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Mein Fan-Problem

Es mag so die 82. Minute im WM-Viertelfinalspiel Deutschland gegen Kroatien gewesen sein, als ich den Fernseher im Wohnzimmer meines Elternhauses zurückließ, in den Garten ging und meinen Fußball immer wieder gegen die Wand des Gartenhauses drosch. “So geht das, Ihr Versager”, rief ich an die Adresse der deutschen Mannschaft, die gerade in Lyon 0:2 zurücklag. Meine Mutter trat auf die Terrasse, beobachtete skeptisch mein wütendes Gebolze und verkündete, es stehe jetzt 0:3.

In der deutschen Mannschaft spielten damals so klangvolle Namen wie Christian Wörns, Jörg Heinrich, Dietmar Hamann, Michael Tarnat und Olaf Marschall.

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Ich bin jetzt seit 22 Jahren Fußballfan — und das hat viel mit Missverständnissen zu tun:

Das erste Fußballspiel, an das ich mich erinnern konnte, war das Achtelfinale Deutschland gegen die Niederlande bei der Italia 90. Zuvor waren wir im Sommerurlaub in den Niederlanden gewesen, wo damals alle der Meinung waren, dass ihr Team Weltmeister werden würde. Alles war in Oranje dekoriert und seitdem bin ich Holland-Fan. Holland verlor gegen Deutschland, Deutschland wurde Weltmeister und ich musste – ebenso wie Franz Beckenbauer – annehmen, dass Deutschland auf Jahre unbesiegbar sein werde. Dann verlor Deutschland das EM-Finale 1992 gegen Dänemark ((Das sich nicht mal regulär qualifiziert hatte und in meinem Panini-Sammelalbum nur mit einem zweiteiligen Mannschaftsfoto gewürdigt wurde, nicht mit einer Doppelseite voller Einzelporträts!)) und ich weinte als Achtjähriger heiße Tränen der Enttäuschung.

Da meine Begeisterung für Sport (genauso wie meine Begeisterung für den Eurovision Song Contest) von Anfang an vor allem von meiner Begeisterung für Zahlen und Statistiken geprägt wurde, tippte ich vor der WM 1994 alle Spiele des Turniers, errechnete die Gruppensieger und Achtelfinalpaarungen und kam zu dem Schluss, dass Deutschland seinen Titel verteidigen würde. Daraus wurde nichts, ich war wieder einmal bitter enttäuscht, aber der Gedanke, dass dieser Finalsieg 1990 nicht die Regel, sondern die Ausnahme gewesen sein könnte, kam mir erst viele Jahre später. Ich hatte mich unterdessen in die schwedische Mannschaft verliebt, die mit offenkundigen Weltklassespielern wie Thomas Ravelli, Patrik Andersson, Thomas Brolin, Henrik Larsson, Kennet Andersson und Martin Dahlin WM-Dritter wurde. Als ansonsten ahnungsloser Junge musste ich davon ausgehen, dass Schweden eine internationale Top-Mannschaft sei.

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Endgültig vom Fußball angefixt, brauchte ich natürlich auch eine eigene Bundesligamannschaft. Meine Wahl fiel auf Borussia Mönchengladbach, was nicht so willkürlich wahr, wie es sich im ersten Moment anhören mag: Stefan Effenberg, der wegen seines Mittelfinger-Einsatzes gegen deutsche Fans bei der WM aus dem Kader geflogen war, wollte nach dem Turnier in die Bundesliga wechseln. Aus irgendeinem frühpubertären Grund fand ich die “Stinkefinger”-Aktion als Zehnjähriger cool und dachte mir: “Hey, wo der hingeht, das ist mein Verein: Bremen oder Mönchengladbach!” Für Gladbach sprachen dann aber auch noch die schwedischen Nationalspieler Patrik Andersson und Martin Dahlin und mein Patenonkel, der in Mönchengladbach wohnte.

Vor dem Beginn der Bundesligasaison 1994/95 hatte ich keine Ahnung, wie erfolgreich diese Borussia aus Mönchengladbach sein könnte, ein Jahr später waren “wir” Fünfter in der Bundesliga und DFB-Pokalsieger geworden. ((Das Pokalfinale in Berlin hatte ich als mein zweites Fußballspiel überhaupt sogar live im Berliner Olympiastadion verfolgt.)) Ich musste wieder einmal annehmen, mich für eine Top-Mannschaft entschieden zu haben.

Am letzten Spieltag der Saison 1997/98 rettete sich Gladbach ((Mit Schützenhilfe von Hansa Rostock!)) vor dem Abstieg, ein Jahr später stieg mein Verein dann doch in die zweite Liga ab. Ich beschloss, mich eher auf Musik zu konzentrieren, wo ich auf weniger Enttäuschungen hoffte. Nach einem Jahr lösten sich zwei meiner damaligen Lieblingsbands auf.

