Kategorien
Leben Unterwegs

Urlaub machen, wo andere leben

Jesus auch in Bochum

Besucht man irgendwen irgendwo und drängt diese Person mit milder Gewalt dazu, am eigenen touristischen Programm mitzumachen, wird man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am Ende einen Satz wie diesen hören: “Also, das fand ich jetzt wirklich interessant. Wenn man hier wohnt, guckt man sich das ja normalerweise gar nicht an.”

Mich kommt in Bochum leider niemand besuchen, weswegen Kathrin und ich uns am Wochenende einfach mal auf eigene Faust als Touristen in der eigenen Heimat versucht haben. Einen besonderen Grund dazu gab es eigentlich nicht, außer dass wir mal recht dringend Urlaub brauchten.

Gute Gründe, dass die Innenstadt voll ist, gibt es hingegen schon: Die Sonne scheint in all ihrer sommerlichen Pracht vom Himmel hinab, der VfL spielt zur Saisoneröffnung gegen Werder Bremen und auf dem Dr.-Ruer-Platz findet “Bochum kulinarisch” statt, eine Art Weihnachtsmarkt ohne Geschenkestände und mit besserem Essen im Sommer. Es herrscht das, was in Fernsehdokumentationen mit dem Satz “Es herrscht Volksfeststimmung” beschrieben wird, bevor dann irgendein Unglück passiert (Explosionen, einstürzende Tribünen, niedergeschlagene Volksaufstände).

Ein Unglück sollte uns am Samstag aber nicht passieren, denn Jesus liebt uns. Das behaupten zumindest die jungen Menschen, die uns hundert Meter weiter Flugblätter in die Hand drücken wollen. Wir bedanken uns für so viel Unterstützung, gehen aber lieber weiter, bevor wir noch beim großen gemeinsamen Singen mitmachen müssen. Kathrin möchte ihren Telefonanschluss kündigen, was aber im Telekom-Laden natürlich nicht geht. Deshalb gehen wir direkt weiter “Klamotten gucken”, also serious shopping betreiben. Zwanzig Minuten später habe ich bei C&A ein Paar Jeans in meiner Größe für 9 Euro erstanden (alle anderen Größen kosten 15 Euro, der Ursprungspreis ist dem Etikett leider nicht mehr zu entnehmen) und verschwand erst mal in den Tiefen einer Buchhandlung.

Um das Gefühl von Großstadt und Urlaub noch ein bisschen auszukosten, gehen wir zu Starbucks – davon hat Bochum inzwischen zwei Stück im New-York-verdächtigen Abstand von 250 Metern. Starbucks ist zwar eigentlich ein Super-Feindbild für alles und A haben mit “Don’t want your job in Starbucks” eine wunderbar treffende Liedzeile zum Thema, aber wie sonst soll man Weltläufigkeit simulieren, wenn nicht mit einer amerikanischen Kaffeekette? Ganz unamerikanisch setzen wir uns allerdings hin1 – wenn auch draußen vor den Laden, wo wir die Menschen in der Fußgängerzone wie Quallen an uns vorbeitreiben lassen. Die Bochumer Innenstadt ist teilweise derart renoviert worden in den letzten Jahren, dass ich nur auf den Tag warte, an dem die Stadt das erste Mal in einem Fernsehfilm Berlin doubeln muss, weil sich die Kamerateams in Berlin ja sowieso immer gegenseitig auf den Füßen rumstehen.

Der shopping spree soll bei H&M weitergehen, dort haben sie schwarze Cordsackos, deren Erwerb ich seit einigen Jahren ernsthaft in Erwägung ziehe. Einmal hatte ich bereits eines gekauft, aber meine persönliche Stilberaterin, die lange als Marketing-Direktor in der New Yorker Modebranche gearbeitet hatte, schickte mich mit harrschem Ton zum Umtausch. Die Ärmel seien definitiv zu kurz, so ihr vernichtendes Urteil. Die Ärmel sind auch diesmal zu kurz, was den Verdacht nahelegt, dass meine Arme in Wahrheit zu lang sind. Dafür sind meine Beine zu kurz, was das Einstellen des Fahrersitzes im Auto immer zu einer längeren Angelegenheit werden lässt.

Nach etwa einer Stunde schwedischer Massenmode (ich hatte die ebenfalls shoppende Dame ja erwähnt) bin ich gegen Fünf langsam doch mal reif für Mittagessen. Also gehen wir zur Fischbraterei von Gülcans Schwiegervater und ich entscheide mich zwecks Urlaubsfeeling für ein Krabbenbrötchen mit Nordseekrabben. Das erinnert mich immer an die ungezählten Familienurlaube an der holländischen Nordseeküste (warum ein Brötchen mit Nordseekrabben in Bochum knapp die Hälfte von dem kostet, was man in Holland hinterm Deich bezahlt, kann mir sicher irgendein VWL-Student erklären, falls ich mal einen kennenlerne).

Für den Samstag reicht uns das, außerdem will ich ja die “Sportschau” sehen. Hätte ich geahnt, dass in der ersten Stunde sowieso nichts interessantes läuft, hätte ich mir die Tierschützer, die in der Fußgängerzone Videos von leidendem Schlachtvieh zeigen, vielleicht noch mal genauer angeguckt.

Nach diesem großstädtischen Samstag hätten wir es am Sonntagabend gern ein paar Nummern kleiner. Das ist kein Problem, denn in fußläufiger Entfernung befindet sich das “Kirchviertel” mit alten Bergarbeiterhäusern; diversen Bäckereien, Apotheken und Supermärkten; zwei Pizzabuden und tatsächlich einer Kirche. Uns interessiert aber besonders die Eisdiele: Die Auswahl ist noch größer als am Tag zuvor bei Starbucks und ich wünsche mir für einen Moment, irgendjemand würde einfach mal für mich entscheiden. Dann wäre ich aber vermutlich bei Banane-Mocca ausgekommen und nicht bei Ananas-Tiramisu wie jetzt. Vor uns ist ein Mann dran, der mit etwas eigentümlichen Wünschen zu überraschen weiß: Fünf Kugeln Mocca mit Sahne und zwei Kugeln Eis für den Hund (ohne Sahne).2

Eis schleckend und tropfend spazieren wir durch den Ortsteil, der so wunderbar dörflich wirkt, dass man kaum glauben kann, mitten im Ruhrgebiet zu sein. Die Bewohner des nahegelegenen Seniorenheims (das erklärt die vielen Apotheken) schlurfen durch die Straßen und meine Hände kleben von der zerlaufenen Eiscreme. Als wir wieder Richtung Universitätsstraße gehen, fragen wir uns, ob Bochum nicht vielleicht doch ein ganz guter Wohnort ist, auch längerfristig, und warum man sich sowas normalerweise nicht anguckt.

1 Folgender Dialog wurde mir mal aus einer kalifornischen High School überliefert:
Deutschlehrerin (Deutsche): “In Europe, especially in Germany, the people usually sit down in a cafe. I don’t get why Americans always have to walk around with their beverages.”
Schüler (Amerikaner): “It’s because they have jobs – which 4.5 million Germans don’t do, as I recall.”
Der Schüler wurde daraufhin des Unterrichts verwiesen.

2 Das ist allerdings nichts verglichen mit dem Mann, der in Dinslaken mal “Amarenata durchs Spaghetti-Eis-Sieb gepresst im Hörnchen” haben wollte. Amarenata ist Eis mit ganzen Kirschen drin.