Kategorien
Musik

Endlich einmal etwas, das länger als vier Jahre hält

In „Almost Famous“ warnt der Musik­jour­na­list Les­ter Bangs sei­nen jun­gen Kol­le­gen Wil­liam Mil­ler davor, sich mit Musi­kern anzu­freun­den. Die woll­ten eh nur, dass man gut über sie schrei­be, und wenn die Distanz weg sei, kön­ne man auch gleich auf­hö­ren.

So gese­hen habe ich mei­ne Musik­jour­na­lis­ten-Kar­rie­re im Früh­jahr 2006 in den Wind geschos­sen, als ich Thees Uhl­mann nicht nur das Demo einer jun­gen Nach­wuchs­band aus mei­ner nie­der­rhei­ni­schen Hei­mat in die Hand gedrückt habe, son­dern acht Wochen spä­ter auch noch als Teil des Tom­te/Ki­li­ans-Tros­ses durch den Süden der Repu­blik getourt bin.

Das ers­te Album, das ich Anfang des Jah­res bei CT das radio aus dem Berg von Bemus­te­rungs­post gefischt hat­te, war die „Buch­sta­ben über der Stadt“ gewe­sen, deren Songs ich dann vier Aben­de hin­ter­ein­an­der live gehört habe, und als ich Anfang Novem­ber im Cen­tral Park am Reser­voir (ja, das aus „New York“) stand, dach­te ich: Von so einem Jahr kann man sich nur erho­len, wenn man beim ESC live vor Ort ist, wenn Deutsch­land gewinnt.

Jah­re­lang tra­fen wir uns immer wie­der in den Back­stage­räu­men nord­rhein-west­fä­li­scher Indie­rock-Ver­an­stal­tungs­or­te, auf Fes­ti­vals und im legen­dä­ren, inzwi­schen natür­lich geschlos­se­nen, Dins­la­ke­ner Jäger­hof, wo Thees mich bei der Kili­ans-Release­par­ty auf die Stirn küss­te. (Die genaue­ren Details sind mir ent­fleucht und ich möch­te dies­be­züg­lich nur Fal­co para­phra­sie­ren.)

Thees Uhlmann und Lukas Heinser, 2009

Wie es sich für eine ordent­li­che Freund­schaft gehört, wur­de unse­re aber auch auf eine har­te Pro­be gestellt: Tom­te lie­fen nach jede Men­ge Line-Up-Wech­seln aus und Thees ver­öf­fent­lich­te 2011 ein selbst­be­ti­tel­tes Solo­al­bum, mit dem ich auch nach gründ­li­chem Hören irgend­wie nicht warm wur­de. Auf „Wal­ter & Gail“ hat­te er 2006 noch gegen das Mit­tel­maß ange­sun­gen, jetzt fei­er­te er „Das Mäd­chen von Kas­se 2“ und das Leben auf dem Dorf, obwohl doch alle Songs, die wir jemals gut gefun­den hat­ten, davon han­del­ten, das Scheiß-Leben auf dem Land end­lich hin­ter sich zu las­sen. Ich fühl­te mich betro­gen.

Thees war damals wei­ter als ich: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Nun wäre es bescheu­ert, zum bes­se­ren Ver­ständ­nis von Pop-Plat­ten die eige­nen Plä­ne vom Fami­li­en­le­ben zu sabo­tie­ren, aber ein paar Jah­re stand ich da in sei­nen Schu­hen und als Thees und sei­ne Band vor zwei Jah­ren in Ham­burg auf dem 15. Geburts­tag sei­nes Labels Grand Hotel van Cleef spiel­ten, stell­te ich fest, dass ich die Songs des ers­ten Solo­al­bums mit gro­ßer Hin­ga­be und Gän­se­haut mit­sang („Mei­ne Wahr­heit in 17 Wor­ten: Ich hab ein Kind zu erzie­hen, Dir einen Brief zu schrei­ben und ein Fuß­ball Team zu sup­port­en“). Dann kam die­se Mil­li­se­kun­de, als inmit­ten die­ses Sets mit Solo-Songs das Schlag­zeug-Intro zu einem Tom­te-Song erklang und noch ehe mein Gehirn exakt erfasst hat­te, wel­cher das eigent­lich war, war ich in der Luft und in mei­ner Erin­ne­rung habe ich für die nächs­ten 4 Minu­ten und 20 Sekun­den den Boden nicht mehr berührt – ich flog, wäh­rend ich mir gemein­sam mit dem Text zu „Schreit den Namen mei­ner Mut­ter“ die See­le aus dem Leib brüll­te, und alles war aus Gold. Fünf Tage zuvor war mei­ne Oma gestor­ben und das hier war genau das, was ich in die­sem Moment brauch­te, die letz­ten drei Jah­re gebraucht hät­te.