Als ich gerade nach Bochum gezogen war, qualifizierte sich der VfL für den UEFA-Cup, ein Jahr später stieg er ab. Gladbach entließ 2006, nach der erfolgreichsten Saison seit zehn Jahren, den Trainer und ging 2007 wieder in die zweite Liga. Letztes Jahr trafen beide Mannschaften in der Relegation aufeinander, ich konnte mich kaum entscheiden — und ein Jahr später beendete Gladbach die Saison in der ersten Liga auf Platz 4, Bochum Elfter in Liga Zwei.

Man lernt als Fußballfan viel fürs Leben, denn es gilt das gleiche, was Jason Lee in “Vanilla Sky” über die Liebe sagt:

You can do whatever you want with your life, but one day you’ll know what love truly is. It’s the sour and the sweet. And I know sour, which allows me to appreciate the sweet.

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Was meine Liebe zum Fußball, aber auch die zur Musik, immer etwas schwierig gestaltet hat, waren die anderen Fans. Ich hatte immer Schwierigkeiten damit, Teil einer Gruppe zu sein. Ich denke dann immer: “Wir mögen ja gemeinsame Interessen haben, aber ich bin doch ganz anders als Ihr!”

Wenn ich während der zwei Wochen Eurovision denke, so langsam sei es aber auch mal gut, mit den Klischeeschwulen, die da blondiert und nasal flötend um mich rumtucken, muss ich mich nur dran erinnern, wie es im Fußballstadion aussieht: Homophobie statt Homosexualität, plumpes Gebrüll statt entzücktem Gekreische und generell null Taktgefühl. Natürlich: Nicht alle Fußballfans sind so, aber in der Summe ist es für mich dann doch schwer erträglich. Schon in der Kneipe sind mir diese Typen ein Graus, die immer hinter einem stehen und in jeder verdammten Szene die Spieler lautstark anbrüllen — dabei können Menschen im Fernsehen einen nun wirklich nicht hören.

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Schlimmer als diese Fans, die es mit ihrer Begeisterung für den Sport dann vielleicht doch ein bisschen übertreiben, sind aber jene Leute, die sich zu internationalen Turnieren in schwarz-rot-goldene Schale werfen und gemeinsam mit der Boulevardpresse darauf hoffen, dass “wir” den Titel holen.

Natürlich kann man internationale Fußballturniere verfolgen, ohne die Abseitsregel oder die FIFA-Weltrangliste zu kennen. Auch habe ich in den letzten sechs Jahren verstanden, dass die Menschen, die ihre Häuser und Autos mit Deutschlandflaggen schmücken, in den allerwenigsten Fällen Neonazis sind. Aber diese Schönwetterfans sind schon schwer erträglich.

Wenn man von den unglücklichen Vogts-Weltmeisterschaften 1994 und ’98 und den EM-Totalausfällen 2000 und 2004 absieht, zählt Deutschland seit 26 Jahren kontinuierlich zu den vier besten Mannschaften Europas bzw. der Welt. Wer Fußball nur guckt, weil er auf einen Titelgewinn der eigenen Mannschaft ((Oder schlimmer noch: der eigenen Nation.)) hofft, ist kein Fan der Sportart, sondern einfach nur jemand, der sein Verhältnis zu dieser Sportart von einem einzigen Faktor abhängig macht: dem Titel. Mit dieser Einstellung kann man dieser Tage nicht mal mehr Fan des FC Bayern München werden — und selber Sport treiben sowieso nicht.

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Das EM-Viertelfinale gegen Griechenland war sicher kein brillantes Spiel. Die deutsche Mannschaft hat sich gegen eine eher drittklassige Mannschaft zwei Gegentore eingefangen, das Spiel letztlich innerhalb einer sehr guten Viertelstunde gewonnen.

“Bild” titelte am nächsten Morgen:

Uns stoppt keiner mehr!

Die “Bild”-Schlagzeilen vor und nach dem Halbfinal-Aus, die mein Kollege Mats Schönauer im BILDblog gesammelt hat, stammen allerdings noch aus einer ganz anderen Welt: Ich finde es eh schwierig, wenn Journalisten (oder in diesem Fall: “Bild”-Mitarbeiter) “wir” sagen und damit die deutsche Mannschaft meinen. Wenn ein kleiner Junge und vielleicht auch älterer Fußballfan enttäuscht und wütend sind, ist das menschlich — aber Medien sollten nicht menschlich, sondern sachlich berichten. Was “Bild” da macht, geht über den normalen Wahnsinn eines enttäuschten Fans hinaus. Da arbeitet eine ganze Redaktion an Schlagzeilen, die all dem entgegenstehen, was sie selbst wenige Tage zuvor erarbeitet hat. Ein menschliches Gehirn müsste eigentlich implodieren, wenn sich sein Besitzer derart selbst widerspricht.

