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Musik

Opa skatet wieder

Seit drei Wochen ist das neue, dritte kettcar-Album “Sylt” inzwischen draußen. Zeit genug, es so oft zu hören, dass man sich ein Urteil erlauben kann.

Oder gleich mehrere bei der großen Rückkehr der Track-by-track-Analyse:

Graceland
Hab ich mir das Lied jetzt nur schöngehört oder ist es mit der Zeit doch noch gewachsen? Musikalisch ist es für kettcar immer noch einigermaßen sperrig und eigentlich sehr viel weniger radiotauglich als zum Beispiel “Deiche” vom letzten Album, aber diesmal schien Einslive sich der Band nicht mehr verschließen zu können und spielt den Song jetzt mehrmals am Tag. Nicht unbedingt der ideale Opener, aber der A-capella-Schluss ist schon ziemlich groß.

Nullsummenspiel
Das ist dann schon ein sehr viel klassischerer kettcar-Song: The-Clash-Gitarren, doppelter Gesang und mit viel Drive nach vorne. Dazu der erste Poesiealbum-Spruch der neuen Platte: “Arme ausbreiten, Schultern auskugeln / Beim Nachnamen googeln”. Arme ausbreiten, indeed.

Am Tisch
Dass ich beim Intro an Annett Louisan denken muss, ist mein Problem, nicht kettcars. Eine Ballade im Dreivierteltakt über alte Freundschaften, die über unterschiedliche Lebensentwürfe zerbrochen sind, mit dem großartigen Niels Frevert als Gastsänger. Das Lied zieht für kettcar-Verhältnisse ziemlich runter, ohne große Hoffnungen auf Erlösung zu wecken.

Kein Außen mehr
“Lieber peinlich als authentisch / Authentisch war schon Hitler” – Was auch immer uns Marcus Wiebusch damit sagen will. So, wie das Lied nach dem Refrain in ein kurzes Feedback ausbricht, hat man die Band auch noch nicht erlebt. “Kein Außen mehr” steht in der Tradition von “Genauer betrachtet”, “Ausgetrunken” oder “Lattenmessen”: ohne Halt nach vorne und mit direktem Druck auf die Endorphindrüsen. Vermutlich der beste Song der Platte.

Wir müssen das nicht tun
Geht da jetzt noch eine Freundschaft in die Brüche oder doch mal wieder eine Beziehung? Der stapfende Rhythmus ist schon wieder was neues und auch diesmal verweigern sich kettcar einem Refrain. Dafür gibt’s wieder so eine Zeile, die man für den Rest seines Lebens zitieren wird: “Sag zum Abschied leise ‘Fick dich'”.

Fake For Real
Düsteres elektronisches Geschepper wie bei The Notwist knarzt hinter einem ebenso düsteren Text über die Welt, in der wir leben. Von der Produktion her der spannendste Song der Platte, textlich zwischen den Extremen mit einigen tollen Zeilen und dann mit einem Slogan, den die Linkspartei vermutlich schon zum ersten Mai geklaut hat: “Für die einen sind es Menschen mit Augen, Mund, Ohren / Für die anderen Kostenfaktoren”. Sozialkritik gut und schön, aber der Satz geht mir echt zu weit.

Geringfügig, befristet, raus
Der Titel sagt’s: Es geht gegen das vorherrschende Wirtschaftssystem. Sowas kann tierisch daneben gehen (s.o.), hier geht das Konzept aber trotz des abschreckenden Titels auf. Die Unzufriedenheit und Verzweiflung steigert sich zum Zynismus: “Wir sind heiß und hungrig und hochmotiviert / Flexibel, spontan und qualifiziert / Wir sind teamfähig, unabhängig und belastbar / Uns ist heute egal, wo gestern noch Hass war”. Die Generation Praktikum singt mit und verbrennt ihre “Neon”-Hefte in der Teeküche der Werbeagentur.

Agnostik für Anfänger
Steilvorlagengefahr: “Das alles ist so was von: langweilig / Das Leben, die Welt: langweilig”. Isses aber gar nicht, denn “Agnostik für Anfänger” klingt dem Titel nach wieder nach …But Alive, musikalisch aber nach …And You Will Know Us By The Trail Of Dead. Gott kommt über die Welt und gibt den Menschen “Sex und Casino” und unheilbare Krankheiten, “Wein und Gesänge” und Sonnenuntergänge. Vielleicht ist das auch eine Metapher, aber fragen Sie mich nicht, wofür.

Verraten
Ein bisschen besser hätte man die wiederaufgegriffenen Gitarren- und Klaviermotive aus “Balu” schon kaschieren können, aber immerhin surrt im Hintergrund ganz Beatles-like eine Kreissäge. Der Text ist pure Melancholie und handelt vermutlich von der Rückkehr an einen altbekannten Ort, an dem jemand gestorben ist, von dem man sich nicht mehr verabschieden konnte. “Verraten” ist der erste Teil eines Triptychons …

Dunkel
der zweite Teil des Triptychons: Wieder Vergangenheit, wieder Fragen. Ein Lied, das mich etwas ratlos zurücklässt und mir dennoch gefällt.

Würde
Triptychon, Teil 3: Ganz große Hymne mit Keyboard-Streichern wie bei Feeder. Die Arbeitswelt von vorhin hat das ehemalige Kind von eben aufgerieben und wieder ausgespuckt. Am Ende geht es zurück zu den Eltern und ich habe jedes Mal einen Kloß im Hals, wenn Marcus Wiebusch singt: “Aber mach dir keine Sorgen, Mama / Papa, ja ich weiß, bleib ruhig / Euer Junge kommt nach Hause heute / Gebrochen, fertig, durch”. Und dann knüppelt die Band drauf los wie selten zuvor.

Wir werden nie enttäuscht werden
Das Album noch mal im Schnelldurchlauf, alle Themen in 2:11 Minuten. Die letzten fünfzig Sekunden sind dem Headbangen vorbehalten und wieder mal: dem Arme ausbreiten. Die Fans lesen den Titel und denken: “Stimmt.”

Fazit
“Sylt” ist anders als die beiden Vorgänger und doch ganz klar kettcar. Musikalisch war die Band (immerhin mit drei verschiedenen Produzenten) noch nie so vielseitig und so gut, textlich erschließt sich vieles erst spät oder nie.

Marcus Wiebusch hat in so ziemlich jedem Interview erzählt, man habe ein Album machen wollen, dass “nicht einverstanden” ist. Das merkt man: kettcar singen gegen die Durchökonomisierung der Welt, gegen Hartz IV, gegen den ganzen Zynismus, der einem entgegenschlägt. Damit müssen auch die eigenen Fans erst mal zurechtkommen, potentielle Nachfolger für “Landungsbrücken raus”, “Balkon gegenüber” und “Tränengas im High-End-Leben” springen einen nicht gerade an.

“Sylt” schwebt zwischen Euphorie und Melancholie, Wut und Zuneigung, Drinnen und Draußen wie eine Nadel zwischen zwei Magnetpolen. Das Album ist schwierig, aber es lohnt die Auseinandersetzung.

I’d like to thank the Academy (Academy, Academy …)

kettcar - Sylt (Albumcover)

kettcar – Sylt
VÖ: 18.04.2008
Label: Grand Hotel van Cleef
Vertrieb: Indigo