Anfang August kam nun end­lich das ers­te musi­ka­li­sche Lebens­zei­chen seit sechs Jah­ren: die Sin­gle „Fünf Jah­re nicht gesun­gen“. Mein Sohn und ich waren gera­de zu Besuch in Ber­lin, er schlief neben mir im Bett, als ich um Mit­ter­nacht Spo­ti­fy öff­ne­te und auf „Play“ drück­te:

Ich wür­de nicht behaup­ten, dass ich kom­plett ver­ste­he, wovon Thees da singt, aber die Stel­len, die ich ver­ste­he, füh­le ich sehr hart. Drei Wochen spä­ter war ich beim Kon­zert in Essen, was auf den Tag zehn Jah­re nach einem der letz­ten Tom­te-Kon­zer­te war, das ich gemein­sam mit den Kili­ans besucht hat­te. Thees und ich sahen uns nach der Show zum ers­ten Mal seit Jah­ren wie­der, ich bestell­te brav Grü­ße von mei­ner Mut­ter („Der Thees hat mir damals beim Kili­ans-Kon­zert den Tipp gege­ben, ein­fach Taschen­tü­cher ins Ohr zu stop­fen, wenn es zu laut ist. Das ist gut!“ – wenn das nicht Rock’n’Roll ist, weiß ich es auch nicht!) und wir sab­bel­ten über The Clash, „Paw Pat­rol“ und Ber­lin, als hät­ten wir uns vor ein paar Wochen zuletzt gese­hen.

Thees Uhlmann und Lukas Heinser, 2019

Eine Woche spä­ter bekam ich vom Grand Hotel das zuge­schickt, was im Jahr 2019 einer gebrann­ten Bemus­te­rungs-CD ent­spricht: Einen per­so­na­li­sier­ten Strea­ming-Link, unter dem ich Thees‘ neu­es Album „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“ hören konn­te. Ich klick­te drauf, leg­te den Sound mei­nes Mac­Books auf mei­ne Anla­ge und drück­te etwas unsi­cher auf „Play“. Fünf­zig Minu­ten spä­ter saß ich erschöpft (ich hat­te ein paar Mal head­ban­gend durch die Woh­nung hüp­fen müs­sen) und auf­ge­wühlt (ich hat­te ein paar Mal Trä­nen in den Augen gehabt) auf mei­ner Couch und ver­fluch­te mich dafür, dass ich an dem Abend ver­ab­re­det war und das Album jetzt nicht direkt zehn Mal hin­ter­ein­an­der hören konn­te.

Olli Schulz sagt, „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“ sei das Bes­te, was Thees seit „Hin­ter all die­sen Fens­tern“ gemacht hat, was ich nur des­we­gen nicht unter­schrei­ben kann, weil deren Nach­fol­ger „Buch­sta­ben über der Stadt“ bei mir eben so eine unglaub­li­che Son­der­stel­lung ein­nimmt. Genau­so wie kett­car die lan­ge Pau­se vor „Ich vs. Wir“ so gut getan hat, dass sie mal eben ihr viel­leicht bes­tes Album auf­ge­nom­men haben, ist auch Thees nach so lan­gem War­ten auf dem Höhe­punkt sei­nes Schaf­fens: Auf „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“ sind er und sei­ne Band musi­ka­lisch so tight wie sel­ten, text­lich ist er noch bes­ser gewor­den.

