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Leben

Die Schere im Kopf

Wenn der Herbst durch das Ruhr­ge­biet streift wie ein zau­se­li­ger Wan­ders­mann und die Bäu­me in Wal­dorf­schul-mäßi­ge Far­ben taucht, dann spü­re ich mei­nen Hang zur Sozi­al­ro­man­tik.

Die Tage ging ich zur U‑Bahn-Sta­ti­on, vor­bei an den Vor­gär­ten der Dop­pel­häu­ser, und sah Haus­frau­en, die vom Ein­kau­fen kamen; Rent­ner, die in ihrer Ein­fahrt Laub zusam­men­kehr­ten, wohl wis­send, dass ihre Arbeit schon wie­der ver­ges­sen sein wür­de, wenn sie den Rechen in den Werk­zeug­schup­pen stel­len wür­den. Ich sah eine alte Frau, die aus ihrem offe­nen Wohn­zim­mer­fens­ter, hin­ter dem die Tages­gar­di­nen im Auf­wind der Hei­zung flat­ter­ten, ein Ver­län­ge­rungs­ka­bel in den Vor­gar­ten gewor­fen hat­te, an das sie nun den Elek­tro­mä­her ihres Gat­ten anschloss, um den letz­ten Rasen­schnitt der Sai­son vor­zu­neh­men – peni­bel genau bis zu der ansons­ten unsicht­ba­ren Grund­stücks­gren­ze, an der auch die Fas­sa­de des Dop­pel­hau­ses von Schie­fer­ver­tä­fe­lung in dun­kel­grü­nen Rauh­putz über­ging. Die Frau grüß­te wort­los und für das mensch­li­che Auge kaum sicht­bar den Post­bo­ten, der auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te Brie­fe aus­trug, ver­mut­lich Anschrei­ben der Bun­des­knapp­schaft, Post­kar­ten der Enkel aus den Herbst­fe­ri­en und viel­leicht die eine oder ande­re Todes­an­zei­ge.

Es roch nach nas­sem Laub, frisch gemäh­tem Rasen und Kohl­rou­la­den, als sich die Son­ne in einem sol­chen Win­kel durch eine schon kah­le Baum­kro­ne brach, dass jeder Maler dies­seits von Monet kopf­schüt­telnd von sei­ner Staf­fe­lei zurück­ge­tre­ten wäre und gewar­tet hät­te, bis es alles ein biss­chen weni­ger kit­schig aus­sieht. Ich ging an der nahe gele­ge­nen Grund­schu­le vor­bei und war bei­na­he froh, kein fröh­lich glu­ckern­des Kin­der­la­chen zu ver­neh­men, weil mir das in die­sem Moment wohl den Rest gege­ben hät­te und ich voll­ends davon über­zeugt gewe­sen wäre, in der 3Sat-Vari­an­te der „Tru­man Show“ mit­zu­spie­len. Nein, die Kin­der saßen, wie es sich gehört, in der Schu­le auf ihren klei­nen Stühl­chen, auf denen sich ihre Eltern beim Eltern­abend immer so komisch zusam­men­fal­ten müs­sen, an ihren klei­nen Tisch­chen und mal­ten hof­fent­lich Bil­der von herbst­li­chen Stra­ßen­zü­gen oder bas­tel­ten aus Kas­ta­ni­en und Zahn­sto­chern klei­ne Männ­chen, die immer wie­der umfal­len wür­den.

Und so ging ich selig lächelnd mei­nes Wegs, trat nicht in die Hun­de­schei­ße und frag­te mich: „War­um zum Hen­ker soll­test Du das jetzt blog­gen?“