“Bild” reagiert wie ein trotziger Dreijähriger, der seiner Mutter “Ich hasse Dich!” entgegen schleudert, wenn sie ihm kein zweites Eis mehr kaufen mag, oder wie ein Stalker — in jedem Fall wie niemand, dem man rationales Denken unterstellen könnte.

Die Mannschaft sei “zu soft” für den Titel, so urteilt “Bild”. Die neoliberale Moral der Casting-Shows der “Bild”-Freund Dieter Bohlen und Heidi Klum wird so weiter im Bewusstsein junger Menschen verankert: “Du musst es nur hart genug wollen! Wenn Du es nicht schaffst, hast Du nicht hart genug gewollt!”

Hier werden Menschen so behandelt, als seien sie Maschinen, die man nur richtig optimieren muss, damit sie Erfolg haben. Und Erfolg heißt immer nur, Erster zu sein. Es geht nie darum, für sich selbst das Beste herauszuholen, sondern ausschließlich darum, “Bester” zu sein. Alles andere ist immer eine Enttäuschung. Wer so denkt, wird fast immer ein Leben voller Enttäuschungen führen.

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Es spricht eh wenig dafür, dass im Sportjournalismus irgendjemand arbeitet, der Fußball liebt: Spiele werden in so viele statistische Werte (gelaufene Meter, gespielte Pässe, gewonnene Zweikämpfe, etc.) zerlegt, dass nicht mal ich als Statistik-Freund irgendeinen Sinn darin sehe — und ich weiß, dass Heiko Herrlich und Mario Basler in der Bundesligasaison 1994/95 mit jeweils 20 Treffern Torschützenkönige der Bundesliga wurden.

Der Statistikwahn der aktuellen Sportberichterstattung ist so, als ob man eine CD nach ihrer Spielzeit, der Beatzahlen der einzelnen Tracks und der Anzahl der Harmoniewechsel bewerten würde. Man möchte sich nicht vorstellen, wie solche Menschen ihre Ehepartner aussuchen. Wer die ganze Welt in angeblich objektive Zahlen zerlegt, wird irgendwann überrascht feststellen, dass er sie trotzdem nicht versteht.

Und dann immer diese Benotungen nach Fußballspielen! Natürlich hat Lukas Podolski am Donnerstag schlecht gespielt, aber was hat man davon, wenn man ihm dafür eine “6” geben kann?

Wirtschaftsverbände und Lehrer kritisieren die Notenvergabe an Schulen in ihrer aktuellen Form als wenig aussagekräftig. Ich habe es immer schon für Unfug gehalten, dass jemand, der Medizin studieren möchte, dafür gute Schulnoten in Geschichte, Englisch, Sport und Religion braucht. Und wenn Sie jetzt sagen: “Ja, aber irgendwie muss man so eine Studienplatzzulassung ja regeln”, dann entgegne ich Ihnen: “Wenn unser Bildungssystem es nicht einmal auf die Kette bekommt, gerechte und logische Zulassungsverfahren zu entwickeln, dann brauchen wir mit dem Versuch, künftige Eliten auszubilden, ja gar nicht erst anzufangen!”

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Im November 2009 war aus einem Volk von 82 Millionen potentiellen Bundestrainern kurzzeitig eine Nation von 82 Millionen Psychologen geworden: Nach dem Suizid des depressiven Nationaltorhüters Robert Enke erklärten Funktionäre, Fans und Medien, es müsse ein sogenanntes Umdenken einsetzen.

Walter M. Straten, damals stellvertretender Sportchef bei “Bild”, hatte sich damals von der “Süddeutschen Zeitung” so zitieren lassen:

“Wir werden wohl mit extremen Noten etwas vorsichtiger sein”, sagt der stellvertretende Bild-Sportchef. Man werde sich einmal mehr überlegen, “ob der Spieler, der eine klare Torchance vergeben hat, oder der Torwart, der den Ball hat durchflutschen lassen, eine Sechs bekommt oder eine Fünf reicht”.

Schnell zeigte sich, dass Stratens Aussage exakt so ernst zu nehmen war, wie andere Aussagen der “Bild”-Chefredaktion.

In der Zwischenzeit ist ein Bundesligatrainer wegen Burnouts zurückgetreten, hat ein Schiedsrichter einen Suizidversuch unternommen, wird einem Bundesligaprofi vorgeworfen, sein Haus in Brand gesetzt zu haben.

Jedes Mal zeigen sich alle entsetzt und jedes Mal geht es danach weiter: Fußballer sind entweder Helden oder Luschen, es gibt nur hop oder top.

Als Fan fand ich den Satz “Es ist doch nur ein Spiel”, immer schlimm. Er kann nur von Menschen kommen, die selbst nie mitgefiebert und mitgelitten haben. Aber an etwas anderes sollte man immer mal wieder erinnern: Diese Götter oder Versager, die da Tore schießen oder Chancen vergeben, die brillant aufspielen oder grandios vergeben, das sind letztendlich auch nur Menschen. Also: “nur”.