Thees hat ja schon immer ver­sucht, Denk­mä­ler zu errich­ten, hier beschrif­tet er die Mes­sing­ta­feln teil­wei­se ganz schlicht: „Avicii“ ist tat­säch­lich ein völ­lig uniro­ni­sches Lob­lied auf den ver­stor­be­nen DJ, den er ger­ne geret­tet hät­te; „Katy Gray­son Per­ry“ schon ein Stück kom­ple­xer, weil er sowohl die ame­ri­ka­ni­sche Sän­ge­rin als auch den bri­ti­schen Künst­ler gemein­sam zu sei­nem Label holen will. In „Was wird aus Han­no­ver“ fei­ert er die Stadt, die vor allem für ihre völ­li­ge Egal­heit bekannt ist, und singt über deren bekann­tes­te Band: „Du hast über die Scor­pi­ons gelacht, aber die sind in ‚Stran­ger Things‘ “ – da muss man die Serie nicht mal geguckt haben, um zu ver­ste­hen, wie er das meint.

Die­ses Abkul­ten von Men­schen, berühm­ten wie unbe­kann­ten, erreicht im Titel­track sei­nen Höhe­punkt: Die Stro­phen sind eine ein­zi­ge Anein­an­der­rei­hung von Wid­mun­gen („Für das Mäd­chen im Ramo­nes Shirt“, „Für jeden, der in sei­ner Stra­ße Stol­per­stei­ne poliert“, „Für die Vier­fal­tig­keit der Bobs: Bob Mar­ley, Bob Dylan, Bob Andrews und Bob Ross“), der Refrain ein leuch­ten­der Ben­ga­lo im Mor­gen­grau­en:

Aber die Zukunft ist unge­schrie­ben
Die Zukunft ist so schön vakant
Und ich kom­me dich besu­chen
Egal ob Stamm­heim oder Bun­des­kanz­ler­amt

Da haben wir in vier Zei­len: Ein Joe-Strum­mer-Zitat, ein Fremd­wort, das sonst kaum in Lied­tex­ten auf­taucht, und das Name-Che­cking von zwei zen­tra­len Orten der deut­schen Nach­kriegs­ge­schich­te. Nenn mir einen die­ser jun­gen Deutsch­pop-Clowns, der etwas Ähn­li­ches hin­be­kom­men wür­de!

Natür­lich konn­te man Thees die­ses Pathos sei­ner Tex­te auch schon immer vor­wer­fen. Aber es ist ein ande­res Pathos als das von „Auf uns“ oder „Tage wie die­ser“, denn Thees‘ Lie­der tau­gen nicht zur Unter­ma­lung von Fuß­ball­tur­nier-Super­cuts. Viel­leicht gibt es für Außen­ste­hen­de auf dem Papier auch gar kei­nen Unter­schied, aber für mich ist es auch eine her­me­neu­ti­sche Kate­go­rie, wer da spricht oder singt. Ich weiß noch, wie ich damals erst die Tex­te von Tom­te und dann Thees selbst ken­nen­lern­te und dach­te: Da ist jemand, der packt das in Wor­te, was ich irgend­wo in mir drin gefühlt habe und nie­mals hät­te aus­drü­cken kön­nen. Thees gab mir das Voka­bu­lar für Lie­bes­be­kun­dun­gen, The­ra­pie­sit­zun­gen und Blog-Ein­trä­ge.

Mor­gen erscheint „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“ dann offi­zi­ell. Für mich endet damit die­se Pha­se, in der man sich wie ein Mit­ver­schwö­rer füh­len kann, weil man Songs kennt, die erst weni­ge Men­schen gehört haben. Aber ich bin mir sicher, dass es da drau­ßen Tau­sen­de gibt, die die­se Lie­der genau­so lie­ben wer­den wie ich und denen sie genau­so viel (und gleich­zei­tig etwas völ­lig ande­res) bedeu­ten wer­den.

Im letz­ten Lied der Plat­te singt Thees:

Ich bin der Letz­te mit einem Bier­glas in einer Welt vol­ler Cham­pa­gner
Die Welt ist von sich selbst besof­fen, aber ich bleib beim Bier

Du Astra, ich Fie­ge! Auf „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“!