangen kann. Wir alle hatten damals einen starken Trieb, der sich manchmal in Aggressivität geäußert hat. Und obwohl wir uns ausgeschlossen fühlten und es gewissermaßen auch waren, wurden die meisten von uns in letzter Konsequenz immer aufgefangen, unterstützt, behütet. Genau deshalb waren wir trotz allem durchschnittliche Jugendliche, nicht auffälliger als andere. Und genau deshalb sind wir heute vermutlich alle ganz normale Menschen.
Einiges davon kenne ich aus eigener Erfahrung, anderes kann ich zumindest gut nachvollziehen. Und ich glaube, das kann jeder, der mal jung und nicht Mitglied der Jungen Union war.
Auch Johnny Haeusler hat sich bei Spreeblick Gedanken darüber gemacht, wie das eigentlich so ist, als Jugendlicher in Deutschland. Wer sich für einen interessiert und wie die Medien reagieren, wenn dann mal wieder was passiert ist:
Wie laut muss man als Jugendlicher eigentlich sein, um gehört zu werden?
Noch lauter als eine Beretta?
Und weil’s grad zum Thema Kinder passt, will ich Ihnen auch noch einen Eintrag aus dem F.A.Z.-Fernsehblog ans Herz legen.
Darin geht es unter anderem um eine Mutter, die das Folgende in eine Fernsehkamera sagte:
Ich versteh die Welt nicht mehr. Meine Tochter war in der zehnten Klasse, die hat das alles live miterlebt. Die sitzt jetzt zuhause, zittert und weint. Sie sind aus dem Fenster gesprungen, sie und ihre Freundin.
Der Frage, warum sie es in diesem Moment für klüger hielt, die Weltöffentlichkeit darüber zu informieren, statt bei ihrer Tochter zu sein, möchte ich mich gerne anschließen.
Auf eine Frage mehr oder weniger kommt’s ja auch nicht mehr an.